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Analyse: Der Brexit aus polnischer Perspektive

Aleksander Fuksiewicz

/ 16 Minuten zu lesen

Ob Wirtschaft, Einwanderung oder Europapolitik – Die polnischen Interessen sind in vielerlei Hinsicht mit dem Ausgang der Brexit-Verhandlungen verknüpft. Im Vordergrund steht dabei die Ungewissheit, über welche Rechte zukünftig die zahlreichen in Großbritannien lebenden Polen und Polinnen verfügen werden.

Der Kultur- und Wissenschaftspalast in Warschau erstrahlt in den Farben der britischen Flagge. Vor dem Brexit-Referendum wollten die Polen damit für den Verbleib der Briten in der EU werben. (© picture-alliance/AP)

Der EU-Austritt Großbritanniens ist für die Europäische Union präzedenzlos und wird wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf alle EU-Mitgliedsländer haben. Für Polen ist der Brexit eine Herausforderung in verschiedenerlei Hinsicht. In der öffentlichen Debatte ist das wichtigste Thema der rechtliche Status von Hunderttausenden polnischer Staatsbürger, die seit der Öffnung des britischen Arbeitsmarktes für die Polen im Jahr 2004 auf die Insel emigrierten. Ebenso wichtig ist für Polen als größter Nutznießer des EU-Haushalts die finanzielle Abrechnung der EU mit London. Wesentlich ist auch die Regulierung der zukünftigen Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich, das der zweitgrößte Abnehmer polnischer Exporte ist. Betrachtet wird außerdem das Problem, dass die aktuelle polnische Regierung in Großbritannien einen wichtigen Verbündeten in der Europäischen Union gesehen hat.

Mit dem Brexit verliert Polen einen wichtigen Verbündeten in der europäischen Politik. Die Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die sich Ende 2015 konstituiert hatte, hat nämlich von den bisherigen Prinzipien der Außen- und Europapolitik der Vorgängerregierungen Abstand genommen, das heißt enge Beziehungen zu Deutschland aufzubauen und in Brüssel die Position eines glaubwürdigen Partners zu stärken. Stattdessen sollte sich nun die europäische Politik auf zwei neue Säulen stützen: auf die regionale Zusammenarbeit mit den Staaten Ostmitteleuropas (das sind die EU-skeptische Koalition mit Ungarn, die Visegrád-Gruppe und die sogenannte Dreimeeres-Initiative) sowie auf enge Beziehungen eben zu Großbritannien, das Außenminister Witold Waszczykowski 2016 in seinem außenpolitischen Exposé vor dem Sejm als wichtigsten Partner in der EU bezeichnete.

London war für Warschau aus mehreren Gründen ein wichtiger Bezugspunkt. Erstens ist Großbritannien das größte EU-Land, das wie Polen nicht zur Eurozone gehört, also ein wichtiger Fürsprecher dieser Staaten. Großbritannien spielte außerdem eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der EU-Politik gegenüber Russland und nahm in den Debatten eine Position ein, die der polnischen nahe war, u. a. unterstützte es Sanktionen gegenüber Russland infolge der russischen Aggression gegen die Ukraine. Nach dem Austritt aus der EU wird die Koalition der Sanktionsbefürworter schwächer werden. Außerdem verbindet Großbritannien und Polen ein ähnliches Verständnis von Wirtschaftspolitik.

Für die PiS-Regierung waren außerdem zwei weitere Argumente wichtig. Erstens war ihr in den Diskussionen über die Zukunft der EU die britische Distanz gegenüber einer weitergehenden Integration nahe. Die PiS hat sich immer dafür ausgesprochen, die politische Integration zu bremsen und sich auf den Binnenmarkt zu konzentrieren. Großbritannien sollte also ein wichtiger Bündnispartner in den Debatten über die Zukunft der EU sein, die damit begannen, dass die Europäische Kommission das Weißbuch mit einem Entwicklungsszenario für die EU veröffentlichte.

