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Polens Rolle in der internationalen Politik | Polen | bpb.de

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Polens Rolle in der internationalen Politik

Kai-Olaf Lang

/ 23 Minuten zu lesen

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy in Brüssel am 12. September 2011. (© AP)

Einleitung

Gestalterisch oder defensiv, konstruktiv oder trotzig? Es scheint noch nicht ganz klar zu sein, welches dieser Verhaltensmuster Polens Außenpolitik dominiert. Denn das demokratische Polen zeigte sich nach 1989 sowohl als Schwungrad der internationalen und europäischen Politik als auch als hartgesottener Verfechter nationaler Interessen. Während die Teilnahme an zahlreichen Stabilisierungsmissionen auf der ganzen Welt und Warschaus Engagement zugunsten der Ukraine und anderer osteuropäischer Staaten wichtige Beispiele für eine aktive Außenpolitik sind, zeigten mehrfach vorgetragene Veto-Drohungen in der EU, dass Polen bei zentralen außen- oder europapolitischen Fragen entschlossen seinen Weg geht – und auch bereit ist, dafür ernsthafte Verstimmungen mit seinen Partnern in Kauf zu nehmen. Ungeachtet des jeweiligen Kurses steht fest: Polen gehört zu den außenpolitischen Schlüsselakteuren in Europa. Und seit der Mitgliedschaft in NATO und EU hat es nachdrücklich einen außenpolitischen Mitführungs- und Gestaltungsanspruch für den Kontinent und im transatlantischen Verbund angemeldet.

Die "Rückkehr nach Europa", also die Herauslösung aus dem sowjetischen oder postsowjetischen Herrschaftsbereich und die Eingliederung in die politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Westens, war das Leitmotiv der außenpolitischen Neuorientierung Polens nach der großen Wende des Jahres 1989. Doch wie dieser Prozess konkret verlaufen sollte blieb zunächst ungewiss, denn das Ende der bipolaren Weltordnung warf zahlreiche außenpolitische Ungewissheiten auf. Die von Premierminister Tadeusz Mazowiecki geführte erste nicht-kommunistische Regierung Polens musste bei der Formulierung ihrer Außenpolitik nicht nur äußere Unwägbarkeiten, sondern auch verschiedene interne Restriktionen berücksichtigen: den rasanten innenpolitischen Wandel, teils widerstreitende Vorstellungen über die Ziele der Außen- und Sicherheitspolitik und die Schwierigkeiten der sozial-ökonomischen Transformation. Der Außenminister der Regierung Mazowiecki, Krzysztof Skubiszewski, erklärte Ende September 1989 in seiner ersten Rede vor internationalem Publikum, was in Anbetracht der besonderen strategischen Lage Polens zunächst im Zentrum der neuen Außenpolitik stehen würde: die Schaffung "äußerer Souveränität und innerer Unabhängigkeit."

Der Weg in EU und NATO

Polens demokratische Regierungen agierten daher zunächst umsichtig. Sie artikulierten ihre außen- und westpolitischen Zielvorstellungen klar, aber besonnen; sie hüteten sich davor, Moskau zu erbosen und gegenüber dem Westen als Faktor der Destabilisierung zu erscheinen. In der Sache konzentrierte sich Warschau zu Beginn der 1990er Jahre einerseits darauf, die bilateralen Beziehungen zu den Nachbarn (Polen hatte vor 1989 drei Nachbarländer, innerhalb kürzester Zeit wurden daraus sieben neue Staaten) auf neue vertragliche Grundlagen zu stellen. Neben dem deutsch-polnischen Verhältnis hatten dabei die Beziehungen zur Sowjetunion bzw. zu Russland Vorrang. Besonders wichtig war für Polen der im September 1993 abgeschlossene Abzug sowjetischer/russischer Truppen – da deren Anwesenheit die limitierte Souveränität Polens versinnbildlichte. Neben den Beziehungen zu den Nachbarn ging es Polen um die Einbindung in das wirtschaftliche und sicherheitspolitische Gefüge des Westens.

Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und der Putsch-versuch gegen Russlands Präsidenten Jelzin im August 1991 beschleunigten in Polen die Hinwendung zur NATO. Dem polnischen Drängen standen große Vorbehalte aus den Reihen der NATO-Mitglieder gegenüber, da diese eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland fürchteten. Gerade in Washington wollte man die "Friedensdividende" nach dem Ende des Kalten Krieges nicht durch Zerwürfnisse mit Moskau aufs Spiel setzen. Neuer Zwist mit Russland, so die Überlegung, wäre mit einem Rückfall in alte Konfliktmuster verbunden und würde dadurch die Rolle der Vereinigten Staaten beim Aufbau einer neuen globalen Ordnung erschweren.

Ein Stimmungswandel in den USA unter der Clinton-Administration und das entschlossene Plädoyer Deutschlands stießen für Polen das Tor zur NATO auf. Nicht zuletzt in den USA obsiegte das stabilitäts- und sicherheitspolitische Argument, demzufolge die Ausdehnung der Allianz die jungen Demokratien im östlichen Europa stärken und die Gefahr eines Sicherheitsvakuums bannen würde. Die "neue NATO" sollte "alten Hass überwinden, Integration voranbringen, ein sicheres Umfeld für Wohlstand schaffen und Gewaltanwendung behindern", so US-Außenministerin Madeleine Albright. Die Anfang 1994 gegründete "Partnerschaft für den Frieden", der die NATO-Staaten und zahlreiche osteuropäische und asiatische Länder angehören, war für Polen ein erster Schritt in Richtung Mitgliedschaft. Die NATO-Länder einigten sich dann formell auf einem im Juli 1997 abgehaltenen Gipfeltreffen in Madrid darauf, Polen zusammen mit Tschechien und Ungarn im März 1999 in das Bündnis aufzunehmen.

