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Struktur und Entwicklung der Bevölkerung | Sozialer Wandel in Deutschland | bpb.de

Sozialer Wandel in Deutschland Editorial Struktur und Entwicklung der Bevölkerung Materielle Lebensbedingungen Rolle der Eliten in der Gesellschaft Armut und Prekarität Migration und Integration Bildungsexpansion und Bildungschancen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern Facetten der modernen Sozialstruktur Literaturhinweise Impressum

Struktur und Entwicklung der Bevölkerung

Rainer Geißler

/ 15 Minuten zu lesen

Die Struktur und Entwicklung einer Bevölkerung stehen in enger Wechselbeziehung zu anderen Teilen der Sozialstruktur. Weil die Geburtenraten hierzulande seit Jahrzehnten sehr niedrig sind und die Bevölkerung zunehmend altert, braucht Deutschland aus ökonomischen und demografischen Gründen Einwanderer und wird auch in absehbarer Zukunft auf zusätzliche Einwanderer angewiesen sein.

Die Bevölkerung Deutschlands (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 24 111; Quelle: Destatis)

Unter Bevölkerung versteht man die Gesamtzahl der Bewohner innerhalb eines politisch abgrenzbaren Gebietes. Sie ist ein Grundelement jeder Gesellschaft. Als Demografie bezeichnet man die wissenschaftliche Betrachtung von Bevölkerungen, ihren Strukturen und Entwicklungen. Die Bevölkerungsbewegung – Geburtenziffern, Lebenserwartung sowie Wanderungen – wird wesentlich durch soziale Faktoren mitbestimmt. So haben zum Beispiel die gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehe und Familie Einfluss darauf, wie viele Kinder zur Welt gebracht werden, und das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft wirkt sich sowohl auf die Höhe der Lebenserwartung als auch auf die Aus- und Einwanderungen aus: Not produziert Auswanderungsdruck, Wohlstand zieht Einwanderer an. Andererseits haben die quantitativen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur vielfältige Rückwirkungen auf die Gesellschaft, auf die sozialen Institutionen und die Lebenschancen der Menschen – beispielsweise auf das Wirtschaftsleben, die Erwerbs- und Einkommenschancen, die Familien- und Haushaltsformen, das Bildungswesen und die Bildungschancen sowie auf das System der sozialen Sicherung und die verschiedenen Lebensrisiken.
Deutschland war in den vergangenen Jahrzehnten langfristigen demografischen Tendenzen unterworfen, die alle industriellen Dienstleistungsgesellschaften Europas und Nordamerikas in ähnlicher Form erfasst haben:

  • Geburtenrückgang: Die Geburtenraten sind gesunken und bewegen sich seit Langem auf einem niedrigen Niveau.

  • Steigende Lebenserwartung: Die Menschen werden immer älter – ein Prozess, der seit fast eineinhalb Jahrhunderten anhält und dessen Ende noch nicht abzusehen ist.

  • Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung: Die einheimische Bevölkerung nimmt ab und wird immer älter.

  • Einwanderung und Multiethnizität: Aufgrund der skizzierten Entwicklungen entsteht in vielen Ländern ein demografisch und ökonomisch bedingter Zuwanderungsbedarf; es kommt zu Einwanderungen mit entsprechenden Integrationsproblemen, weil die Eingewanderten verschiedenen Ländern und kulturellen Hintergründen entstammen (Multiethnizität). In Deutschland wurde und wird die Wanderungsdynamik noch durch die Folgen und Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges verstärkt: Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, (Spät-)Aussiedler aus Osteuropa, Flüchtlinge und Übersiedler aus Ostdeutschland sind die diesbezüglichen Stichworte.

Bevölkerungswachstum


Nach der Volkszählung im Jahr 2011 – Zensus 2011 genannt – leben auf dem Gebiet der Bundesrepublik 80,3 Millionen Menschen, das sind 15,6 Millionen oder fast ein Viertel mehr als 1946. 64,3 Millionen wohnen im früheren Bundesgebiet (ohne Berlin), 12,7 Millionen in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) und 3,3 Millionen in Berlin.
Dieses Bevölkerungswachstum setzt einen langfristigen, bis etwa zur Jahrtausendwende andauernden Trend fort, der sich in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts beobachten lässt. 1814 lebten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches erst knapp 25 Millionen Einwohner.