Es steht zu erwarten, dass die Diskussionen zu diesem Thema jetzt nach den Präsidentenwahlen in Frankreich und den Bundestagswahlen in Deutschland an Fahrt gewinnen. Der einzige EU-skeptische Verbündete Polens bleibt nun Ungarn, denn Großbritannien, das im Jahr 2019 (bzw. nach Übergangsphasen) die EU verlassen wird, ist eigentlich bereits draußen. Das wahrscheinlichste Szenario ist die Vertiefung der Integration im Rahmen der Eurozone, was zu einer Marginalisierung der Staaten außerhalb derselben führen kann.

Zweitens verliert die PiS einen Koalitionspartner im Europäischen Parlament. Zusammen mit den britischen Tories gehört sie zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, der aktuell drittgrößten Kraft im Parlament nach den Christdemokraten und den Sozialdemokraten. Die Briten mit ihren 21 Abgeordneten sind die größte nationale Gruppe in dieser Fraktion, gefolgt von den Polen mit 19 Mandaten. Die Briten bleiben bis zu den kommenden Wahlen im Jahr 2019, die über die künftige Zusammensetzung und Fraktionsgrößen des Parlaments entscheiden werden, im Europäischen Parlament. Geht man von einem ähnlichen Wahlergebnis wie im Jahr 2014 aus, wird der Abgang der Briten einerseits eine enorme Stärkung der PiS in der Fraktion bedeuten (36 Prozent der Mitglieder im Vergleich zu gegenwärtig 25 Prozent; hinzu kommt, dass die Fraktion sehr ausdifferenziert ist und es keine andere große nationale Gruppe gibt) und andererseits eine deutliche Schwächung der Fraktion selbst, die fast ein Drittel ihrer Mitglieder verlieren würde. Sie würde auch die Position der dritten Kraft im Parlament zugunsten der Liberalen verlieren, die zurzeit 68 Vertreter, mit nur einem Briten, haben.

Der Abgang der britischen Abgeordneten wird auch eine Stärkung der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei, bedeuten, in der die Gruppe der polnischen Abgeordneten der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) eine wichtige Rolle spielen und der kein einziger Brite angehört. Bei einem ähnlichen Wahlergebnis wie dem letzten würden die Sozialdemokraten sowie die Grünen zirka 10 Prozent ihrer Mitglieder verlieren und die EU-skeptische Gruppe Europa der Freiheit und Direkten Demokratie fast die Hälfte ihrer Abgeordnetensitze (die Abgeordneten der United Kingdom Independence Party). Die Schwächung der EU-skeptischen Gruppen könnte zur Folge haben, dass die Diskussionen über die Bildung einer größeren politischen Gruppe wiederkehren, zu der außer den PiS-Abgeordneten beispielsweise die Abgeordneten des französischen Front National gehören könnten (diese hatten die PiS-Regierung in den Debatten über die Rechtsstaatlichkeit in Polen verteidigt).

Trotz der Verbindungen zwischen der PiS und der britischen Konservativen Partei und der Konflikte der PiS-Regierung mit der Europäischen Kommission über die Rechtsstaatlichkeit in Polen unterstützt Polen ohne Einschränkungen die Europäische Kommission in den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich über den Brexit. Die Interessen der EU und Polens sind in diesem Falle identisch. Von drei der zu verhandelnden Themen haben zwei für Polen eine Schlüsselbedeutung: Die Garantie der Rechte der EU-Bürger, die auf der Insel leben, darunter auch der Polen, sowie die Regelung der von Großbritannien zu tätigenden Zahlungen in den EU-Haushalt, die sogenannte Rechnung für den Austritt.

Die Rechte der EU-Bürger (Polen) in Großbritannien

Das Thema, das in der öffentlichen Debatte die größte Aufmerksamkeit erregt, ist die Wahrung der Rechte der Polen, die in Großbritannien leben, und die ihnen aufgrund der Personenfreizügigkeit zustehen, das ist das Recht auf Aufenthalt, Arbeit, Zugang zu Sozialleistungen, Familiennachzug, Teilnahme an den Wahlen auf lokaler Ebene usw. Diese Angelegenheit betrifft eine große Anzahl Polen, die nach dem EU-Beitritt Polens und der Öffnung des britischen Arbeitsmarktes massenhaft nach Großbritannien gingen. Britischen Daten zufolge leben dort gegenwärtig fast eine Million Menschen, die in Polen geboren wurden (911.000), was bedeutet, dass sie die größte nationale Minderheit in Großbritannien stellen, vor den Indern und den Pakistanern und weiteren Gruppen von Bürgern der EU-Staaten (Iren – 389.000, Rumänen – 310.000, Deutsche – 300.000; zu den Daten für die Staaten Ostmitteleuropas siehe Grafik 1 auf S. 7). Insgesamt leben in Großbritannien zirka 3,4 Millionen EU-Bürger; die Polen stellen also ungefähr ein Viertel von ihnen und zirka 1,4 Prozent aller Einwohner Großbritanniens.