Die Eingliederung in die NATO bietet für Polen die Gewähr, nicht in russische Einflusszonen hineingezogen zu werden, in den Genuss der Sicherheitsgarantien der Bündnispartner zu kommen und dadurch auch unter den militärischen und nuklearen Schutzschirm der USA zu gelangen. Die zweite Säule der polnischen Westbindung, die Europäische Gemeinschaft (EG) bzw. die EU, war für Polen demgegenüber vornehmlich ein Kooperationsverbund, durch den eine sozialökonomische Entwicklungslücke geschlossen werden sollte.

Wie im Fall der NATO bestanden auch in der EG/EU lange Aversionen gegenüber der Aufnahme neuer Mitglieder. Furcht vor Machtverlust, Angst vor Entscheidungsstillstand und Abneigung gegenüber den Kosten waren wichtige Ursachen für diese Zurückhaltung. Doch auch hier betrat Polen einen Pfad, der zum Beitritt führen sollte. Ein frühzeitig eingeschlagener Pflock war das bilaterale Europaabkommen vom 16. Dezember 1991, durch das Polen mit den Europäischen Gemeinschaften assoziiert und der gegenseitige Handel sukzessive liberalisiert wurde. Vor allem aber enthielt der Vertrag ein gemeinsames Bekenntnis zur späteren Mitgliedschaft Polens in den Gemeinschaften – die auch im Interesse Deutschlands lag, das angesichts seiner Randlage in der EG die Ausdehnung der europäischen Stabilitäts- und Prosperitätszone nach Osten anstrebte.

Die Staats- und Regierungschefs der EU stellten im Juni 1993 die Weichen: Bei Erfüllung bestimmter politischer und wirtschaftlicher Kriterien sollten die Länder aus Ostmittel- und Südosteuropa Mitglied der EU werden können. Im Herbst 1998 begann die EU konkrete Beitrittsverhandlungen. Polen durchlief ein umfassendes Anpassungsprogramm, bei dem es darum ging, das polnische Rechtssystem mit dem rechtlichen Besitzstand der EU zu harmonisieren und die Ökonomie Polens marktwirtschaftlich zu erneuern. Dabei prallten beachtliche Interessengegensätze aufeinander, die z. B. die Finanzierung der Erweiterung betrafen: Polen drängte darauf, seine Landwirte von Anfang an voll in das System der Gemeinsamen Agrarpolitik einzubeziehen, musste sich aber mit einer schrittweisen Integration zufrieden geben. Vor allem auf Betreiben Deutschlands und Österreichs wurde eine siebenjährige Übergangsperiode für die Öffnung des Arbeitsmarktes für Arbeitsuchende aus Polen und anderen neuen Mitgliedsländern festgeschrieben.

Auf einem im Dezember 2002 abgehaltenen Treffen des Europäischen Rates in Kopenhagen wurden die letzten strittigen Fragen beigelegt. Polen konnte der EU am 1. Mai 2004 beitreten. Die letzte Hürde auf diesem Weg war die Ratifizierung des Beitrittsvertrags, die in Polen per Referendum ermöglicht werden musste. Bei einer Wahlbeteiligung von 58,8 Prozent sprachen sich 77,4 Prozent für Polens Beitritt aus. Dieses eindeutige Votum war auch eine politische und kulturelle Richtungsentscheidung, mit der der polnische Souverän die Integrationsbemühungen seiner Regierungen eindrucksvoll legitimierte.

Polen in der EU: Bremser oder Schrittmacher?

Der Beitritt zur Europäischen Union markierte für Polen die Vollendung seiner außenpolitischen "Rückkehr" in den Westen. Doch mit der Mitgliedschaft ergaben sich neue Herausforderungen: Jetzt musste sich das Land als europapolitischer Akteur neu aufstellen – was nicht ganz einfach war, da sich der parteiübergreifende Konsens in Sachen Mitgliedschaft nach Erlangung dieses Ziels aufzulösen schien. Gleichzeitig befand sich die EU in einem Prozess "nachholender" institutioneller Reform: Ein quasi-konstitutionelles Dokument, der sogenannte Verfassungsvertrag für Europa, sollte die Handlungsfähigkeit der größeren EU sichern. Ein Kernelement dieser Konstruktion war die Einführung schlankerer Abstimmungsmechanismen, insbesondere der sogenannten doppelten Mehrheit bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat. Diese sah zunächst vor, dass ein Beschluss dann gefasst ist, wenn mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten zustimmt und diese Ländergruppe mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in der EU repräsentiert. Gegen dieses Ansinnen leistete Polen lange Widerstand, weil es sich ein "Kontrollpaket" sichern wollte, das ihm insbesondere Schutz vor den "Schwergewichten" in der EU sichern würde, die durch die doppelte Mehrheit begünstigt würden.

Polen hatte deswegen auf einem EU-Gipfel vom Dezember 2003 (formal noch als Nicht-Mitglied, das aber wie alle Kandidatenländer vorab in den Reformprozess einbezogen wurde) sein "Nein" zur doppelten Mehrheit formuliert (unterstützt von Spanien). Zwar ermöglichte die polnische Regierung nach wachsendem Druck aus der EU im Juni 2004 einen Kompromiss (mit modifizierten Entscheidungswerten: 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten müssen), doch nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden versuchte Polen (nun geführt von den europakritischen Zwillingen Lech und Jaroslaw Kaczynski), in den Verhandlungen zur Rettung des Abkommens abermals Änderungen durchzusetzen. Nach zähem Ringen, bei dem Premier Jaroslaw Kaczynski die Berücksichtigung von sechs Millionen polnischen Kriegsopfern bei der Stimmengewichtung forderte, lenkte Warschau bei einem entscheidenden EU-Gipfel am 21. und 22. Juni 2007 ein.

Im Gegenzug konnte Polen die spätere Einführung der doppelten Mehrheit (ab 2014) und einen Abbremsmechanismus in Streitfällen (die "Ioannina-Formel") erwirken. Außerdem bekam Polen ein "Opt-out" bei der Grundrechtecharta, das heißt, diese ist in Polen de facto nicht anwendbar. Hintergrund waren polnische Befürchtungen, die Charta könne etwa dem Europäischen Gerichtshof die Kompetenz geben, gleichgeschlechtliche Ehen im polnischen Recht zu verankern, was die damalige Regierung verhindern wollte.