Die Bevölkerung nahm nach 1948 ausschließlich in Westdeutschland zu; dort erfolgten zwei Wachstumsschübe, denen unterschiedliche Ursachen zugrunde lagen. Der erste Schub in den 1950er- und 1960er-Jahren wurde durch drei große Zuwanderungswellen ausgelöst – Flüchtlinge bzw. Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (etwa 8 Millionen), Übersiedler aus der DDR (gut 3 Millionen), angeworbene Arbeitsmigranten aus Südeuropa (etwa 3,5 Millionen) –, aber auch durch die hohen Geburtenziffern während des sogenannten Babybooms. Der zweite Schub (etwa 6 Millionen) erfolgte zwischen 1985 und 2000 und ist ausschließlich auf weitere Zuwanderungen zurückzuführen. Im Jahr 2002 ist die langfristige Wachstumsphase bei etwa 67,5 Millionen beendet, es gibt nur noch geringfügige Auf- und Ab-Bewegungen.

Während die Bundesrepublik zu den wichtigsten Einwanderungsländern der westlichen Welt gehörte, stellte die DDR einen "Sonderfall" mit umgekehrten Vorzeichen dar. Sie war das einzige Land der Erde, dessen Bevölkerungsentwicklung seit den 1950er-Jahren durchgängig durch schrumpfende Zahlen gekennzeichnet war. Ihre Einwohnerzahl ging von 19,1 Millionen im Jahr 1948 auf 16,4 Millionen 1989 zurück. Nach der deutschen Vereinigung sank sie in den fünf neuen Bundesländern weiter, und zwar um 15 Prozent von 14,8 Millionen im Jahr 1990 auf 12,7 Millionen im Jahr 2011.

Geburtenrückgang


Der westdeutsche Babyboom in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren war eine Spätfolge des Zweiten Weltkrieges. Aufgeschobene Eheschließungen wurden nachgeholt, und die wirtschaftliche Stabilisierung nach den Wirren der Nachkriegszeit ermutigte zur Gründung von Mehrkinderfamilien. Dem Gipfel des Geburtenanstiegs Mitte der 1960er-Jahre folgte allerdings eine rasante Talfahrt. Innerhalb eines Jahrzehnts halbierte sich die Zahl der Geburten nahezu: 1965 brachten 100 Frauen noch durchschnittlich 250 Kinder zur Welt, 1975 nur noch 145, und 1985 war mit 128 Kindern die bisherige Talsohle erreicht. Im vergangenen Jahrzehnt lag die Zahl im früheren Bundesgebiet unter 140 Kindern – 2012 waren es 137.

Soll die Kindergeneration über Geburten zahlenmäßig genauso stark werden wie die Elterngeneration, müssten 100 Frauen durchschnittlich 208 Kinder zur Welt bringen. In diesem Fall läge die "Nettoreproduktionsrate" der Bevölkerung – wie die Bevölkerungswissenschaftler sagen – bei 100 Prozent. Seit 1975 beträgt sie in Westdeutschland lediglich etwa zwei Drittel. Jede Kindergeneration schrumpft also im Vergleich zur Elterngeneration um circa ein Drittel.

Familienleben 1900 und 2012 (© Datenquelle: Statistisches Bundesamt)

In der DDR hatten die Geburtenziffern über den westdeutschen gelegen. Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems löste jedoch schockartige Lähmungserscheinungen im Familienleben der Ostdeutschen aus. So halbierten sich quasi über Nacht die Geburtenzahlen, und auch die Zahl der Eheschließungen und Scheidungen ging in einem ähnlich dramatischen Ausmaß zurück. Nach 1993 stiegen die Geburtenzahlen in den neuen Bundesländern wieder langsam an. Seit 2008 liegen sie über dem westdeutschen Niveau – 2012 bei 145 im Vergleich zu 137 im Westen.