Die Haltung der Europäischen Union

Die Verhandlungsposition, die die Europäische Kommission im Juni 2017 präsentierte, entsprach den polnischen Erwartungen. Brüssel fordert die volle Garantie der Rechte aller EU-Bürger in Großbritannien, die sich aus dem EU-Recht der Personenfreizügigkeit ergeben. Das einzige Kriterium soll das Datum der Einreise sein – vor oder nach dem Inkrafttreten des Austrittsabkommens, also dem tatsächlichen Datum des Brexit.

Die Haltung der EU ist, dass die Polen und die anderen EU-Bürger keine Dokumente zu besitzen brauchen, die ihre Niederlassung bestätigen, und dass ein fünfjähriger Wohnsitz in Großbritannien das Recht auf ständigen Aufenthalt garantieren soll. Diese Garantie soll sowohl für die EU-Bürger in Großbritannien als auch für die Briten auf dem Kontinent gelten sowie für deren Familienangehörige, sogar wenn diese nicht EU-Bürger sind, sondern beispielsweise Ukrainer. Dies würde auch Personen betreffen, die dabei sind, Rechte zu erwerben, zum Beispiel das Recht auf Rentenzahlungen, und sogar Personen, die in Großbritannien arbeiten, aber in einem anderen EU-Land leben und umgekehrt.

Diese Regulierungen, die sich aus dem EU-Recht ergeben, sollen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs garantiert werden, und die Europäische Kommission soll das Recht erhalten, die Situation sowohl in den EU-Mitgliedsländern als auch in Großbritannien zu überwachen.

Die Position Großbritanniens

Großbritannien hat die einseitige Garantie der Rechte für EU-Bürger trotz politischen Drucks abgelehnt. Für diese Garantien sprach sich nicht nur Brüssel aus, sondern auch die Labour Party und die Liberal Democrats sowie viele andere gesellschaftliche Organisationen, und das britische Oberhaus schlug eine entsprechende Korrektur des Gesetzes über den EU-Austritt vor, die von den regierenden Konservativen abgelehnt wurde. Im Gegenzug wurde ein völlig neues System vorgeschlagen, das speziell auf die Bürger der EU-27 ausgerichtet ist und sich auf das britische Immigrationsrecht gründet.

Der britische Vorschlag sieht vor, die EU-Bürger in drei Gruppen mit jeweils unterschiedlichem Status einzuteilen. In der besten Situation wären diejenigen, die ihren fünfjährigen ununterbrochenen Wohnsitz in Großbritannien nachweisen können. Sie könnten den Status der dauerhaft Niedergelassenen (settled status) erhalten. Er entspricht dem Status, der den Aufenthalt von Nicht-EU-Bürgern in Großbritannien regelt, die dort ununterbrochen fünf Jahre lebten, allerdings ohne Notwendigkeit, für diese Zeit eine abgeschlossene Krankenversicherung zu dokumentieren. Dieser Status würde das Aufenthaltsrecht garantieren und in der Folge auch das Recht auf Beantragung der britischen Staatsbürgerschaft einräumen (nach insgesamt sechs Jahren) sowie den Zugang zu allen Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen.

Personen, die den settled status erhalten, sind in einer relativ komfortablen Situation. Zu beachten ist allerdings, dass hier kein Automatismus eintritt, das heißt, es besteht die Notwendigkeit, den Status zu beantragen und den Wohnsitz zu dokumentieren. Auch besteht die Möglichkeit, den Status denjenigen zu verweigern, die in Großbritannien eine Straftat begangen haben. Außerdem kann man den Status verlieren, wenn man Großbritannien für mehr als zwei Jahre verlässt, es sei denn, die betreffende Person "hat starke Verbindungen zu Großbritannien" (wie es in der britischen Verhandlungsposition heißt). Dies wiederum ist sehr vage und führt zu einer zusätzlichen Unsicherheit.