Trotz einer ambivalenten Haltung des Staatspräsidenten und der von ihm gegründeten Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ratifizierte Präsident Lech Kaczynski im Oktober 2009 das jetzt Lissabon-Vertrag genannte Dokument. Mit seiner Unterschrift entsprach das Staatsoberhaupt der vorherrschenden Stimmung im Land. Als Polens Parlament im Frühjahr 2008 dem Vertrag zugestimmt hatte, sah mehr als die Hälfte der Befragten den Präsidenten in der Pflicht, nun grünes Licht zu geben, nur weniger als ein Zehntel hingegen hätte es lieber gesehen, wenn Lech Kaczynski seine Paraphe verweigert hätte. Dies entsprach der seit Jahren insgesamt EU-freundlichen Haltung der polnischen Bevölkerung.

Das entschlossene Auftreten bei der Reform der EU-Institutionen, aber auch die unmissverständlichen Positionen in der Russlandpolitik oder die sicherheitspolitische Anlehnung an die USA brachten Polen bald das Image eines sperrigen Partners ein. Dieses verdichtete sich während der Regierungszeit der PiS, als Polen seine Europapolitik aus einer Position des Misstrauens gegenüber wichtigen Partnern wie Deutschland, aber auch gegenüber Brüssel führte.

Außenpolitik der Regierung Tusk

Der Regierungswechsel vom Herbst 2007 brachte spürbare Änderungen. Während Polen sich im Verlauf der Kaczynski-Ära zunehmend ins Abseits manövriert hatte, stellte die neu ins Amt gewählte Regierung von Donald Tusk einen proeuropäischen Schwenk in Aussicht. Und tatsächlich betreibt Polen seither eine Europapolitik, die auf der Revitalisierung der Beziehungen zu Berlin und Paris und dem Ausbau guter Kooperationsbeziehungen mit kleineren Mitgliedstaaten (etwa aus Ostmitteleuropa und speziell mit den Ländern der "Visegrád-Gruppe", also mit der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn) beruht. Dieser Stil darf nicht mit Nachgiebigkeit verwechselt werden – auch die "europafreundliche" Regierung Tusk hat konsequent polnische Interessen verfolgt: durch die Lancierung außenpolitischer Initiativen wie der "Östlichen Partnerschaft" (s.u.), aber auch durch neue "Blockadeallianzen", etwa eine Koalition neuer Mitgliedstaaten, die sich Ende 2008 formierte und eine für sie günstigere Lastenteilung in der europäischen Klimapolitik durchsetzen konnte.

Donald Tusk und auch der im Juli 2010 gewählte Staatspräsident Bronislaw Komorowski wollen Polen im Zentrum des europäischen Integrationsgeschehens verankern und sein Gewicht durch eine starke EU aufwerten. Im Gegensatz zur souveränitätsbedachten PiS hat die PO prinzipiell kein Problem mit dem Pooling (= Zusammenlegung) von nationalen Hoheitsrechten im europäischen Verbund.

Das übergeordnete europapolitische Ziel aller polnischen Regierungen in den nächsten Jahren wird es sein, Polen in eine starke Position in einer politisch-institutionell und wirtschaftlich stabilen EU zu bringen. Polen möchte weder eine verflachende Integration, in der der Gedanke der Solidarität geschwächt würde, noch ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, in welchem es Gefahr liefe, an einer innereuropäischen Peripherie zu landen. Die Ende 2007 erlangte Mitgliedschaft in der Schengenzone hatte daher neben den praktischen Vorteilen, etwa dem Wegfall der Personenkontrollen beim Grenzübertritt, auch eine politische Bedeutung.

Einen noch höheren integrationspolitischen Stellenwert wird der Beitritt zur Eurogruppe haben, da in Polen befürchtet wird, diese könne sich zu einem neuen Kern der größeren EU entwickeln. Allerdings sind nach globaler Finanzkrise und immer neuen Erschütterungen der Eurozone Polens diesbezügliche Pläne vorsichtiger geworden. Die Regierung Tusk hatte noch im Herbst 2008 das ambitionierte Ziel verkündet, die Gemeinschaftswährung Anfang 2011 einzuführen. Es zeigte sich jedoch bald, dass dieses Datum aufgrund der währungspolitischen Turbulenzen nicht einzuhalten sein würde. Auf der Grundlage eines soliden wirtschaftlichen Wachstums verkündeten Regierungsvertreter mit beachtlichem Selbstbewusstsein, Polen habe es gegenwärtig nicht eilig, den Euro einzuführen. Allerdings betonte man, dass die Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft in der Währungsunion – einschließlich des Erreichens der Stabilitätsziele – weiterhin ein Regierungsziel sei. Überdies schloss sich Polen dem von Deutschland mitinitiierten "Euro-Plus-Pakt" an, einem im Frühjahr 2011 beschlossenen Programm zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, das sich prinzipiell an die Euro-Länder richtete, dem aber auch andere EU-Mitgliedstaaten beitreten können.

Polens östliche Nachbarn und Russland

Einen Schwerpunkt der Außenpolitik Polens bildet das Beziehungsgefüge zu Russland und den anderen Staaten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion. In diesem Zusammenhang kommt den Beziehungen zur Ukraine besondere Relevanz zu. Sie wird als Eckstein der strategischen und geopolitischen Ordnung in Osteuropa und im gesamten ex-sowjetischen Bereich gesehen.