Geburten je 100 Frauen (1950-2012) (© Datenquelle: Statistische Jahrbücher, Statistisches Bundesamt)

Der Geburtenrückgang ist ein langfristiger Prozess, der alle modernen Gesellschaften erfasst hat. Deutschland gehört allerdings zu den Ländern mit besonders niedrigen Geburtenraten. Diese hängen mit dem enormen Anstieg der Kinderlosigkeit und dem starken Rückgang kinderreicher Familien zusammen: Von den westdeutschen Frauen des Geburtsjahrganges 1935 brachten nur 9 Prozent kein Kind zur Welt. Unter den 1945 Geborenen waren es 15 Prozent, und von den Geburtsjahrgängen 1964 bis 1968 sind es bereits 24 Prozent. Auf der anderen Seite hat sich der Anteil von Müttern mit mehr als zwei Kindern innerhalb von drei Jahrzehnten halbiert: Von den 1933 bis 1938 geborenen Frauen hatten 33 Prozent mindestens drei Kinder, von den 1964 bis 1968 geborenen sind es nur noch 17 Prozent. Es dominiert das Ideal der Zweikinderfamilie.

Dem Geburtenrückgang liegt in Deutschland ein vielschichtiges Bedingungsgefüge zugrunde. Es lassen sich mindestens vier zentrale Ursachenkomplexe ausmachen:

  • Der Funktions- und Strukturwandel der Familie: Der kontinuierliche Rückgang der Familienbetriebe und die stärkere Übernahme von Fürsorgeleistungen durch den Sozial- und Wohlfahrtsstaat vermindern die "ökonomische" Bedeutung der Kinder für die Eltern. Kinder sind heute in erster Linie "ein Wert an sich"; sie sollen Freude machen und die Lebensintensität steigern.

  • Die Emanzipation der Frau und Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Die große Mehrheit der jungen Frauen möchte Beruf und Familie miteinander in Einklang bringen. Bei der Umsetzung dieses "doppelten weiblichen Lebensentwurfs" stoßen sie in der Arbeitswelt weiterhin auf große Probleme. Deren Strukturen orientieren sich auch heute noch stark an der für Männer typischen Lebenswirklichkeit wie Zeitsouveränität und Abkömmlichkeit. In Westdeutschland kommt hinzu, dass sich der Staat erst in den vergangenen Jahren intensiver um den Ausbau der Kinderbetreuung außerhalb der Familie bemüht. Es fehlt weiterhin an Kinderkrippen und Tagesmüttern sowie an Kindergärten und schulischer Ganztagsbetreuung. Auch die Höherqualifizierung der Frauen im Zuge der Bildungsexpansion spielt in diesem Ursachengeflecht eine Rolle. Von den Frauen ohne Schulabschluss, die in den Jahren 1964 bis 1968 geboren sind, hat noch fast jede Zweite (46 Prozent) drei oder mehr Kinder; von den Müttern mit Hochschulabschluss sind es lediglich 12 Prozent.

  • Die Ausbreitung von anspruchsvollen und individualistischen Lebensstilen: Gestiegene materielle und individualistische Ansprüche geraten zunehmend in Konflikt mit den Kosten, den zeitlichen Bindungen und den langfristigen Festlegungen, die Kinder verursachen.

  • Die "strukturelle Rücksichtslosigkeit" gegenüber der Familie (wie es der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann nennt): Die gesellschaftlichen Strukturen sind stark auf die Bedürfnisse der Erwachsenen zugeschnitten. Kinder werden zwar nicht abgelehnt, aber den familialen Leistungen fehlt es an gesellschaftlicher Anerkennung und materieller Unterstützung. Mehr noch: Die bereits erwähnte Arbeitswelt, die Steuer- und Versicherungssysteme und andere Gegebenheiten verschaffen denjenigen Vorteile, die auf die Übernahme von Elternverantwortung verzichten.

