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Historische und gegenwärtige Entwicklungen von Zu- und Auswanderung | Marokko | bpb.de

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Historische und gegenwärtige Entwicklungen von Zu- und Auswanderung

Hein de Haas

/ 8 Minuten zu lesen

Vorkoloniale Migration

Marokkos vorkoloniale Geschichte zeigt beispielhaft, dass auch vormoderne Gesellschaften hoch dynamisch und mobil sein können. Die marokkanische Bevölkerung wurde in der Geschichte durch immer neue Ansiedlung aus fernen Regionen geprägt, wodurch sich die Vielfältigkeit von Kultur und Gesellschaft im heutigen Marokko erklärt.

Nomadische und halbnomadische Gruppen, die Wanderviehwirtschaft betrieben, legten mit ihren Herden große Distanzen zwischen den Sommer- und Winterweiden zurück. Während einige nomadische Stämme sich niederließen und Bauern wurden, gingen andere, sesshafte Gruppen wiederum zu einer nomadischen Lebensweise über oder siedelten an anderer Stelle. In Folge der arabisch-islamischen Eroberungen seit dem siebten Jahrhundert wanderten arabische Stämme in das heutige Marokko ein und siedelten sich dort an, wodurch die traditionelle Berber-Gesellschaft nachhaltig beeinflusst wurde. Gleichzeitig integrierten sich zahlreiche arabische Siedler in die örtlichen Berbergesellschaften und ihre Kulturen.

Ein weiterer Antriebsfaktor der Mobilität stellte die monotheistische Religion dar. Die Haddsch, die traditionelle Pilgerfahrt nach Mekka, verschiedene marabutische Pilgerreisen – die mussems –, wie sie im Maghreb und dem westafrikanischen Kulturraum üblich sind, Mobilität von Schülern und Studierenden zu religiösen Unterweisungen an Medersas und islamischen Universitäten, aber auch die Wanderschaft von religiösen Lehrern hat Menschen aus weit entfernten Gegenden miteinander in Kontakt gebracht.

Auch marokkanische Juden sind überaus mobil gewesen, innerhalb Marokkos als auch über die Grenzen hinweg. Ihre weit reichenden Netzwerke ermöglichten es ihnen, zu reisen und sich an anderen Orten niederzulassen. Eine wichtige Rolle haben Juden als Zwischenhändler und commerçants im Transsahara-Handel gespielt, wie auch vom 16. Jahrhundert an im Aufbau von Kontakten und Handelsbeziehungen zwischen marokkanischen Sultanaten und europäischen Ländern. In Folge der Rückeroberung der iberischen Halbinsel flohen zahlreiche 'andalusische' Muslime und jüdische Megorashim und siedelten sich in den nördlichen Städten an.

Seit dem 8. Jahrhundert vor Christus haben die auf urbaner Kultur gegründeten Sultan-Dynastien und die den Mächtigen nahe stehenden oberen Gesellschaftsschichten – die makhzen – versucht, Kontrolle über die autonomen Berber- und Arabergruppen in den bergigen Gebieten und Wüsten in Marokkos Hinterland zu erlangen. Gründung und Wachstum von Reichsstädten in West- und Nord-Marokko (vor allem Rabat, Marrakesch, Fès und Meknès) zogen Händler und Migranten aus den ländlicheren Gebieten an. Strategische Wirtschaftsinteressen der makhzen im Transsahara-Handel mit Karawanen erforderten den Aufbau von militärischen Festungen und Handelsposten im Inneren. In Regionen südlich des Atlasgebirges wurden Oasen zu Knotenpunkten für Handel und Wanderungsbewegungen. Die vielfältige ethnische Zusammensetzung der Oasen – in denen Einflüsse aus Regionen südlich der Sahara, von Berbern, Arabern und Juden zusammenflossen – ist Zeugnis einer langen Geschichte ausgeprägter Mobilität der Bevölkerung.

Jahrhunderte lang existierten saisonale und zirkuläre Wanderungsbewegungen zwischen bestimmten ländlichen Gegenden – etwa des Rifgebirges und den südlichen Oasen – und den vergleichsweise feuchten Regionen sowie den Reichsstädten im westlichen und nördlichen Marokko. Der Transsahara-Handel der Karawanen verursachte beträchtliche Völkerwanderungen zwischen Regionen südlich der Sahara und Nord-Afrika. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein stellte der Sklavenhandel eine wesentliche Form erzwungener Migration nach Marokko und innerhalb des Landes dar.

Migration in der Kolonialzeit

Die Kolonisation Algeriens durch Frankreich im Jahr 1830 läutete eine Periode wirtschaftlicher und politischer Umstrukturierung ein, durch die völlig neue Migrationsmuster in der Maghreb-Region verursacht werden sollten. Der zunehmende Bedarf an Lohnarbeit auf den Farmen der französischen Kolonisten als auch in den nördlichen Städten zog eine wachsende Zahl von Migranten aus ländlichen Gebieten Marokkos an, die saisonabhängig zuwanderten bzw. zwischen Heimatland und Arbeitsort hin- und herzogen.

