Politisches System
FöderalismusEin bedeutsamer Faktor der politischen Stabilität Indiens ist die Tatsache, dass das Land eine der wenigen funktionierenden Föderationen weltweit darstellt. Zwar werden das Rechtswesen und die Spitze der Verwaltung einheitlich geführt, die Unionsstaaten sind auch auf Transfers der Zentrale zur Finanzierung ihrer Aufgaben angewiesen, und die Zentralregierung verfügt mit dem Instrument des president’s rule über erhebliche Durchgriffsrechte gegenüber den Unionsstaaten. Trotz dieser Einschränkungen verfügen die Landesregierungen aber über breite Kompetenzen bei der Bereitstellung und Verteilung basisnaher öffentlicher Leistungen und Subventionen, bei der Landverteilung und der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst. Das ist eine wesentliche Ursache dafür, dass Wähler bei den unionsstaatlichen Wahlen oft regional verankerte Parteien bevorzugen.

Nach anfänglichem Zögern – aus Angst vor Zerfallstendenzen der Union – gab die Regierung nach, verordnete 1953 die Neuschaffung des Staates Andhra (heute Andhra Pradesh) und setzte eine Kommission zur staatlichen Neugliederung ein, deren Bericht ab 1956 zur Schaffung neuer, sprachlich relativ homogener Bundesstaaten führte. Nach der Abtrennung Haryanas vom Bundesstaat Punjab im Jahr 1966 stellten die Sikhs im Punjab die Mehrheit. Auch auf die militanten, separatistischen Kräfte im Nordosten reagierte die indische Regierung parallel zu militärischen Maßnahmen mit der Schaffung neuer Staaten (Nagaland, Meghalaya und Mizoram), die aus dem Staat Assam herausgeschnitten wurden. Im Jahr 2000 wurden drei neue Bundesstaaten geschaffen, um den politischen Bestrebungen der Adivasi Rechnung zu tragen (Chhattisgarh, Uttarakhand und Jharkhand), 2014 wurde Telangana aus Andhra Pradesh herausgelöst.
Die Schaffung neuer Unionsstaaten hat nicht immer den politischen Frieden gefördert, weil sie oftmals Minderheiten in der neuen Mehrheit schuf. Es konnte jedoch erreicht werden, dass die meisten Regionalkonflikte nur noch auf kleiner Flamme schwelen und die einstmaligen Rebellen oft die Landesregierungen führen. Beschwerden richten sich nun gegen diese statt nach Delhi. Wo sich die Schaffung neuer Unionsstaaten verbot, weil die rebellierenden Gruppen (etwa die Bodos in Assam) über ein zu geringes Siedlungsgebiet verfügten, wurde der Konflikt durch die Gewährung begrenzter lokaler Autonomie weitgehend beigelegt.
Das föderale System Indiens wurde bis zum Ende der 1960er-Jahre respektvoll behandelt, Nehru veranlasste nur einmal die Entlassung der kommunistischen Landesregierung Keralas. Seine Nachfolger (vor allem seine Tochter Indira Gandhi) zeigten aber eine starke Neigung, ihnen missliebige Landesregierungen zu Fall zu bringen. In Staaten, in denen Oppositionsregierungen an der Macht waren oder gegnerische Parteien die Wahlen zu gewinnen drohten, wurden etwa Straßenproteste organisiert oder durch Handgelder Überläufer gewonnen. Angesichts damit erwiesener Unfähigkeit der Regierungen, Ruhe und Ordnung zu sichern und mehrheitsfähig zu bleiben, hatte der Gouverneur eine Handhabe zur Entlassung. Schlimmer noch, die Bundesregierung verschärfte nicht selten durch politische Manipulationen zum Zwecke kurzfristigen Stimmengewinns militante Konflikte.
Seit 1989 hat der Föderalismus jedoch wieder an Profil gewonnen; vor allem das Oberste Gericht schränkte den Missbrauch der seit 1950 über einhundertmal verfügten Direktverwaltung von Unionsstaaten ein. Nach einem Urteil von 1994 muss die Zentralregierung die Gründe der Verfügung darlegen, die gerichtlich aufgehoben werden kann; überdies hat sich der Staatspräsident entsprechenden Ansinnen mehrfach verweigert. Nicht zuletzt sind die Koalitionsregierungen in Neu-Delhi auf das Wohlwollen ihrer kleineren regionalen Partner angewiesen.