Insbesondere nach dem Beitritt zu EU und NATO profilierte sich Polen als Fürsprecher der Ukraine. Polen trat und tritt dafür ein, der Ukraine – wie auch anderen Staaten aus Osteuropa oder dem Südkaukasus – die Türen zum europäischen Integrationsverbund und zum Nordatlantikpakt offen zu halten. Polen gehört zu den erweiterungsfreundlichsten Ländern in der EU; dies wurde auch gegenüber dem Beitrittskandidaten Türkei signalisiert. Polens Engagement in Sachen Ukraine erlebte einen Kulminationspunkt während der "Orangen Revolution" Ende 2004 in der Ukraine. Der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski spielte damals als Vermittler zwischen dem prowestlichen, "orangefarbenen" Lager und den eher russlandfreundlichen "blauen" Kräften eine zentrale Rolle und trug wohl entscheidend dazu bei, dass in Kiew ein friedlicher Machtwechsel vollzogen werden konnte.

Polen ließ in seinem Einsatz für die Ukraine und andere Staaten in der Region auch in der Folgezeit nicht nach. In der Europäischen Union und deren Außenpolitik sieht Polen ein effizientes Instrumentarium, um seine ostpolitischen Interessen umzusetzen. Als Unionsmitglied begrüßte Polen den Start der 2004 angeschobenen "Europäischen Nachbarschaftspolitik" (ENP), also eines neuen Kooperationsrahmens zur Verbesserung des wirtschaftlichen und politischen Austauschs zwischen der EU und ihren direkten Nachbarn. Allerdings wollte Warschau von Anfang an mehr: Ländern wie der Ukraine sollte auch eine Beitrittsanwartschaft gegeben werden. Nachdem Frankreich 2007/08 die Gründung der Mittelmeerunion, also eines spezifischen regionalen Kooperationsforums für die mediterranen Nachbarn der EU, durchgesetzt hatte, lancierte Polen – zusammen mit Schweden – in Gestalt der "Östlichen Partnerschaft" ein Pendant für die östliche Dimension der EU. Das im Frühjahr 2009 offiziell eröffnete Programm sieht eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn unter dem Dach der ENP vor: Drei osteuropäische und drei Südkaukasusländer erhalten die Möglichkeit, sich multilateral mit der EU zu Themen wie Demokratie, Wirtschaft, Energie und Zivilgesellschaft zu vernetzen. Gleichzeitig sollen die bilateralen Beziehungen dieser Länder zur EU durch neue Assoziierungsabkommen ausgebaut werden.

Warschau nährte durch Initiativen wie die Östliche Partnerschaft die Skepsis vieler russischer Beobachter, die in Polen einen Rivalen um Einfluss im postsowjetischen Raum sehen. Doch es sind noch weitere Faktoren, die immer wieder für Verwerfungen zwischen Polen und Russland sorgen: Polen sieht sich in einer Situation energiepolitischer Abhängigkeit von Russland und ist daher bemüht, vor allem bei der Gasversorgung eine Diversifizierungspolitik weg von russischen Einfuhren zu betreiben. Im Fall der "Nord-Stream-Pipeline" durch die Ostsee, die russische Gasvorkommen direkt mit Deutschland verbinden soll, besteht die Befürchtung, dass Polens Bedeutung als Transitraum für russisches Erdgas sinkt und somit die energiepolitische Asymmetrie zunimmt. Polnisch-russische Verstimmungen gab es regelmäßig auch wegen sicherheitspolitischer Probleme. Moskau stand dem polnischen NATO-Beitritt immer ablehnend gegenüber. Nach der Erweiterung der Allianz haben polnische Rufe nach der Stationierung von Bündnistruppen auf eigenem Territorium für Unmut in Russland gesorgt. Negativ steht Moskau auch zum sicherheitspolitischen Sonderverhältnis Polens zu den USA, wie es sich etwa in Plänen zur Installation von Elementen der US-Raketenabwehr niederschlug. Russlands teils scharfe Reaktionen gegen die mögliche Anwesenheit westlicher Militär-Hardware und Soldaten haben Polens Sorgen und den Wunsch nach militärischer Kooperation mit den USA immer wieder verstärkt.

Verkompliziert wurden und werden die polnisch-russischen Beziehungen überdies durch historische Fragen. Polen verlangte klare Worte Moskaus zum Ribbentrop-Molotow-Pakt (der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffspakt von 1939, auch als "Hitler-Stalin-Pakt" bezeichnet), zum Einmarsch der Roten Armee in den Gebieten Ostpolens am 17. September 1939, zur Erschießung von tausenden polnischen Offizieren in Katyn und an anderen Orten im Frühjahr 1940 oder zur Rolle sowjetischer Truppen während der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im August 1944. Dieser Aufstand der polnischen "Heimatarmee" wurde von den deutschen Besatzungstruppen durch Massaker an der Zivilbevölkerung und die fast vollständige Zerstörung der Stadt niedergeschlagen – der Roten Armee machten die polnischen Widerstandskämpfer den Vorwurf, den Aufstand nicht unterstützt zu haben, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wäre. Russland sah Polen eher als undankbaren Partner, der unter großen Opfern durch die Sowjetunion befreit wurde, und nicht als Geschädigten Moskauer Politik. Gleichzeitig verwies Moskau auf seiner Auffassung nach vorgefallene polnische Verbrechen wie etwa das Schicksal mehrerer Tausend Rotarmisten, die während des polnisch-sowjetischen Krieges zwischen 1919 und 1921 in polnischer Gefangenschaft ums Leben gekommen waren.

Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft

Polens Mitgliedschaft in der Europäischen Union erwies sich zunächst als zusätzliches Problem in den polnisch-russischen Beziehungen, denn Polen drängte auf eine gemeinsame und konsequente Russlandpolitik. Überdies "europäisierte" Polen teils auch seine bilateralen Probleme mit Russland. Nachdem Moskau ein Embargo gegen Fleischimporte aus Polen verhängt hatte, blockierte Polen im November 2006 die Aufnahme von Verhandlungen der EU über ein neues Grundlagenabkommen mit Russland – die EU und ganz explizit die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 mussten somit Polens Konflikt mit Russland als eigene Angelegenheit betrachten. Russland war angesichts dessen lange daran interessiert, Polen in der EU zu isolieren.

