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Funktionserfüllung im Fraktionenparlament | Parlamentarische Demokratie | bpb.de

Parlamentarische Demokratie Editorial Die Logik der parlamentarischen Demokratie Der Deutsche Bundestag und seine Akteure Funktionserfüllung im Fraktionenparlament Herausforderungen für den Parlamentarismus Literaturhinweise Impressum

Funktionserfüllung im Fraktionenparlament

Suzanne S. Schüttemeyer

/ 40 Minuten zu lesen

Der Parlamentarismus der Bundesrepublik hat sich als durchweg stabil erwiesen. Das ist das Verdienst der Fraktionen, deren Arbeit in Regierung und Opposition zur Festigung und Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Strukturen wesentlich beigetragen hat.

In der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie haben nur wenige Regierungswechsel stattgefunden. In den 70 Jahren ihres Bestehens gab es bislang nur acht Regierungschefs. In eine Galerie mit Bildern der Bundeskanzler wird am 23. November 2005 das Portrait der damals neu gewählten Bundeskanzlerin Angela Merkel gehängt. (© picture-alliance/dpa, dpaweb)

Mit ihren arbeitsteiligen und hierarchischen Strukturen schaffen die Fraktionen die Voraussetzungen dafür, dass die einzelnen Abgeordneten ihren Aufgaben nachkommen können. Es sind die Parteien im Bundestag, die die Handlungs- und Steuerungsfähigkeit des großen und als Gesamtheit schwerfälligen Parlaments erst herzustellen vermögen. Sie sind es, die Politik bündeln und Arbeitsteilung organisieren. Damit können Parlamentsfunktionen in der Praxis weitestgehend als Funktionen der Fraktionen betrachtet werden. Auch in der Rechtswissenschaft ist dies erkannt worden: Staatsrechtler bezeichneten die Fraktionen als die "zentralen Aktivitätsträger des Parlaments" (Klaus Stern) und als "diejenigen Institute, die realiter die materiellen verfassungsrechtlichen Aufgaben des Parlaments wahrnehmen" (Wolf-Dieter Hauenschild).

Diese Einschätzungen treffen voll und ganz auf die Funktionen der Wahl und Rekrutierung, der Gesetzgebung und Kontrolle zu. Auch die Öffentlichkeits- und die Artikulationsfunktion werden durch die Organisations- und Bündelungsleistungen der Fraktionen erfüllt. Hier teilen sie sich aber die Aufgaben mit den einzelnen Abgeordneten, die als Vermittler von Politik und als Bindeglied zu den Wählerinnen und Wählern ihrerseits die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Fraktionen die Repräsentationsfunktion wahrnehmen können.

Wahl- und Rekrutierungsfunktion

Personelle Kontinuitäten:

Als Angela Merkel im November 2005 zur ersten Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde, hatte sie lediglich sieben Vorgänger: Helmut Kohl hatte sechzehn Jahre lang regiert, Konrad Adenauer vierzehn und Helmut Schmidt acht. Gerhard Schröder hatte es auf sieben, der erste sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt auf fünf Amtsjahre gebracht. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger hatten jeweils drei Jahre an der Spitze der Regierung gestanden. Und mittlerweile (Stand 2019) ist Angela Merkel vierzehn Jahre lang Regierungschefin.

Dementsprechend regierten die Bundeskanzler (ebenfalls mit Stand 2019) im Durchschnitt gut achteinhalb Jahre. Sieben der nunmehr acht wurden mindestens einmal, einer davon sogar viermal wiedergewählt. Diese beachtliche Kontinuität im Amt nimmt sich noch beeindruckender aus, wenn sie mit der Situation in der ersten deutschen Republik verglichen wird. In den 14 Jahren der Weimarer Republik amtierten dreizehn Kanzler in zwanzig Koalitionsregierungen beziehungsweise Präsidialkabinetten; am längsten mit gut drei Jahren Wilhelm Marx, allerdings auf vier Kabinette verteilt, nicht einmal acht Wochen Kurt von Schleicher, bevor die Nationalsozialisten die Macht ergriffen.