Um die erhebliche Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen, wurden auf dem Weg einer alle fünf Jahre eingesetzten Finanzkommission die Einkünfte aus zentral erhobenen Steuern vertikal und horizontal neu verteilt, seit der Verfassungsänderung 2000 alle diese Einkünfte. Dazu kommen noch Zuweisungen an die Einzelstaaten für die Umsetzung einer Vielzahl (zeitweise über 200) zentral geplanter, aber unionsstaatlich durchgeführter Programme, etwa für die Bekämpfung von Tuberkulose. Im Zeitablauf stieg der Anteil der auf die Staaten verteilten Steuern deutlich (ab 2015 auf 42 Prozent), gleichzeitig reduzierten sich die Zuweisungen für die zentral bezuschussten Programme etwas. Im Ergebnis stellt sich die Finanzsituation der Unionsstaaten also zwar besser dar als früher, sie bleiben aber nach wie vor von der Zentralregierung abhängig. Die Zuweisungen seitens der Finanzkommission orientierten sich zunächst fast völlig am unterschiedlichen Bevölkerungsumfang der Staaten, mittlerweile auch an ihrer relativen Rückständigkeit, an der Qualität ihres Finanzmanagements und letztlich auch an der jeweiligen Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen. Dieses komplizierte System des Finanzausgleichs hat nur begrenzt zu einer Angleichung der Leistungsfähigkeit der Staaten geführt, die ärmeren hängen nach wie vor zu über der Hälfte ihrer Ausgaben am Tropf der Zentralregierung.
Lokale Selbstverwaltung
Das unabhängige Indien erbte von der britischen Kolonialmacht lediglich Ansätze einer effektiven, demokratischen Lokalverwaltung. Die Gemeinden und Distrikte verfügten nur über geringe Mittel zum Bau von Straßen, Schulen und zur Gesundheitsfürsorge, zudem unterstanden sie einer von oben eingesetzten Administration, der nur zögerlich gewählte Räte zur Seite gestellt wurden.
Nach der Unabhängigkeit änderte sich daran zunächst wenig, obwohl Vorkehrungen für die Wiederbelebung der alten Dorfräte auf Druck Gandhis in die Verfassung aufgenommen wurden. Die Umsetzung gestaltete sich aber zumeist zäh und die sich ausbildenden Gemeinde- und Distrikträte wiesen in Kompetenzen und Finanzzuweisung erhebliche Unterschiede auf. Ihr Spielraum wurde zudem durch den Aufbau einer Parallelverwaltung zur lokalen Entwicklung beschränkt.
Im Jahr 1977 erhielten Distrikträte die Kontrolle über alle staatlichen Entwicklungsaktivitäten auf unterer Ebene; einen Durchbruch zu echter demokratischer Selbstverwaltung brachten aber erst die Verfassungsänderungen aus den Jahren 1993/94. Diese fordern von den Unionsstaaten die Einrichtung von basisdemokratischen Dorfversammlungen sowie gewählten, nicht mehr so leicht abzusetzenden Dorf-, Kreis- und Distrikträten, lassen aber bei der tatsächlichen Macht- und Funktionsübertragung einen gewissen Spielraum. Die Räte sollten für 29 entwicklungsorientierte Aufgabenbereiche zuständig werden, begrenzt eigene Steuern und Abgaben erheben dürfen und Anspruch auf staatliche Finanzzuweisungen haben. Bei ihrer Wahl sind nun auch Parteien zugelassen. Ein Drittel der Sitze ist für Frauen reserviert, wie üblich knapp ein Viertel der Sitze für die Dalits und Adivasi.
Diese Dezentralisierung brachte eine enorme Politisierung auf lokaler Ebene. Eine echte dritte Ebene der Regierungsgewalt ist dadurch aber nicht entstanden, weil die Räte nicht für die lokale Polizei und die Gerichte zuständig wurden, die Länder ihre Entscheidungen blockieren können und bisher nur die wenigsten Länder ihnen alle vorgesehenen Aufgaben auch übertragen haben (Ausnahmen: Karnataka und Kerala). Auch die Frage, inwieweit diese Dezentralisierungsmaßnahme einen Demokratisierungsschub auslöste, muss differenziert betrachtet werden, denn sie stärkte zum Teil auch die bestehende ökonomische Machtverteilung auf lokaler Ebene.