Diese spannungsgeladene Situation hat sich seit 2007 geändert. Polens damals ins Amt gekommene Regierung schrieb sich eine pragmatische Linie in der Russlandpolitik auf ihre Fahnen. Eine bilaterale "Arbeitsgruppe für schwierige Fragen" wurde reaktiviert; sie arbeitet daran, insbesondere bei sensiblen Vergangenheitsthemen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Auch scheint Moskau angesichts des wachsenden Gewichts Polens in der EU nun an einem konstruktiven Dialog gelegen. Anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsausbruchs am 1. September 2009 verurteilte Russlands Premierminister Wladimir Putin in einem offenen "Brief an die Polen" den Ribbentrop-Molotow-Pakt. Polens Premier Tusk und Putin trafen sich am 7. April 2010 in Katyn, um gemeinsam des Massakers von 1940 zu gedenken. Als drei Tage danach das Flugzeug mit dem polnischen Staatspräsident Kaczynski und zahlreichen hochrangigen Vertretern des öffentlichen Lebens auf dem Weg nach Katyn am Flughafen von Smolensk verunglückte, verlieh dies den polnisch-russischen Beziehungen zunächst einen positiven emotionalen Impuls, da die russische Führung, aber auch die russische Öffentlichkeit intensiv am polnischen Leid Anteil nahmen. Auch wenn in zahlreichen Politikfeldern zwischen Polen und Russland nach wie vor erhebliches Konfliktpotenzial besteht, so sind beide Länder offensichtlich bereit, sich auf eine Versachlichung ihrer Beziehungen einzulassen.

NATO und EU: sicherheitspolitische Pfeiler

Polens Außenhandeln ist in vielerlei Hinsicht "versicherheitlicht" – und die Ursachen hierfür sind tief im kollektiven Gedächtnis des Landes verankert. Eingekeilt zwischen Großmächten in Ost und West ergaben sich aus Polens geopolitischer Lage über Jahrhunderte existenzielle Bedrohungen.

Mit der Aufnahme in die NATO und in eine EU, die sich zunehmend auch als Sicherheitsverbund versteht, schien Polens großes Sicherheitsbedürfnis weitgehend befriedigt. Doch der Wandel des globalen Sicherheitsumfelds, die Neuausrichtung des Nordatlantikpakts und die sicherheitspolitische Verortung wichtiger europäischer Partner, die sich phasenweise von den USA zu emanzipieren und an Russland zu orientieren begannen, ließen in Polen Zweifel an der Effizienz der bestehenden Beistandsmechanismen aufkommen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und insbesondere im Gefolge des 11. September 2001 entwickelte sich die NATO weg von einem vorrangig auf Territorialverteidigung angelegten Pakt und hin zu einer Organisation mit globalem Aktionsradius, die ihre Aufgabe nicht zuletzt in Friedenseinsätzen unterschiedlicher Couleur sieht. Polens Dilemma besteht darin, dass es eigentlich die "alte NATO" wollte, aber gezwungen ist, die Transformation hin zur "neuen NATO" zu unterstützen – gerade auch deswegen, weil dieser Umbau den Zielen der USA entspricht.

Polen verfolgt daher einen zweigleisigen Kurs – einerseits engagiert es sich als loyaler Partner in den großen Missionen der NATO. So ist das Land mit einem Kontingent von rund 2600 Soldaten in Afghanistan präsent (diese sollen laut Staatspräsident Komorowski bis Ende 2012 abgezogen werden). Andererseits erwartet Polen hierfür die Wahrung und Stärkung des klassischen Profils der NATO, also ein klares Bekenntnis zu Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der gegenseitigen Beistandspflicht im Verteidigungsfall.

Es bleibt in Polen ein Unbehagen über den Zustand des Bündnisses, da sich keine nennenswerten NATO-Truppen auf polnischem Boden befinden. Mit Blick auf die Evolution der NATO formulierte ein polnischer Außenstaatssekretär, die NATO sei "nicht mehr die Allianz unserer Träume". Polen ist daher auf der Suche nach zusätzlichen Sicherheitsgarantien. Zuvorderst rangiert hierbei das bilaterale Bündnis mit den USA. Schon der Schulterschluss mit Washington während des Golfkrieges 2003 oder die Anschaffung amerikanischer Kampfjets für die polnische Luftwaffe zeigten, dass Polen an einer starken sicherheitspolitischen Verkettung mit den Vereinigten Staaten interessiert ist. Eine neue Qualität sollte Polens Involvierung in das Projekt der US-Raketenabwehr schaffen. Zwar richten sich die amerikanischen Pläne gegen potenzielle Bedrohungen aus dem Nahen Osten, aus polnischer Sicht wäre jedoch die Stationierung von Teilen des Abwehrsystems und somit amerikanischem Militär eine Rückversicherung gegen Risiken auch aus dem Osten. Nachdem die Obama-Administration im September 2009 von der Konzeption der Regierung Bush abgerückt war, pochte Polen weiter auf die Umsetzung der im Sommer 2008 vereinbarten Maßnahmen. Im Frühjahr 2010 wurde in das nordpolnische Moralg (Mohrungen) eine Batterie amerikanischer Boden-Luft-Abwehrraketen vom Typ Patriot verlegt, die dort zu Übungszwecken im Rotationssystem zunächst viermal pro Jahr für einen Monat präsent ist (und ab 2012 dauerhaft stationiert sein soll).