Diese vier Hauptkomplexe sind mit weiteren Entwicklungstendenzen verknüpft, die ebenfalls zu den Ursachen für sinkende Geburtenziffern gezählt werden können:

  • Zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Kinderlosigkeit: Private Lebensformen ohne Kinder werden zunehmend gesellschaftlich akzeptiert und als legitime Alternative zur "Normalfamilie" angesehen.

  • Fehlende (verlässliche) Partnerschaften: Kinderwünsche werden aufgeschoben oder nicht realisiert, weil der geeignete Partner oder die geeignete Partnerin fehlt. Die Tragfähigkeit bestehender Beziehungen wird oft bezweifelt.

  • Emotionalisierte und verengte Paarbeziehungen: Die Ergebnisse der Familienforschung zeigen, dass bei der Partnerwahl ökonomische und soziale Gründe tendenziell an Gewicht verlieren und Emotionen (Liebe) in den Vordergrund getreten sind. In stark emotionalisierten Zweierbeziehungen, die sich manchmal zum "Zweck an sich" verengen, können Kinder als Last, Konkurrenz oder Störung erlebt werden.

  • "Pädagogisierung" der Elternrolle: Eltern sind bei der Erziehung nachweislich zunehmend verunsichert, weil sich die Anforderungen an die Elternrolle erheblich erhöht haben. In Deutschland befürchten Eltern stärker als in anderen Ländern, bei der Erziehung Fehler zu machen.

Lebenserwartung und Alterung


Neben dem Geburtenrückgang ist der Anstieg der Lebenserwartung der zweite langfristige Trend von Bedeutung. Fortschritte in Medizin, Gesundheitsvorsorge, Hygiene und Unfallverhütung sowie die allgemeine Wohlstandssteigerung hatten zur Folge, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung westdeutscher Frauen von 68,2 Jahren im Jahr 1950 auf 83,1 im Jahr 2012 erhöht hat, die der westdeutschen Männer von 64,3 auf 78,5 Jahre. Frauen leben im Durchschnitt also gut viereinhalb Jahre länger als Männer.

Anstieg der Lebenserwartung (© Zusammengestellt nach Marc Luy, Lebenserwartung in West- und Ostdeutschland, Wien 2014)

Die Gründe für die höhere Lebenserwartung der Frauen sind nicht bis in alle Einzelheiten geklärt; es ist jedoch sicher, dass soziale Ursachen, die mit den traditionellen geschlechtstypischen Rollenbildern zusammenhängen, eine wichtige Rolle spielen. So pflegen Frauen einen gesundheitsbewussteren Lebensstil als Männer, gehen weniger Risiken ein und leben unter Bedingungen, die teilweise der Gesundheit förderlicher sind: Sie haben weniger belastende und gefährliche Arbeitsplätze, sie gehen schonender und achtsamer mit ihrem Körper um, sie ernähren sich gesünder und konsumieren weniger Tabak, Alkohol und Drogen. Zudem werden sie seltener Opfer von Unfällen mit Todesfolge oder von Mord und Totschlag, und ihre Selbstmordrate ist deutlich niedriger (2010: 2600 Frauen im Vergleich zu 7500 Männern).
In Ostdeutschland lag die Lebenserwartung 1990 niedriger als in Westdeutschland – bei den Frauen um 2,9 und bei den Männern um 3,5 Jahre. Nach der Vereinigung sind diese Differenzen bei den Frauen 2012 verschwunden, bei den Männern sind sie um fast zwei Drittel auf 1,2 Jahre gesunken.

