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Editorial | Polen | bpb.de

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Editorial

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Patrick Pilarek

Die Grenze zwischen Polen und Deutschland misst 456 Kilometer; über 206 Kilometer verläuft die Grenzlinie zu der russischen Exklave Kaliningrad. Die Frage, ob diese Grenzen trennen oder verbinden, wurde in vielen politischen Kontexten und historischen Situationen unterschiedlich beantwortet. Seine geographische Lage war für Polen eine historische Herausforderung: Im späten 18. Jahrhundert teilten die Großmächte Preußen, Russland und Österreich die Adelsrepublik Polen unter sich auf, 1939 zerrieben die Armeen des nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion die Zweite Polnische Republik und ermordeten ihre Führungsschicht, anschließend machten die NS-Besatzer das Land zum Schauplatz der Shoah, der industriellen Vernichtung der Juden. Die Neuordnung des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg brachte weiteres Leid hervor: Die Westverschiebung Polens durch die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz

Jutta Klaeren

bedeutete Flucht oder Zwangsumsiedlung für Millionen Deutsche, aber auch für über eine Million Polen aus den der Sowjetunion zugeschlagenen Gebieten. Der Kalte Krieg schließlich fror die politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen weitgehend ein. Obwohl die DDR bereits im Görlitzer Vertrag von 1950 die polnische Westgrenze anerkannt hatte, blieb das Verhältnis zueinander kühl.

Die Prägung der polnischen Gesellschaft durch die geopolitische Lage des Landes liefert den Schlüssel zum Verständnis seiner außenpolitischen Sicherheitsorientierung und des leidenschaftlichen innenpolitischen Streits über historische Themen. Die 1999 erfolgte Aufnahme in die NATO und die militärische Kooperation mit den USA sind konkrete Resultate einer auf Sicherheit fokussierten Außenpolitik.

Für die polnische Nationalgeschichte spielt auch die katholische Kirche eine gewichtige Rolle. In den Zeiten der Teilung war sie zentral für das nationale Identitätsgefühl; während der NS-Besatzung gehörten katholische Geistliche zu den ersten Opfern des Terrors, und neben der Solidarnosc-Bewegung war die Kirche mit ihrem polnischen Papst der Kristallisationspunkt der Opposition gegen die Alleinherrschaft der regierenden Arbeiterpartei. Ihre Rolle im pluralistischen Polen muss sie neu definieren: Die wachsende Säkularisierung lässt den gesellschaftlichen Einfluss des Klerus schrumpfen.

Die Lebens- und Konsumgewohnheiten der Polen haben sich dem europäischen Durchschnitt angenähert. Polens Volkswirtschaft hat sich zur stärksten unter den ehemals sozialistischen Ökonomien entwickelt und der globalen Finanzkrise der vergangenen Jahre als einzige in Europa getrotzt. Seit Mai 2004 gehört Polen zur EU – die "Rückkehr nach Europa", die 1989/90 als Ziel ausgegeben wurde, ist gelungen. Im Juli 2011 übernimmt Polen zum ersten Mal in seiner Geschichte den Vorsitz im Rat der Europäischen Union.

Nie waren die Beziehungen zu Deutschland so gut wie zurzeit. Sie sind in den vergangenen 20 Jahren wirtschaftlich und kulturell enger geworden, auch wenn historische Themen zu Verstimmungen führen können. Die am 1. Mai 2011 in Kraft getretene Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Polen wird die gesellschaftlichen Verflechtungen weiter intensivieren.

Die Gefühlslage angesichts der 456 Kilometer-Grenze zwischen Polen und Deutschland sowie der 206 Kilometer, die Polen und Russland verbinden (oder trennen), ist unstet. Doch erstmals könnte die Lage zwischen Russland und Deutschland eher als strategische Chance denn als Bedrohung für das Land erscheinen, von dem in den 1980er Jahren entscheidende Impulse zur Veränderung Europas ausgingen. Als wirtschaftlich prosperierender und politisch selbstbewusster Akteur an den Außengrenzen der EU nimmt Polen immer stärker die Rolle einer gestaltenden Regionalmacht wahr.

Patrick Pilarek und Jutta Klaeren