Stabilität der Regierungen: In der Bundesrepublik kam es indessen nur 1972, 1983 und 2005 zu vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages, wobei lediglich 2005 Regierungschef und Koalition ausgetauscht wurden. Die Wähler bestätigten also die amtierenden Regierungschefs und damit die Leistungen des Parlaments bei der Wahrnehmung seiner Wahlfunktion. Kanzlerwechsel während der Wahlperiode fanden 1963, 1966, 1974 und 1982 statt. In den ersten drei Fällen handelte es sich jeweils um den Austausch von Personen in derselben Fraktion, 1966 auch um den Beginn einer neuen (der ersten Großen) Koalition. Nur 1982 kam es zum "Machtwechsel", als das sozialliberale Bündnis zerbrach und Helmut Kohl durch eine neue Mehrheit aus Union und FDP mittels des Konstruktiven Misstrauensvotums zum Kanzler gewählt wurde. Und dass es fast fünfzig Jahre dauerte, bis 1998 zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein kompletter Austausch der regierenden Parteien stattfand (von einer CDU/CSU-FDP- zu einer SPD/GRÜNEN-Koalition) ist ein weiteres eindrückliches Zeichen der Kontinuität.

Die große Stabilität, die diese Zahlen ausdrücken, ist das Verdienst der Parteien im Parlament. Sie schafften es jedes Mal, sei es nach Bundestagswahlen, sei es während einer Wahlperiode, einen Kanzlerkandidaten zu präsentieren, der auf Anhieb im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit der Stimmen im Bundestag erhielt. Damit war der Eingangstest auf die Zuverlässigkeit einer Koalition, den die Kanzlerwahl darstellt, jeweils bestanden.

Und dass es die "richtige" Wahl war, kann man an dem länger als eine Wahlperiode dauernden Verbleib fast aller Regierungschefs im Amt ablesen. Daran wird auch deutlich, dass die Fraktionen, die sie ins Amt hoben, über den Tag der Kanzlerwahl hinaus dachten: Nicht nur dieses eine Mal waren sie zur Unterstützung bereit, sondern sie legten offenbar ihre Entscheidung so an, dass damit auch die während der Wahlperiode nötigen parlamentarischen Mehrheiten in der Regel sicher waren.

Verhandlungs- und Kompromissfähigkeit: Damit ist den Fraktionen gleichzeitig demokratische Verhandlungs- und Kompromissfähigkeit bescheinigt, denn nur einmal, 1957, konnte eine Partei die absolute Mehrheit an Stimmen und Sitzen im Bundestag erringen. Danach bedurfte es zur Regierungsbildung und -führung immer einer Koalition, also der Einigung und Zusammenarbeit unterschiedlicher Parteien.

Die im Bundestag vertretenen Parteien und ihre Fraktionen benötigten zwischen 1949 und 2013 im Durchschnitt nicht einmal 41 Tage, um eine handlungsfähige Regierung ins Amt zu bringen. Das Parteiensystem mit Union und SPD als großen Volksparteien und der FDP als kleiner in der Mitte, das etwa ein Vierteljahrhundert Bestand hatte, reduzierte die Bündnisoptionen und erleichterte programmatisch und strategisch die Koalitionsbildung.

Seit Anfang der 1980er-Jahre fächerte sich das Parteiensystem schließlich zunehmend auf, und seit 2017 besteht der Bundestag aus sechs Fraktionen. Diese Vielfalt, ihrerseits Ausdruck eines Wandels und wachsender Differenzierung in der Gesellschaft, ist nicht der einzige, aber letztlich der entscheidende Grund, warum es 171 Tage brauchte, bevor die Kanzlerin gewählt und das Kabinett vereidigt werden konnte. Auch in Zukunft dürfte es dem Bundestag schwerfallen, an die Zeiten anzuknüpfen, in denen zügig handlungsfähige Regierungsbündnisse geschmiedet werden konnten.