In einer deutlich schlechteren rechtlichen Situation wären, wenn der britische Vorschlag zur Anwendung käme, Personen, die sich in Großbritannien weniger als fünf Jahre aufhalten, also keinen fünfjährigen Wohnsitz nachweisen können. Sie können sich um einen befristeten Aufenthaltsstatus bemühen, um die Fünfjahresfrist zu komplettieren, und anschließend können sie den Status der dauerhaft Niedergelassenen beantragen. Sie hätten aber keine Garantie, diesen Status zu erhalten, dies wäre vielmehr vom jeweiligen geltenden britischen Recht abhängig. Informationen der polnischen Seite zufolge trifft die Situation des nicht durchgehenden fünfjährigen Aufenthalts auf einen – im Vergleich zu anderen Nationalitäten – beträchtlichen Teil der in Großbritannien lebenden Polen zu.

In der schlechtesten Lage wären diejenigen, die nach dem festgelegten Datum nach Großbritannien gehen würden. Sie könnten dort "mindestens für eine befristete Zeit" bleiben und sich eventuell dauerhaft niederlassen, aber sie hätten keine Garantie, den Status der dauerhaft Niedergelassenen zu erhalten.

Wichtig ist, dass nach den Vorstellungen Londons das gesetzte Datum nicht mit dem Datum des tatsächlichen Brexit identisch sein muss, denn London hat die Einführung eines sogenannten cut-off date vorgeschlagen. Dieses soll zwischen März 2017, das heißt dem Datum der Auslösung des Artikels 50 des EU-Vertrags (Unterrichtung der EU über den Austrittswunsch), und März 2019, dem Datum des tatsächlichen Austritts, liegen. Die Einführung eines fixen Datums, das nicht mit dem Datum des Brexit identisch wäre, bedeutete eine neue Unsicherheit für die Tausenden EU-Bürger, die dann nicht wüssten, auf welcher Seite dieses Datums sie sich befänden. Laut britischem Brexit-Minister soll die Einführung dieses zusätzlichen Datums dem plötzlichen Anstieg der Immigration von Personen vorbeugen, die sich ein Aufenthaltsrecht sichern wollen. In der Realität weisen die Daten aber eher auf eine Reduzierung, nicht auf einen Anstieg der Immigration hin. Gegen die Einführung des gesetzten Datums sprach sich unter anderen das Europäische Parlament aus, dessen Haltung eindeutig ist: Kein anderes fixes Datum als das Datum des Inkrafttretens der Brexit-Vereinbarung ist akzeptabel.

Die vorgeschlagene Regulierung soll Teil des britischen Einwanderungsrechts sein und nicht Bestandteil der Vereinbarung mit der Europäischen Union, so dass hier nicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gelten würde und eventuelle Streitfälle von britischen Gerichten geklärt werden würden. Aus der Sicht Londons ist das verständlich – eines der wichtigsten Propagandaziele des Brexit ist die "Wiedererlangung der Kontrolle" und eben nicht, sie in den Händen der EU-Institutionen zu belassen. Aus der Perspektive der Bürger allerdings handelt es sich um die Schwächung ihrer Rechte, der die Europäische Kommission sehr wahrscheinlich nicht zustimmen wird. Die Garantie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fordert auch das Europäische Parlament.

Die Kontinuität der Unsicherheit

Inzwischen kommt der britische Standpunkt in Bewegung. In ihrer Brexit-Rede in Florenz im September 2017 signalisierte die britische Premierministerin Theresa May die Einführung einer zweijährigen Übergangsphase, in der Großbritannien allen bisherigen EU-Rechten unterliegen würde. In dieser Zeit solle für die EU-Bürger in Großbritannien alles unverändert bleiben. Sie kündigte auch ihre Zustimmung dafür an, dass die Rechte anschließend im Vertrag zwischen Großbritannien und der Europäischen Union garantiert werden würden und nicht allein im britischen Recht, sowie für eine bestimmte Rolle des Europäischen Gerichtshofs.