Bedeutung für die soziale Sicherung

Demografische Alterung (© Eigene Grafik nach Daten des Statistischen Bundesamtes)

Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartungen haben eine demografische Alterung der Bevölkerung mit erheblichen Auswirkungen und Problemen für die sozialen Sicherungssysteme zur Folge. Demografische Alterung bedeutet: Der Anteil der jüngeren Menschen an der Gesamtbevölkerung geht zurück, während gleichzeitig derjenige älterer Menschen zunimmt. 1950 entfielen auf einen Menschen im "Ruhestandsalter" (über 60 Jahre) fast vier Personen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 60 Jahren, 2010 waren es nur noch gut zwei. Obwohl Prognosen und Modellrechnungen einen jährlichen Überschuss von 200.000 Einwanderern voraussetzen, zeigen sie, dass sich die Relationen immer mehr zuungunsten der erwerbsfähigen Jahrgänge verschieben werden. Ab 2030 werden auf einen "Ruheständler" nur noch 1,3 "Erwerbsfähige" kommen. Aus der internationalen Perspektive kann Deutschland als das "Altersheim Europas" angesehen werden: Im Jahrbuch des Europäischen Statistikamtes hat die deutsche Gesellschaft das höchste Durchschnittsalter (44,2 Jahre), den geringsten Anteil an Jugendlichen und den größten Anteil an Rentnern.

Der ausgedehnte "moderne Ruhestand" ist durchaus eine demografische "Erfolgsgeschichte" (Martin Kohli 2001), verwirklicht er doch einen lang gehegten Wunsch der arbeitenden Menschen. Auf der anderen Seite bringt die Alterung enorme Belastungen für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen mit sich. So ist der traditionelle "Generationenvertrag" der Alterssicherung – das heißt, die erwerbstätige Generation finanziert über ihre Beiträge zur Rentenversicherung im Wesentlichen die Renten der Ruhestandsgeneration (Umlageverfahren) – bereits seit Längerem auf zusätzliche Steuermittel angewiesen Daher wird derzeit neben dem Generationenvertrag eine zweite Säule der Alterssicherung aufgebaut, die auf privater Vorsorge beruht ("Riester-Rente", "Rürup-Rente", Eigentum, Pensionsfonds, Lebensversicherungen). Die große Mehrheit der Expertinnen und Experten geht davon aus, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch die schrittweise Anhebung des Renteneinstiegs vom 65. auf (vorläufig) das 67. Lebensjahr erforderlich ist. Sonst sind die Probleme der Alterssicherung nicht zu lösen, zumal es absehbar ist, dass die umfangreiche "Babyboom-Generation" demnächst in den Ruhestand gehen wird. Manche Ökonomen argumentieren, dass auch eine gleichmäßigere Verteilung der Gewinne aus dem Wirtschaftswachstum einen Beitrag zur Lösung der Rentenprobleme leisten kann.

Wanderungen


Wanderungen sind in Deutschland ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der Bevölkerungsentwicklung; sie beeinflussen maßgeblich die Einwohnerzahl und wichtige Aspekte der Sozialstruktur wie etwa die Alters-, Geschlechts- und Schichtstrukturen. Die Migration innerhalb Deutschlands ist in ihrem Ausmaß und in ihrer Größenordnung nahezu einzigartig unter den Industriegesellschaften. Die Bundesrepublik hätte ohne Vertriebene, Flüchtlinge und Übersiedler im Jahr 1989 nur etwa 41 statt 62 Millionen Einwohner gezählt, und in der DDR hätten ohne Ost-West-Wanderungen 1987 etwa 20 statt lediglich 16,6 Millionen Menschen gelebt. Während der Geburtenrückgang und die Alterung der Bevölkerung in beiden deutschen Gesellschaften – trotz aller Unterschiede – ähnlich verlief, vollzogen sich in der Bundesrepublik und in der DDR völlig gegensätzliche Wanderungsprozesse mit sehr unterschiedlichen Folgen für das Bevölkerungswachstum und für die damit zusammenhängenden sozioökonomischen und auch politischen Entwicklungen.

Die Bundesrepublik zählt seit ihrer Gründung zu den wichtigsten Einwanderungsländern der Welt. Hier lösten Einwanderungen ein starkes Bevölkerungswachstum aus und stimulierten die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. In der DDR dagegen verursachten Abwanderungen ein Schrumpfen der Bevölkerung und waren eine der Ursachen für wirtschaftliche, soziale und politische Krisen. Der Auswanderungsdruck und die Massenflucht am Ende der 1980er-Jahre waren schließlich ein wichtiger Grund für den Zusammenbruch der DDR.