Bislang kann jedenfalls dem Parlament und seinen Fraktionen bescheinigt werden, dass sie sogar in Krisensituationen ihre Wahlfunktion erfüllen konnten. Als in den 1960er-Jahren zweimal in der CDU/CSU- und 1974 in der SPD-Fraktion deutlich wurde, dass – bei unverändert vorhandenen parlamentarischen Mehrheiten – ein amtierender Kanzler seinen Aufgaben nicht mehr gerecht wurde und Wählerverluste zu befürchten waren, suchte und fand man erfolgreich Ersatz: 1963 und 1974 stand in Union wie SPD umgehend ein Kandidat bereit, der die Unterstützung der jeweiligen Koalitionsfraktionen fand. Beide, Ludwig Erhard und Helmut Schmidt, entstammten zudem ihren Fraktionen und hatten dort bzw. in der Regierung lange Jahre Führungsfunktionen innegehabt. Als 1966 und 1982 die regierenden Koalitionen auseinanderbrachen, schafften es die Parteien im Parlament, neue Bündnisse zu schmieden und in kurzer Frist wieder handlungsfähige Kanzler und Kabinette zu installieren.

QuellentextAuflösung des Bundestages 2005

[...] Sonntag, 22. Mai 2005: Die CDU geht aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erstmals nach 39 Jahren als stärkste politische Kraft hervor. [...] Mit dem bevorstehenden Regierungswechsel in Düsseldorf bauen CDU/CSU ihre Dominanz im Bundesrat auf 43 von insgesamt 69 Stimmen, nicht jedoch auf eine Zweidrittelmehrheit aus. [...] Um 20.00 Uhr gibt Bundeskanzler Schröder gegenüber der Presse im Bundeskanzleramt folgende Erklärung ab: "Deutschland befindet sich in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. [...] Mit der Agenda 2010 haben wir dazu entscheidende Weichen gestellt. [...] Bis sich aber die Reformen auf die konkreten Lebensverhältnisse aller Menschen in unserem Land positiv auswirken, braucht es Zeit. Vor allem aber braucht es die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine solche Politik. Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit in Frage gestellt. [...] Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen."

Montag, 23. Mai 2005: Regierungssprecher Bèla Anda erklärt am Vormittag, die Neuwahl zum Bundestag soll über eine gescheiterte Vertrauensfrage und eine darauf folgende Auflösung des Parlaments eingeleitet werden. [...] Bundeskanzler Schröder unterrichtet in einem circa 20-minütigen Gespräch am Nachmittag Bundespräsident Köhler über diese Absicht. [...]

Samstag, 28. Mai 2005: Der Abgeordnete Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) kündigt erstmals in einem Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" eine Verfassungsklage an, sollte Schröder in einer Sachfrage künstlich das Misstrauen herbeiführen. [...]

Sonntag, 29. Mai 2005: Bundespräsident Köhler erklärt, die Ankündigung von Neuwahlen durch Müntefering habe auch ihn überrascht. Er teilt wörtlich mit: "Dass der Bundespräsident in einer so wichtigen Frage überrascht wird, ist schon bemerkenswert. […]"

Donnerstag, 16. Juni 2005: Der Staatsminister im Kanzleramt Rolf Schwanitz informiert den Ältestenrat des Bundestages, dass der Bundeskanzler am 1. Juli die Vertrauensfrage stellen wird. Der Kanzler werde darüber Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) am 27. Juni in einem Schreiben informieren. Schröder wolle die Vertrauensfrage, wie angekündigt, ohne Verknüpfung mit einer inhaltlichen Frage stellen.

Dienstag, 21. Juni 2005: Bundespräsident Köhler berät mit den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen und den Parteivorsitzenden die angestrebte Vertrauensfrage und die damit beabsichtigte Herbeiführung von Neuwahlen des Bundestages. [...]