Zur selben Zeit gab die britische Innenministerin Amber Rudd der polnischen Tageszeitung "Rzeczpospolita" ein Interview, in dem der Satz auftauchte: "Wir werden die Rechte der EU-Bürger in unserem Land garantieren." Allerdings wurde immer noch nichts Konkretes in dieser Frage bekannt gegeben. Die Ministerin bestätigte zwar den Plan, einen neuen Niederlassungs-Status zu schaffen, der der betreffenden Person "dieselben Rechte wie allen anderen" einräumen würde, sowie die Einführung eines neuen vereinfachten Systems zur Registrierung von Immigranten (das jetzige System wird für seine Kompliziertheit und den Zeitaufwand zulasten des Immigranten kritisiert). Doch weiterhin gibt es viele unbekannte Faktoren, wie das Wahlrecht für Wahlen auf der lokalen Ebene und das Recht, Angehörige nachzuholen, das zurzeit für die EU-Bürger vorteilhafter ist als für die Briten. Nicht klar ist auch, ob die Übergangsphase zu dem fünfjährigen Zeitraum dazu gezählt werden soll, der erfüllt werden muss, um den Status der dauerhaft Niedergelassenen erhalten zu können; des Weiteren welche Rechte Personen mit befristetem Aufenthaltsstatus haben sollen, ob sich Personen, die bereits den Status des dauerhaft Niedergelassenen haben, erneut um ihn bewerben müssen und ob die Bewerbung von jedem Familienmitglied getätigt werden muss, was das Risiko unterschiedlicher Entscheidungen bergen würde.

Die fehlende Rechtsgarantie der Londoner Regierung gleich zu Anfang der Verhandlungen bewirkte, dass die Rechte der Bürger, die als unveräußerliche erworbene Rechte gelten sollten, Gegenstand politischer Verhandlungen wurden. Für viele Immigranten bedeutet das Unsicherheit für ihre Zukunft. Weiterhin gibt es keine Klarheit darüber, wie das Verhandlungsergebnis aussehen wird oder ob nicht alles in sich zusammenfallen und Großbritannien ohne Vereinbarung die EU verlassen wird.

Es ist also nicht verwunderlich, dass EU-Bürger in Großbritannien, darunter auch Polen, versuchen, sich Rechte zu sichern, oder sich entscheiden, das Land zu verlassen. Die sicherste Art und Weise, sich Rechte zu sichern, ist, die britische Staatsangehörigkeit anzunehmen. In der ersten Jahreshälfte 2017 bewarben sich darum 4.171 Polen, was einen Anstieg von über 270 Prozent (!) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (laut dem Magazin "The Economist" 1.526 Anträge) bedeutet. Die Polen sind insofern in einer guten Situation, als das polnische Recht den Besitz der doppelten Staatsbürgerschaft nicht verbietet; sie können also britische Staatsbürger werden und polnische Staatsbürger bleiben, also auch EU-Bürger nach dem Brexit. In einer ungünstigeren Situation sind zum Beispiel die litauischen Staatsbürger, für die kein Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft besteht. Der Litauer, der die britische Staatsangehörigkeit annimmt, verliert die litauische und folglich auch die Staatsbürgerschaft seines EU-Landes nach dem Brexit. Das litauische Parlament versuchte, die Bestimmungen zu ändern, aber die Initiative wurde vom Verfassungstribunal angefochten, das die Auffassung vertritt, dass in diesem Fall ein Referendum erforderlich sei.

Die Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Brexit wirkt sich auch auf die Migrationsbewegungen aus. Nach Angaben der britischen Statistikbehörde ging aktuell die Nettomigration nach Großbritannien aus den in der Grafik 1 auf S. 7 genannten acht ostmitteleuropäischen Staaten fast auf Null zurück. Von Bedeutung ist hier wohl auch der infolge des Brexit fallende Kurs des britischen Pfund im Verhältnis beispielsweise zum Zloty.