Doch der "instinktive Atlantizismus" in Polens strategischer Kultur wird zunehmend durch die sicherheitspolitische Dimension der EU ergänzt. Polen stand der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) erst reserviert gegenüber, denn man vermutete, mit der Stärkung der ESVP würde das transatlantische Bündnis unterminiert. Diese Zurückhaltung wich jedoch rasch einer aktiven Beteiligung – denn nur auf diesem Weg glaubt man, die Richtung der ESVP mitbestimmen zu können. So brachte sich Polen aktiv in konkrete EU-Missionen (etwa im früheren Jugoslawien, aber auch im Kongo oder im Tschad) ein und ist Führungsnation eines EU-Kampfverbandes (einer Battlegroup, also einer der Formationen, die die Krisenreaktionskräfte der Europäischen Union bilden). Die Evolution des polnischen Standpunkts führte dazu, dass Polen die EU und speziell die ESVP bzw. Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP, Bezeichnung seit dem Lissabon-Vertrag) mittlerweile neben der NATO als zweiten Pfeiler seiner Sicherheit ansieht. Warschau wird bei seinem Plädoyer für eine Festigung der GSVP jedoch immer darauf bedacht sein, dass diese nicht mit der NATO konkurriert.

Deutsch-polnische Beziehungen

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs bedurfte es eines langen Prozesses, bis Deutsche und Polen zu einer brüchigen Normalität fanden. Der NS-Terror in Polen, aber auch Flucht und Vertreibung sowie ein neuer Grenzverlauf waren unter den Bedingungen des Kalten Krieges Hypotheken einer schlimmen Vergangenheit, die nur mühselig abgetragen werden konnten. Wichtige Wegmarken bei der schwierigen Ingangsetzung eines Dialogs waren der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe Polens an ihre deutschen Amtsbrüder aus dem Jahr 1965 und die Unterzeichnung des bilateralen Grundlagenvertrags im Dezember 1970, die von dem legendären Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal des Warschauer Ghettoaufstands begleitet wurde.

Doch erst die Wende des Jahres 1989 brachte eine neue Qualität in die deutsch-polnischen Beziehungen. Wie eng Deutschland und Polen auf einmal aneinander gekettet waren, manifestierte sich in den Herbsttagen 1989. Als sich im November dieses Jahres Bundeskanzler Helmut Kohl für eine mehrtägige Reise in Polen aufhielt, fiel die Berliner Mauer. Der Kanzler unterbrach seinen Besuch kurzfristig, kehrte aber umgehend nach Polen zurück und nahm mit seinem Gegenüber Tadeusz Mazowiecki an einer im Zeichen der Aussöhnung stehenden Messe im niederschlesischen Kreisau teil. Das sich zur Vereinigung aufmachende Deutschland stand plötzlich im Verbund mit dem freien und demokratischen Polen, dem Wegbereiter des Systemwechsels in Ostmitteleuropa.

Natürlich musste in der Situation dynamischen Wandels, in Anbetracht fortbestehender Meinungsverschiedenheiten und aufgrund historisch begründeter Ängste vieler Polen vor Deutschland, das deutsch-polnische Verhältnis rasch auf ein neues Fundament gestellt werden. Zwei Dokumente waren von besonderer Bedeutung: der Grenzbestätigungsvertrag vom 14. November 1990, der Oder und Neiße auch als Grenze zwischen dem vereinigten Deutschland und Polen bestätigte, und der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991, der zur Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern in einem breiten Themenspektrum aufrief, die Rechte der deutschen Minderheit in Polen und der polnischen Gruppe in Deutschland absicherte, aber vor allem Deutschlands Engagement für Polens europäische Bestrebungen fixierte.

In den 1990er Jahren folgte eine historisch wohl einzigartige Belebung der deutsch-polnischen Kooperation. Der wirtschaftliche Austausch nahm stetig zu, politische Kontakte auf allen Ebenen wurden geknüpft, die Verflechtung entlang der Grenze und generell zwischen den Gesellschaften intensivierte sich. Zentraler Baustein des vom damaligen Außenminister Krzysztof Skubiszewski als "Interessengemeinschaft" bezeichneten deutsch-polnischen Miteinanders war sicherlich Deutschlands – aus wohlverstandenem Eigeninteresse folgende – Unterstützung für Polens Wunsch, den Europäischen Gemeinschaften bzw. der NATO beizutreten. Beide Seiten drückten immer wieder den Willen zur Versöhnung als Basis für eine nach vorne gerichtete Partnerschaft aus. Charakteristisch sind die Worte, die der polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski am 28. April 1995 anlässlich einer Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes im deutschen Bundestag vortrug: "Das Gedenken und die historische Reflexion müssen unsere Beziehungen begleiten. Sie sollten dafür jedoch nicht Hauptmotivation sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen."

Teils unabhängig, teils unterstützt durch die politische Zusammenarbeit erfolgte in dieser Phase auch eine bis heute fortlaufende Vertiefung der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Interaktionen. Das auf der Grundlage des Nachbarschaftsvertrags 1991 gegründete Deutsch-Polnische Jugendwerk hat in den zwei Jahrzehnten seines Bestehens dafür gesorgt, dass mehr als zwei Millionen junge Menschen aus beiden Ländern zusammenkamen. Mehr als 600 deutsch-polnische Städtepartnerschaften, die rege Kooperation zwischen deutschen Bundesländern und polnischen Woiwodschaften sowie eine aktive Zusammenarbeit zwischen den Grenzregionen haben ebenso wie die große Gruppe von Menschen mit polnischem Migrationshintergrund in Deutschland (das polnische Außenministerium ging für das Jahr 2009 von rund zwei Millionen Personen aus, die deutsche Statistik kam für 2008 auf rund 1,4 Millionen Menschen; innerhalb dieser Gruppe liegen allerdings beachtliche Statusunterschiede vor) die beiden Gesellschaften auch auf einer persönlichen Ebene immer enger verflochten.