In Deutschland lassen sich nach dem Zweiten Weltkrieg fünf bedeutende, sich teilweise überlagernde Wanderungsströme unterscheiden. So kamen

  • über 12 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aus dem ehemaligen deutschen Osten, davon zogen etwa 8 Millionen in die Bundesrepublik und circa 4 Millionen in die DDR (1944-1950);

  • bis zur Wiedervereinigung 4,6 Millionen Flüchtlinge und Übersiedler aus der Sowjetischen Besatzungszone / DDR in die Bundesrepublik (1945-1990);

  • Arbeitsmigranten, vor allem aus der Türkei, aus (Ex-)Jugoslawien, Italien, Griechenland, Spanien und Portugal (insbesondere 1961-1973 sowie seit 1987); 2011 lebten 6 Millionen von ihnen – einschließlich ihrer Familienangehörigen – in Deutschland, davon 2 Millionen mit deutschem Pass;

  • seit 1950 4,5 Millionen deutschstämmige (Spät-)Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa, davon allein etwa 2,5 Millionen zwischen 1990 und 2004; von ihnen leben 2011 noch 3,2 Millionen mit einer weiteren Million hier geborener Nachkommen in Deutschland;

  • seit der Krise und dem Zusammenbruch der DDR 2,6 Millionen Übersiedler aus Ostdeutschland nach Westdeutschland (1989–2011); diesen stehen etwa 1,6 Millionen Umzüge von Westdeutschland in die neuen Bundesländer gegenüber.

Vertriebene und Flüchtlinge


In der Folge des Zweiten Weltkrieges wurden über 14 Millionen Deutsche durch Flucht und Vertreibung gezwungen, Ostmitteleuropa zu verlassen. Die größten Gruppen stellten neben den Schlesiern mit knapp 3,2 Millionen die Sudetendeutschen mit 2,9 Millionen und die Ostpreußen mit 1,9 Millionen. Bis 1950 waren etwa 8 Millionen in die Bundesrepublik gezogen und knapp 4 Millionen in die DDR, wo sie schönfärberisch als "Umsiedler" bezeichnet wurden. Etwa 1,7 Millionen Menschen überlebten Flucht und Vertreibung nicht.

Die erzwungene Ost-West-Wanderung war von herausragender Bedeutung für die ost- wie westdeutsche Nachkriegsentwicklung. Einerseits stellte die Integration der Flüchtlinge in die sich gerade erst etablierenden beiden neuen deutschen Gesellschaften eine große Herausforderung und Belastung dar. Nach anfänglichen erheblichen Integrationsproblemen – 1950 war zum Beispiel jeder dritte Arbeitslose in der Bundesrepublik ein Vertriebener – gelang in Westdeutschland die rasche wirtschaftliche und gesellschaftliche Eingliederung. Sie war bereits Anfang der 1960er-Jahre vollzogen und wird häufig als "Nachkriegswunder" bezeichnet.

Die Zuwanderer waren für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Bundesrepublik von erheblicher Bedeutung, und ihr Arbeitskräftepotenzial wurde zu einem "strukturellen Wachstumsfaktor" für die westdeutsche Wirtschaft. Wegen ihres Flüchtlingsstatus und weil sie ihr Vermögen verloren hatten, waren die Vertriebenen besonders motiviert und aufstiegsorientiert. Die Aufnahme der Flüchtlinge leitete überdies einen neuen religionsgeschichtlichen Abschnitt ein: Die bis dahin charakteristischen Regionen mit konfessionell homogenen Milieus wurden aufgebrochen und verwandelten sich in Mischzonen.

Deutschstämmige Einwanderer aus Ost- und Südosteuropa werden seit 1950 nicht mehr als "Flüchtlinge" oder "Vertriebene" registriert, sondern wurden zunächst "Aussiedler" und seit 1993 "Spätaussiedler" genannt. Heute zählen sie statistisch zu den "Deutschen mit Migrationshintergrund".