Der EU-Haushalt und der Einfluss auf den Handelsaustausch

Der Brexit wirkt sich jedoch nicht nur auf die Politik und die Migration, sondern auch auf die Wirtschaft aus. Großbritannien ist nach Deutschland der größte Abnehmer polnischer Produkte. Mehr noch, Polen verzeichnet einen Überschuss in der Handelsbilanz mit Großbritannien. Im Jahr 2016 betrug der polnische Export nach Großbritannien 12,3 Milliarden Euro und der Import 4,7 Milliarden Euro. Der Überschuss betrug demnach 7,6 Milliarden Euro, das sind 0,3 Milliarden mehr als im Vorjahr. Konrad Szymański, Minister für europäische Angelegenheiten, unterstrich im Sejm: "Polen gehört zu der großen Gruppe von Staaten, denen daran liegt, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU nicht den Handelsbeziehungen schadet." Wie die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien nach dem Brexit geregelt sind, ist für Polen von großer Bedeutung.

Allerdings stellen die Wirtschaftsanalysen in Aussicht, dass der Brexit keinen bedeutenden Einfluss auf die polnische Wirtschaft haben wird. Verschiedenen Prognosen zufolge wird der Brexit zwar in allen EU-Ländern zur Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) führen, aber Polen wäre davon auf einem ähnlichen (oder niedrigeren) Niveau wie andere Regionen Mitteleuropas betroffen und deutlich weniger als Länder wie Irland, Belgien, die Niederlande, Portugal, Spanien und Dänemark. Nach Analysen des niederländischen Instituts Centraal Planbureau, einem Büro für wirtschaftspolitische Analysen, würde sich das polnische BIP abhängig vom realisierten Brexit-Modell um 0,4 bis 0,6 Prozent verringern, vergleichbar mit Deutschland, Frankreich und Tschechien (0,5 bis 0,6 Prozent), aber weniger als beispielsweise im Falle von Ungarn (0,7 bis 0,8 Prozent). Für die gesamte EU würde die Senkung 0,6 bis 0,8 Prozent betragen. Andere Analysen, zum Beispiel der Bertelsmann Stiftung, zeigen ebenfalls, dass sich Polen nicht unter den Ländern befinden würde, die wirtschaftlich am stärksten vom Brexit betroffen wären.

Wichtig ist jedoch festzustellen, dass Modelle dieses Typs die Komplexität der wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen des Brexit nicht in Gänze abbilden. Im Falle Polens müssen auch die Migranten berücksichtigt werden, die sich aufgrund der ungünstigen Situation in Großbritannien zur Rückkehr nach Polen gezwungen sehen könnten. Dies kann einerseits die Arbeitslosigkeit in Polen erhöhen und würde zudem die Geldtransfers nach Polen reduzieren. Großbritannien ist nach Deutschland das wichtigste Land für Geldtransfers polnischer Migranten. Analysen der Polnischen Nationalbank (Narodowy Bank Polski) aus dem Jahr 2013 zufolge betrugen die Transfers zirka 0,9 Milliarden Euro jährlich, was 22 Prozent aller Transfers nach Polen ausmachte.

Andere Analysen weisen wiederum darauf hin, dass sich Investoren wahrscheinlich aus Großbritannien zurückziehen werden, was positive wirtschaftliche Folgen haben könnte, sollten sie dann Polen wählen. Manche Banken haben bereits Umzüge angekündigt, insbesondere nach Frankreich, Deutschland, Irland und Luxemburg.

Die wirtschaftlichen Verluste infolge des Brexit bestehen nicht nur in der Schwächung des Handels oder im Einfluss auf das BIP, sondern auch in der Verringerung der Einzahlungen in den EU-Haushalt. Der Beitrag Londons liegt bei brutto 18,2 Milliarden Euro (weniger als Deutschland mit 24,3 Milliarden Euro und Frankreich mit 19 Milliarden Euro, aber mehr als Italien mit 14,2 Milliarden Euro, so die Daten der Europäischen Kommission). Abzüglich dessen, was London von der EU erhält, ist Großbritannien jedoch trotz des sogenannten Briten-Rabatts nach Deutschland der zweitgrößte Nettozahler in den EU-Haushalt. Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird also eine Reduzierung des EU-Haushalts bedeuten oder die Notwendigkeit höherer Einzahlungen der übrigen EU-Länder.

Nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung müsste Polen infolge des Brexit brutto 311 Millionen Euro mehr in den EU-Haushalt einzahlen als gegenwärtig. Dies ist weniger als bei den größten EU-Staaten (Deutschland: 2,5 Milliarden Euro, Frankreich: 1,87 Milliarden Euro, Italien: 1,38 Milliarden Euro, Spanien: 0,9 Milliarden Euro) und auch bei den Niederlanden (0,53 Milliarden Euro), Schweden (0,38 Milliarden Euro) und Belgien (0,34 Milliarden Euro). Analysen des Centre for European Policy Studies (CEPS) sagen, dass der Nettobeitrag Polens um 207,3 Millionen Euro im Falle einer Einstellung der Einzahlungen Großbritanniens steigen würde bzw. um 89,3 Millionen Euro, wenn Großbritannien als Mitglied der Europäischen Wirtschaftszone einen Teil der Zahlungen aufrechterhalten sollte.

Die Aufrechterhaltung der Einzahlungen in den EU-Haushalt auf dem bisherigen Niveau würde dagegen bedeuten, die Ausgaben um die Summe des britischen Nettobeitrags zu verringern. Polen würde der größte Netto-Nutznießer des EU-Haushalts bleiben (brutto erhalten Frankreich und Spanien mehr aus dem EU-Haushalt) und gleichzeitig am meisten unter der Notwendigkeit leiden, den Haushalt zu reduzieren. Dies betrifft insbesondere die Kohäsionspolitik, die im Ergebnis der Veränderungen eingeschränkt werden könnte, was für Polen ungünstige Folgen hätte. Allerdings würde der EU-Haushalt wahrscheinlich einen Teil der infolge des Brexit verlorenen Summe "wiedererlangen". Im Falle eines sogenannten weichen Brexit und der weiteren Teilnahme Großbritanniens am europäischen Binnenmarkt müsste sich London an den Haushaltskosten beteiligen (ähnlich wie Norwegen). Sollte aber ein "harter" Brexit und der Handel nach den Prinzipien der WTO geregelt werden, würde das EU-Budget wiederum zusätzliche Einnahmen aus Zöllen und anderen Handelstarifen erhalten. Manche Experten wie Henrik Enderlein, Direktor des Jacques Delors Instituts in Berlin, rufen dazu auf, mit Blick auf das Ende des aktuellen Finanzrahmens im Jahr 2020 den Brexit als Chance zu nutzen, eine grundsätzliche Reform des EU-Budgets zugunsten größerer Elastizität durchzuführen.

Resümee

Der Brexit ist eine Herausforderung für Polen wie für die ganze EU. Alle Analysen zeigen, dass der am meisten Geschädigte Großbritannien selbst sein wird, das sowohl politisch als auch wirtschaftlich die größten Kosten wird tragen müssen. Vor der Europäischen Union, also auch Polen und den polnischen Emigranten und Firmen steht jedoch eine Reihe von Gefahren. Ein effektiv geführter Verhandlungsprozess, insbesondere eine konstruktive Herangehensweise der Briten, würde die Gefahren neutralisieren und die Verluste minimalisieren. Der Brexit zeigt auch, dass die EU nur eine Chance auf Erfolg hat, wenn sie gemeinsam handelt. Polen muss sich, um aus dieser Situation relativ unversehrt herauszukommen, auf die EU verlassen und ihr Handeln unterstützen. Im Falle der aktuellen polnischen Regierung ist das keine selbstverständliche Schlussfolgerung.

Das, worauf die polnische Regierung direkten Einfluss hat, ist der Platz, den Polen in der neuen Europäischen Union einnehmen wird, die sich aus dem Brexit und den damit erfolgenden Reformen herausbildet. Dass der Brexit und die ihn begleitende Gefahr der Marginalisierung der Staaten außerhalb der Eurozone ein Argument wäre, der Eurozone beizutreten, ist bisher noch nicht in die öffentliche Debatte durchgedrungen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

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Aleksander Fuksiewicz ist Projektkoordinator und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europäischen Programm des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa) und Vorstandsmitglied der Grupy Zagranica. Seine Untersuchungsschwerpunkte sind die europäische Integration und die europäischen Institutionen sowie die polnische Außenpolitik.