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Multidimensionalität und Dynamik von Migrantenorganisationen | bpb.de

Multidimensionalität und Dynamik von Migrantenorganisationen

Ludger Pries

/ 2 Minuten zu lesen

Die Aufgaben, Ziele und Wirkungen der MSOs, die sie selbst definiert haben oder die ihnen von ihrer Umwelt zugeschrieben werden, können sich im Zeitverlauf wandeln. Sie sind also dynamisch und keinesfalls starr.

Mütter mit Migrationshintergrund helfen als "Stadtteilmütter" Einwandererfamilien: Delphine Takwi (l.) berät im Diakonie-Hilfswerk in Hamburg eine junge Mutter. (© picture-alliance/dpa)

Multidimensionalität

Wie oben bereits angedeutet, sind MSOs fast nie auf nur eine Aufgabe, ein Tätigkeitsfeld oder eine soziale und gesellschaftliche Funktion begrenzt: "Migranten-Selbstorganisationen sind [...] selten spezialisiert. Sie haben meistens einen ganzheitlichen, multifunktionalen Ansatz" (Gaitanides 2003, S. 26). Sie können sich in sehr unterschiedlichen Bereichen engagieren. Beispielsweise können sie den Neuzuwanderern bei ihrer Ankunft im Aufnahmeland helfen, indem sie den Kulturschock abfedern und ihnen eine erste Anlaufstelle bieten. Die Zuwanderer können so Kontakte knüpfen und soziale Netzwerke im Ankunftsland aufbauen, die über verwandtschaftliche Beziehungen hinausgehen. Dadurch erhalten sie Zugang zu Ressourcen (z.B. zu Informationen über das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt im Aufnahmeland), die den Integrationsprozess erleichtern können. MSOs liefern des Weiteren einen Beitrag zur Formung einer kollektiven Identität. Darüber hinaus entwickeln sich MSOs "immer mehr zu Organen der Interessenvertretung und des interkulturellen Dialogs" (Gaitanides 2003, S. 27). Sie fungieren als Ansprechpartner für die kommunale Verwaltung und Politik, da sich in den MSOs "Opinionleaders", also Meinungsführer, versammeln, die einen privilegierten Zugang zu ihrer Herkunftscommunity haben. Neben diesen auf das Aufnahmeland ausgerichteten Funktionen, nehmen einige MSOs – wie oben bereits angedeutet – auch Einfluss auf die Entwicklung im Herkunftsland ihrer Mitglieder. Durch Spendensammlungen können sie humanitäre Projekte im Herkunftsland unterstützen. MSOs sind aber nicht nur Anlaufpunkte für Zuwanderer und ihre Nachkommen. Sie können auch für deutsche Staatsangehörige ohne Migrationshintergrund von Interesse sein, z.B. wenn sie Kurse in der Sprache des Herkunftslandes ihrer Mitglieder anbieten, die als Weiterbildungsangebote genutzt werden können.

Dynamik

Die Aufgaben, Ziele und Wirkungen der MSOs, die sie selbst definiert haben oder die ihnen von ihrer Umwelt zugeschrieben werden, können sich im Zeitverlauf wandeln (vgl. die Beiträge in Pries/Sezgin 2010). Sie sind also dynamisch und keinesfalls starr.

Dadurch, dass sich Migranten und Migrantinnen in Organisationen zusammenschließen, werden sie als soziale Akteure wahrgenommen (BMFSFJ 2011), die Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit und Politik anstreben; MSOs können damit als Formen der Entwicklung sozialen Kapitals (d.h. sozialer Netzwerke und darüber vermittelter Ressourcen) und bürgerschaftlichen Engagements verstanden werden.

Die aufgezeigte Komplexität der Funktionen von MSOs macht deutlich, dass es schwierig ist, den MSOs eindeutige und dauerhaft gleiche Wirkungen zuzuschreiben (Müller-Hofstede 2007). Auch die Wahrnehmung der MSOs in Öffentlichkeit und Forschung ist wandelbar. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 wurde häufig eine gewisse Skepsis vor allem gegenüber religiösen (islamischen) Verbänden geäußert. Die Mehrheit der mit dem Thema befassten Experten, so der Politikwissenschaftler Christoph Müller-Hofstede, sehe aber vor allem das hohe Integrationspotenzial von MSOs und die Chancen, die die zivilgesellschaftlichen und integrationspolitischen Dienstleistungen dieser Organisationen z.B. im Sinne der Vermittlung von Alltagswissen, der Bereitstellung von Hilfe insbesondere bei der schulischen Integration oder zur Orientierung in der Einwanderungsphase bereitstellten (vgl. auch Hunger 2004, S. 18ff).

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Migrantenselbstorganisationen – Umfang, Strukturen, Bedeutung".

Prof. Dr. Ludger Pries ist Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Migrationssoziologie und Transnationalisierungsforschung.
E-Mail Link: ludger.pries@ruhr-uni-bochum.de