Deutsch-deutsche Flüchtlinge und Übersiedler


Seit der Gründung der beiden deutschen Teilstaaten war ihre Bevölkerungsgeschichte durch deutsch-deutsche Migrationen gekennzeichnet. Von Ost nach West stellten sich umfangreiche Fluchtbewegungen ein. Die Bevölkerungszahl der DDR sank zwischen 1947 und 1961 kontinuierlich – insbesondere deshalb, weil der von der sowjetischen Besatzungsmacht erzwungene und von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vollzogene Umbau von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft viele Menschen veranlasste, der DDR den Rücken zu kehren. Die Zwangskollektivierung der Bauern im Jahr 1960 und andere Sozialisierungs- und Kollektivierungsmaßnahmen sowie die sich ankündigende Absperrung der Grenze ließen die Flüchtlingszahlen noch einmal dramatisch ansteigen.

Zwang und Benachteiligungen durch die Umwälzungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Mangel an Freiheit und Demokratie, aber auch das zunehmende West-Ost-Wohlstandsgefälle waren die wichtigsten Motive für die Massenabwanderung aus der DDR. Unter den Übersiedlern waren auch circa 700.000 Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten; ihnen wurden nach 1950 in der DDR keine staatlichen Integrationshilfen mehr gewährt. Die Gesamtzahl aller, die von 1945 bis 1990 die Sowjetische Besatzungszone oder DDR verließen, beläuft sich auf 4,6 Millionen Personen.

Die deutsch-deutsche Grenze wurde nicht nur von Ost nach West, sondern auch umgekehrt von West nach Ost überquert. Zwischen 1950 und 1961 zogen circa 400.000 Bundesbürger in die DDR, eine vergleichsweise niedrige, aber gleichwohl beachtenswerte Zahl. Ein Teil dieser Menschen waren DDR-Flüchtlinge, die der Bundesrepublik wieder den Rücken kehrten.

Die Massenwanderungen wirkten sich in den beiden Gesellschaften sehr unterschiedlich aus. Die Wirtschaft der DDR geriet durch die anhaltende Flucht von hoch qualifizierten Arbeitskräften mit Hoch- und Fachschulabschluss sowie vieler Unternehmer, Handwerker, Facharbeiter und Bauern zunehmend in Schwierigkeiten. Zwar wurde die DDR dadurch von systemkritischem Potenzial teilweise entlastet. Unter dem Strich erwies sich jedoch der ständige Verlust von qualifizierten Arbeitskräften als eine einschneidende wirtschaftliche Belastung. 1957 wurde daher die Auswanderung als "Republikflucht" kriminalisiert, und im August 1961 stoppte die SED-Führung die Auswanderung gewaltsam durch den Bau der Berliner Mauer und die Abriegelung der innerdeutschen Grenze.

Die Bundesrepublik profitierte erheblich von der Zuwanderung. Die häufig hohen Qualifikationen der Flüchtlinge und Übersiedler wurden auf dem Arbeitsmarkt für den wirtschaftlichen Aufschwung benötigt. Da die Zuwanderer aus der DDR meist auch sehr leistungsorientiert und einsatzfreudig waren, brachte ihre wirtschaftliche Integration keine ernsthaften Probleme mit sich. Allerdings waren ihre schulischen und beruflichen Chancen nicht so gut wie die der einheimischen Bevölkerung.

Deutsch-deutsche Binnenwanderung

Die Krise und der Zusammenbruch der DDR lösten die letzte große Auswanderungswelle von Ost- nach Westdeutschland aus, und im vereinten Deutschland setzte sich dann infolge des Wohlstandsgefälles der Zug gen Westen als Binnenwanderung fort. 1989, im Jahr der Grenzöffnung, schnellte die Zahl der Übersiedler auf 388.000 hoch, und 1990 zogen sogar 395.000 Menschen in die alten Bundesländer um. Gleichzeitig setzt allmählich eine Gegenbewegung von West nach Ost ein; neben Rückkehrern suchen auch immer mehr Westdeutsche ihre Chance in den neuen Bundesländern – darunter neben Selbstständigen vor allem leitendes Personal in verschiedenen Dienstleistungssektoren (z. B. Verwaltung, Justiz, Universitäten) und Industrie. Nach der Jahrtausendwende ging die Zahl der Zuwanderer aus Ostdeutschland kontinuierlich von 177.000 im Jahr 2002 auf 105.000 im Jahr 2012 zurück. Die Zahl der West-Ost-Wanderer schwankte in diesem Zeitraum um die 90.000.