Im Jahr 1912 wurde das französisch-spanische Protektorat über Marokko formal errichtet. Während Frankreich die Kontrolle über das Landesinnere erhielt, beschränkte sich das spanische Protektorat hauptsächlich auf die westliche Sahara und eine Zone nördlich des Rifgebirges. Die Integration bislang weitgehend autonomer Stämme aus Marokkos Hinterland in die moderne Staatsform, die Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsform, Straßenbau und andere Maßnahmen zum Aufbau der Infrastruktur sowie das rasante Wachstum der Städte entlang der Atlantikküste schufen neue Möglichkeiten der Zuwanderung aus den ländlichen in urbane Regionen.

Während des Ersten Weltkrieges wurden aufgrund eines akuten Arbeitskräftemangels in Frankreich zehntausende marokkanischer Männer für die Arbeit in Armee, Industrie und Bergbau angeworben. Nach Ende des Krieges kehrten die meisten Migranten zwar wieder in ihre Heimat zurück, doch aufgrund der stark wachsenden Wirtschaft in Frankreich setzte nach 1920 eine erneute Zuwanderung ein. Während des Zweiten Weltkrieges führte ein Arbeitskräftemangel wiederum dazu, dass Marokkaner angeworben wurden. Rund 126.000 marokkanische Männer dienten während des Zweiten Weltkrieges und danach in den Kriegen in Korea und Indochina in der französischen Armee.

Die Hochphase marokkanischer Migration

Im Jahr 1956 wurde Marokko von Frankreich unabhängig. Die Pendelmigration nach Algerien kam 1962 endgültig zum Erliegen, als in Folge von Spannungen zwischen den beiden Ländern nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich die marokkanisch-algerische Grenze geschlossen wurde. In der Folgezeit wurde Europa immer mehr zum Ziel internationaler Migration aus Marokko.

Das rapide Wirtschaftswachstum in Nordwest-Europa während der Nachkriegszeit führte in zahlreichen Sektoren wie Industrie, Bergbau, Häuserbau und Landwirtschaft zu wachsendem Mangel an ungelernten Arbeitskräften. Bis in die frühen 1960er Jahre wurden diese Arbeitskräfte zumeist in Südeuropa angeworben. Als die Zuwanderung von dort stagnierte, richtete sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die südlichen Mittelmeerländer. Marokko schloss Abkommen über die Rekrutierung von "Gastarbeitern" mit West-Deutschland (1963), Frankreich (1963), Belgien (1964) und den Niederlanden (1969); diese bedeuteten den Beginn einer räumlichen Diversifizierung der Migration nach Europa, die sich bis dahin hauptsächlich nach Frankreich gerichtet hatte.

Formale Anwerbung durch spezielle Agenturen in den Gastländern war nur in den Anfangsjahren von Bedeutung. Selbst in den 1960er und 1970er Jahren waren spontane Ansiedlung, Kettenmigration und inoffizielle Anwerbung durch Firmen zahlenmäßig wesentlich bedeutsamer als offizielle Rekrutierungsmaßnahmen. Viele Menschen fühlten sich durch administrative Hürden, lange Wartelisten und die damit einhergehende Korruption bei der Ausstellung der nötigen Reisepapiere veranlasst, als 'Touristen' einzureisen, um dann als Arbeitsmigranten zu bleiben. Oftmals wurden Migranten von bereits eingewanderten Verwandten und Freunden unterstützt, die so als Vermittler zwischen Arbeitgebern und möglichen Migranten fungierten. Die meisten Emigranten reisten in den 1960er Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Frankreich, in die Niederlande, nach Belgien und andere Länder, ohne zuvor eine Arbeitsgenehmigung erhalten zu haben, und wurden später nachträglich anerkannt. Diese spontanen Siedler stießen bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft anfangs auf nicht allzu gravierende Probleme. Zwar nahmen ab den 1970er Jahren die aufnehmenden Gesellschaften gegenüber Zuwanderung eine ablehnendere Haltung an, dennoch erhielten zahlreiche Migranten nach einer Reihe von Regularisierungen in den Niederlanden (1975), in Belgien (1975) und in Frankreich (1981/82) dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen.

Marokkanische Juden, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in relativ kleinen Gruppen nach Gibraltar, London, Manchester und Marseilles emigriert waren, wanderten nach der Gründung des Staates Israel 1948 in großer Zahl aus Marokko ab. Im Vorfeld dieser Wanderungsbewegung hatte die jüdische Bevölkerung in Marokko 250.000 betragen. Zwischen 1948 und 1956 emigrierten 90.000 Juden. Nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1967 entschlossen sich auch die meisten verbliebenen Juden, das Land zu verlassen.