Nach wie vor bestehen aber Unterschiede in der gegenseitigen Wahrnehmung. Das Deutschlandbild in Polen hat sich seit Beginn der 1990er Jahre nachhaltig verbessert. Umfrageergebnisse zeigen beispielsweise, dass Deutschland in Polen als wichtigster politischer und wirtschaftlicher Kooperationspartner betrachtet wird und sich die Sympathiewerte gegenüber dem Nachbarn im Westen (verglichen mit anderen Nationen) einigermaßen stabil im Mittelfeld bewegen. Demgegenüber scheinen Stereotype in Deutschland langlebiger zu sein. Nachdem viele Deutsche lange Zeit skeptisch oder gar ablehnend auf Polen geblickt hatten, scheint sich erst allmählich ein günstigerer Trend durchzusetzen. Bei einer im Juni 2011 veröffentlichten Umfrage des Institutes für Demoskopie Allensbach ergaben sich in Deutschland (erstmals seit Beginn der Erhebungen zu Beginn der 1990er Jahre) positive Sympathiewerte für den Nachbarn im Osten – ein Hinweis darauf, dass trotz politischer Verwicklungen und immer noch bestehender Unkenntnis ein Wandel des Polenbildes zum Guten stattfindet.

Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Verhältnis

Dieses Erfolgsmodell der deutsch-polnischen Beziehungen kam nach gut einem Jahrzehnt an seine Grenzen. Gerade mit der nahenden polnischen EU-Mitgliedschaft zeigte sich, dass die wachsende "Europäisierung" des gegenseitigen Verhältnisses nicht nur stabilisiert, sondern auch Quelle für Spannungen sein kann. So standen Deutschland und Polen bei der Diskussion um die doppelte Mehrheit für Beschlüsse im Rat der EU auf unterschiedlichen Seiten. Der Irak-Krieg 2003 hatte in Deutschland Kommentare über Polen als "trojanisches Pferd" der USA in Europa hervorgerufen, während man in Polen das Zusammenwirken von Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac und dem russischen Präsidenten Putin als neue "Achse Paris-Berlin-Moskau" bezeichnete und im tradierten historischen Koordinatensystem als Bedrohung empfand. Verunsicherung löste auch die deutsche Russland-Politik aus, insbesondere der Bau der Ostseepipeline Nord Stream, die in Polen als illoyales Unterfangen eines Bündnispartners verstanden wird.

Überdies sorgten historische Themen wieder für Verstimmungen. In Polen kritisierte man insbesondere Pläne, in Deutschland ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu erstellen. Darin sah man einen breiteren Geschichtsrevisionismus aufziehen, in dem sich Deutsche angeblich von Tätern zu Opfern umdeuten und die einzigartigen eigenen Verbrechen durch die Aufrechnung mit dem Leid, das Deutschen widerfahren ist, relativieren. Auch der im Anschluss gefundene innerdeutsche Kompromiss, ein öffentlich finanziertes "sichtbares Zeichen", das in Form der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" Gestalt annahm, wurde in Polen skeptisch aufgenommen. Unterfüttert wurde die polnische Zurückhaltung durch Äußerungen von deutschen Vertriebenenfunktionären, die polnische und tschechische Historiker dazu veranlassten, sich aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung zurückzuziehen.

Es zeigte sich, dass die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem EU-Beitritt Polens keineswegs automatisch einfacher wurden. Dennoch fingen beide Länder an, sich wieder auf ihre Verantwortung für Europa zu besinnen. In der größeren Europäischen Union hat der deutsch-französische Motor seine Prägekraft verloren, zumindest fehlt ihm die kritische Masse, um – ähnlich wie in der Vergangenheit – gesamteuropäische Steuerungsfunktionen zu erbringen. Die Zusammenarbeit zwischen dem bevölkerungsreichsten Mitgliedsland und dem größten der ostmitteleuropäischen EU-Länder kann daher wichtige Impulse für die europäische Integration beisteuern.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärte, dass Deutschland das "Niveau an Nähe" in der deutsch-französischen Freundschaft auch im Verhältnis zu Polen anstrebe. Dieses Ziel soll durch eine weitere Verdichtung der politischen Kontakte (Polen ist z.B. eines der wenigen Länder, mit denen Deutschland gemeinsame Regierungskonsultationen abhält), der europapolitischen Zusammenarbeit (etwa in der Russland- und Ostpolitik oder in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik) sowie des kulturellen und gesellschaftlichen Austauschs erreicht werden. Und in Polen hat nach der Etappe der PiS-Regierungen, die auf Distanz zu Deutschland gingen, ein Bewusstsein Oberhand gewonnen, das in Deutschland keinen Rivalen, sondern einen primären Kooperationspartner sieht. In den kommenden Jahren werden Themen wie die europäische Russland- und Nachbarschaftspolitik, die Energiepolitik, die GSVP oder die Ausformung des Binnenmarktes Gegenstand deutsch-polnischer Europapolitik sein. Im Rahmen einer gemeinsamen deutsch-polnischen Kabinettssitzung anlässlich des 20. Jahrestags des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags bekräftigten die Regierungen beider Länder den Willen, eine "Partnerschaft für Europa" zu etablieren und für eine "Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Einheit" des Kontinents zu arbeiten.

Polen als Gestaltungsfaktor in der internationalen und europäischen Politik

Mit der Mitgliedschaft in EU und NATO, mit einem – allen Reibungen zum Trotz – konstruktiven Verhältnis zu Deutschland und mit einer special relationship zu den USA konnte Polen nicht nur die Nachkriegsära abschließen, sondern eine lange Phase seiner Geschichte überwinden, in der das Land Spielball europäischer Mächte war. Viele der historischen Hinterlassenschaften und Traumata wirken nach und werden Polens außenpolitisches Gebaren auf lange Zeit prägen. Doch die neuen internationalen Kooperationskontexte, durch die das Land vom passiven policy taker zum aktiven policy maker avancierte, können langfristig einige der historisch begründeten Verhaltensmuster ändern helfen. Polens intensive wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Verflechtungen mit Deutschland machen die deutsch-polnischen Beziehungen robuster und können bei Wahrung gegenseitiger Loyalität eine Vertrauensdividende schaffen. Polens Interesse an einer solidarischen EU prädestiniert das Land dazu, als Wächter eines handlungsfähigen und ungeteilten europäischen Integrationsverbunds aufzutreten. Unter der Voraussetzung, dass die Sicherheitsgemeinschaften NATO und EU nichts an ihrer Effizienz verlieren und die Sonderbeziehung zu den USA gewahrt bleibt, kann Polen seine Beziehungen zu Russland nicht nur im Licht existenzieller Bedrohungen, sondern auch unter dem Blickwinkel der Zusammenarbeit wahrnehmen. Dieses wird es Polen wiederum erleichtern, seinen Belangen hinsichtlich der Ukraine und anderer östlicher Nachbarn der EU Geltung zu verschaffen.