Von 1990 bis 2011 sind per Saldo mehr als 1,7 Millionen Menschen von Ost- nach Westdeutschland abgewandert. Obwohl das Wanderungsdefizit der neuen Länder in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist und 2012 nur noch 15.000 Personen umfasst, ist ein Ende der angespannten demografischen Situation in Ostdeutschland nicht in Sicht. Die ländlichen Regionen, allen voran in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, verzeichnen weiterhin große Wanderungsverluste. Durch die Abwanderung junger und gut qualifizierter Frauen haben sich bereits in vielen ostdeutschen Landkreisen sogenannte disproportionale Geschlechterverhältnisse entwickelt: Gegenwärtig stehen 100 jungen 18- bis 24-jährigen Männern weniger als 80 Frauen gleichen Alters gegenüber. Mit den unausgewogenen Partnerschafts- und Heiratsmärkten verbindet sich das Problem, dass sich die Chancen auf Familienbildung erheblich verringern. Die Prozesse der Alterung und Bevölkerungsschrumpfung werden sich in den neuen Ländern noch rascher fortsetzen als im Westen. Der Demografiebericht 2011 der Bundesregierung geht davon aus, dass in den neuen Ländern 2060 ein Drittel weniger Menschen leben wird als heute (in Westdeutschland nur 18 Prozent weniger).
Die Einwanderer aus dem Ausland – (Spät-)Aussiedler, Arbeitsmigranten und Flüchtlinge – werden im Kapitel über Migration und Integration behandelt.

Perspektiven


Aussagen über künftige Entwicklungen sind eine Rechnung mit vielen Unbekannten und lassen sich nur mit großer Vorsicht formulieren. Gleichwohl sind mehrere langfristige Trends erkennbar:

  • Bevölkerungsrückgang: Selbst wenn in Zukunft jährlich 200.000 Migrantinnen und Migranten nach Deutschland zuwandern werden – ein realistischer Wert, der in vielen Szenarien zugrunde gelegt wird –, wird die Bevölkerung von derzeit 80 Millionen bis 2060 auf 65 bis 70 Millionen Einwohner zurückgehen. Die neuen Bundesländer – insbesondere ihre peripheren ländlichen Regionen – werden davon besonders stark betroffen sein.

  • Alterung: Die Bevölkerung wird älter werden, der Anteil von Hochbetagten und Pflegebedürftigen wird sich deutlich erhöhen. Da gleichzeitig der Anteil der kinderlosen Lebensformen zugenommen hat, werden immer mehr Menschen im höheren Lebensalter nicht über ausreichende familiäre Unterstützung verfügen und auf gesellschaftliche Hilfe angewiesen sein.

  • Einwanderungen: Da das Arbeitskräftepotenzial schrumpft und altert, gehen Expertinnen und Experten von einem Bedarf an weiteren Einwanderern aus, der nicht nur ökonomisch, sondern auch demografisch bedingt ist (System der sozialen Sicherung). Er liegt nach den meisten Schätzungen in den nächsten Jahren bei mindestens 100.000 Personen pro Jahr und in den kommenden Jahrzehnten (ab 2020) bei etwa 200.000 pro Jahr.

Prof. em. Dr. Rainer Geißler ist Soziologe an der Fakultät I – Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit; Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung; Migration und Integration; die Gesellschaft Kanadas; Soziologie der Massenkommunikation sowie Soziologie des abweichenden Verhaltens.
Seine Anschrift lautet: Universität Siegen / Fakultät I / Adolf-Reichwein-Straße 2 / 57068 Siegen / E-Mail: E-Mail Link: geissler@soziologie.uni-siegen.de