Insgesamt wanderten zwischen 1948 und 2003 270.188 marokkanische Juden nach Israel aus. Im Jahr 2003 betrug die in Marokko geborene Bevölkerung Israels 161.000, weitere 335.000 in Israel Geborene hatten einen in Marokko geborenen Vater. Einschließlich der in Israel Geborenen mit einer in Marokko geborenen Mutter und der dritten Generation leben schätzungsweise mindestens 700.000 marokkanischstämmige Menschen in Israel. Gegenwärtig leben noch rund 5.000 Juden in Marokko.

Diversifizierung von Migration als Reaktion auf restriktive Politik

In den 1950er und 1960er Jahren waren der marokkanische Staat, die europäischen Aufnahmeländer und auch die meisten Migranten selbst davon ausgegangen, dass die Zuwanderung nach Europa zeitlich befristet sein würde. Aufgewachsen in einer langen Tradition zirkulärer Migration, beabsichtigten die meisten Migranten, in ihre Heimat zurückzukehren, sobald sie genug Geld gespart hätten, um ein Stück Land kaufen, ein Haus bauen oder ein eigenes Geschäft aufbauen zu können. Mit der Ölkrise von 1973 begann jedoch eine Zeit wirtschaftlicher Stagnation und Umstrukturierung, in der die Arbeitslosigkeit stieg und die Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften sank. Infolgedessen schlossen die nordwesteuropäischen Länder ihre Grenzen für weitere Arbeitsmigranten. Die meisten Migranten gingen jedoch nicht zurück in ihre Heimat, sondern blieben schließlich dauerhaft in Europa. Die Ölkrise veränderte die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Migration radikal, sowohl in Europa als auch in Marokko. Marokko litt mehr noch als die europäischen Länder unter den hohen Ölpreisen und dem weltweiten wirtschaftlichen Abschwung. Zusätzlich befand sich das Land nach zwei gescheiterten Staatsstreichen gegen König Hassan II. in den Jahren 1971 und 1972 in einer Phase wachsender politischer Instabilität und Unterdrückung.

Das Zusammenkommen dieser Faktoren erklärt, warum viele Migranten sich entschlossen, auf der sicheren Seite zu bleiben, also in Europa. Paradoxerweise animierte die Einstellung der Anwerbemaßnahmen zu dauerhafter Ansiedlung anstatt zur Rückkehr: Familiennachzug in großer Zahl bedeutete eine Verschiebung von zirkulärer Migration hin zu dauerhafter Zuwanderung. Hauptsächlich durch diese Familienzusammenführungen wuchs die marokkanische Bevölkerung in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland weiter an. Im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen in Europa liegt die Rückwanderungsquote bei marokkanischen Menschen eher niedrig.

Nachdem die Familienzusammenführung gegen Ende der 1980er Jahre weitestgehend abgeschlossen war, gewann in den 1990er Jahren die Familiengründung große Bedeutung als Quell neuer Zuwanderung aus Marokko. Für zahlreiche Marokkaner ist die Heirat mit einem Partner oder einer Partnerin in Europa zur einzigen Möglichkeit geworden, legal in die traditionellen Zielländer (Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland) einzureisen. Ein großer Teil der marokkanischstämmigen Bevölkerung zweiter Generation heiratet einen Partner oder eine Partnerin aus der Herkunftsregion.

Als zweite Folge restriktiver Zuwanderungspolitik in Europa nahm neben dem Rückgriff auf Familienzusammenführung und Familiennachzug die Zuwanderung ohne erforderliche Papiere zu. Insbesondere während des starken wirtschaftlichen Wachstums in den 1990er Jahren zog die steigende Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in der Landwirtschaft, auf dem Bau und im Dienstleistungssektor undokumentierte Migranten an. Diese Entwicklung ging einher mit einer Diversifizierung der Zielländer und einem recht plötzlichen Aufstieg von Spanien und Italien als neue bevorzugte Zielländer marokkanischer Arbeitsmigranten. Waren sie früher selber Entsendeländer von Arbeitskräften gewesen, entwickeln sich Spanien und Italien seit Mitte der 1980er Jahre zu den Hauptzielen der Arbeitsmigration aus Marokko. Während der letzten zehn Jahre zeichnet sich auch zunehmende Abwanderung nach Kanada und in die USA ab. Diese Migranten sind in der Regel hoch qualifiziert und wandern aufgrund der in Marokko herrschenden hohen Arbeitslosigkeit bei Hochqualifizierten aus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe de Haas (2005).

  2. Siehe de Haas (2003) sowie Lightfoot and Miller (1996).

  3. Siehe Büchner (1986) sowie Fadloullah, Berrada and Khachani (2000).

  4. Siehe Bidwell (1973).

  5. Siehe Collyer (2004) und Shadid (1979).

  6. Siehe Muus (1995).

  7. Siehe Kenbib (1999).

  8. Siehe de Haas (2007b).

  9. Siehe Lievens (1999) und Reniers (2001).

  10. Siehe Huntoon (1998)

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