Effizienter als in der Vergangenheit werden bilaterale Beziehungen unter der Regierung Tusk gepflegt. Die Festigung der deutsch-polnischen Beziehungen und die schrittweise Annäherung an Frankreich eröffnen neue Perspektiven für das Weimarer Dreieck – also die trilaterale Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Polen, die bei einem Treffen der Außenminister aus den drei Ländern im August 1991 etabliert worden war. Durch den verbesserten Austausch mit den mitteleuropäischen Partnern, den Ländern des Baltikums und Nordeuropas sowie den Nachbarn jenseits der polnischen Ostgrenze steigen auch die Aussichten, zu einer regionalen Führungsmacht aufzusteigen. Wie weit dieser Prozess tragen wird, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Vieles wird davon abhängen, ob Polen die inneren Voraussetzungen seiner Außen- und Europapolitik optimiert, ob es zum Beispiel die Modernisierung von Staat und Verwaltung bewerkstelligt, ob sich die solide wirtschaftliche Entwicklung durch entschlossene Reformen verstetigen lässt, ob ein lagerübergreifender außenpolitischer Konsens zwischen den großen politischen Kräften entsteht und ob Polens Demokratie nicht zuletzt durch die Festigung zivilgesellschaftlicher Strukturen vertieft und abgestützt wird. Polen hat die Markenzeichen seiner Außenpolitik bereits geprägt: Es wird auf lange Zeit eine in ihren Werten solidarische, in ihrer Sicherheitsorientierung euro-atlantische und ihrem geographischen Fokus ostorientierte Außenpolitik betreiben.

QuellentextPolen am Scheideweg

Schockstarre lähmt Polen am Tage nach der Katastrophe von Smolensk, der nationalen Tragödie. Der Verlust ist ungeheuer, bis zum Unbegreiflichen. Mit Präsident Lech Kaczynski kamen die Spitze der Armee, führende Politiker und Wirtschaftler ums Leben, ferner Vertreter der Volksbewegung wie Anna Walentynowicz, die große Symbolfigur der Volksbewegung Solidarnosc . Im Wald vorm Smolensker Flughafen ist auch ein Stück pol- nischer Geschichte zugrunde gegangen.
Ein älteres tragisches Kapitel der polnischen Geschichte kehrt gleichzeitig überwältigend in die Erinnerung zurück. In Katyn, dem Reiseziel des Präsidenten, hat Stalins Geheimdienst vor genau siebzig Jahren die bürgerliche und militärische Elite des von Hitlers Wehrmacht überfallenen polnischen Staates niedermachen lassen, und jahrzehntelang hat die Sowjetunion sich der Verantwortung dafür zu entziehen gesucht. [...]
Es mag milder stimmen, dass Russlands Premierminister Putin Gesten des Mitleids gefunden und Staatstrauer angeordnet hat. Versöhnen tut es noch nicht. Das Verhältnis Polens zu seinem großen östlichen Nachbarn ist historisch belastet, zu seinem westlichen Nachbarn Deutschland übrigens nicht minder. Seine Staatlichkeit hat Polen gegen beide erkämpfen müssen, und beide haben sich dem zu stellen, was sie durch Jahrhunderte angerichtet haben. [...]
In jüngster Zeit hat es wieder Gründe für diese Haltung gegeben: der feierliche Akt zum Baubeginn der Ostsee-Pipeline, durch die Warschau sich umgangen und abgeklemmt sieht; der jüngste Abrüstungsvertrag, der die USA näher an Russland führen und damit das Gewicht Polens als eines strategischen Partners Washingtons schmälern könnte; der US-Verzicht auf Raketenbasen an der pommerschen Ostseeküste. Die Weltpolitik nimmt nicht so sehr auf Polen Rücksicht, wie es die Nationalbewussten dort wünschen mögen.
Doch dieser große mitteleuropäische Staat ist Teil der Europäischen Union. In dieser ist der Spielraum für Nationalismus enger geworden. Das ist unumkehrbar, selbst wenn an der Weichsel (und an der Donau und an der Moldau) Bewegungen nicht zu knapp gedeihen, die den traditionellen einzelstaatlichen Bezugsrahmen gar nicht zu verlassen gedenken. Es ist ein spezifisch polnischer Widerspruch: Die spontan entstandene Arbeiterbewegung, die sich in der Gewerkschaft Solidarnosc sammelte, hat ganz entscheidend geholfen, die stalinistische Ordnung und damit die Erstarrung Europas in Blöcken aufzubrechen. Sie hat ihre Nation nach Europa geführt, obwohl sie ein geeintes Europa wohl nicht erahnt hat. Es ist das unausweichliche Schicksal vieler Revolutionen – und die Aktion der Solidarnosc war eine –, andere Ziele zu erreichen als die, die auf den Transparenten standen.
Mit anderen Worten: Die polnische Gesellschaft steht in einer Entscheidungssituation – zwischen sich selbst und Europa, zu dem sie aber gehört und in das sie sich ganz einfinden muss.

Karl Grobe, "Ein historischer Verlust", in: Frankfurter Rundschau vom 12. April 2010

Dipl.-Verwaltungswissenschaftler, geb. 1967; wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Anschrift: Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin.
E-Mail: kai-olaf.lang@swp-berlin.org

Veröffentlichungen u.a.: Germany and Poland, in: Vladimír Handl/Otto Pick/Jan Hon u.a., Germany and East Central Europe since 1990, Praha 1999; Die neuen NATO-Mitglieder und die europäische Verteidigungsdimension. Teil I und II (Aktuelle Analysen des BIOst 62-63/2000).