Montag, 27. Juni 2005: Der stellvertretende Regierungssprecher Steg teilt mit, dass Bundeskanzler Schröder seinen Antrag auf Vertrauensfrage bei Bundestagspräsident Thierse eingereicht hat. Das Schreiben lautet: "Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Freitag, dem 1. Juli 2005, hierzu eine Erklärung abzugeben." [...]

Dienstag, 28. Juni 2005: Tageszeitungen berichten, dass das BVerfG Neuwahlen auf der Basis einer absichtlich herbeigeführten Abstimmungsniederlage bei der Vertrauensfrage ablehnen könnte, denn es stünde ein Teil der Karlsruher Richter diesem Vorhaben äußerst kritisch gegenüber. Das Gericht weist am Mittag die Behauptung zurück, einige Richter hätten bereits eine vorgefasste Meinung zur Berechtigung der Vertrauensfrage. [...]

Donnerstag, 30. Juni 2005: Nach Meinung der innenpolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen Silke Stokar wüchse in der Regierungskoalition die Zahl der Abgeordneten, die wegen der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht unterstützen. [...]

Freitag, 1. Juli 2005: Bundeskanzler Schröder informiert morgens die SPD-Fraktion über die genaue Begründung für seinen Antrag auf Vertrauen. [...] Anschließend unterrichtet Schröder auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die weitere Vorgehensweise. [...] Der Bundestag zählt bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage 600 Abgeordnete. [...] Die notwendige Stimmenzahl für die so genannte Kanzlermehrheit beträgt [...] 301. [...] (Abgegebene Stimmen 595, davon Ja 151, Nein 296 und Enthaltungen 148 – Anm. d. Red.) Damit erreicht der Antrag des Bundeskanzlers nicht die erforderliche Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.

Montag, 18. Juli 2005: Regierungssprecher Anda erklärt, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass Bundespräsident Köhler am Donnerstag oder Freitag seine Entscheidung über Neuwahlen bekannt geben werde. Das ergebe sich aus der Drei-Wochen-Frist. Köhler habe bereits angekündigt, die Frist von 21 Tagen nach der Vertrauensabstimmung möglicherweise voll auszunutzen.

Donnerstag, 21 Juli 2005: [...] Um 20.15 Uhr führt Köhler in einer Fernsehansprache [...] unter anderem aus: "[...] ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt. [...] Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend geprüft. [...] Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages gegeben sind. [...] " [...]

Freitag, 22. Juli 2005: Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gehen die ersten Klagen gegen die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten ein. [...]

Donnerstag, 25. August 2005: Der Zweite Senat des BVerG weist die Organklage der Bundestagsabgeordneten Hoffmann und Schulz als unbegründet zurück. Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein dem Zweck des Artikel 68 GG widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lasse sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen. [...]

Michael F. Feldkamp, "Chronik der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 und der Auflösung des Deutschen Bundestages am 21. Juli 2005", in: ZParl, 37. Jg. (2006) Heft 1, S. 19 ff.


Rekrutierung der Regierungsmitglieder
Ähnlich erfolgreich ist die Bilanz bei der Rekrutierung der Minister. Eindeutig sind es vor allem die Fraktionen, in denen die Abgeordneten gleichsam ihre Lehrzeit für Kabinettspositionen absolvieren und sich profilieren müssen. Bei Regierungsbildungen stellen sie das natürliche Personalreservoir. Wie dies ausgeschöpft wird, liegt aber keineswegs in der alleinigen Entscheidung des designierten Kanzlers. Dass dieser große Macht bei der Zusammenstellung des Kabinetts besitzt, gilt als "Legende der Kanzlerdemokratie", so der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme. Vielmehr müssen der Kanzlerkandidat und die Verhandlungsführer der Koalitionspartner, die selbst fast alle Führungspositionen in ihren Fraktionen bekleiden, sorgsam darauf achten, dass sie möglichst die fachlich und politisch besonders qualifizierten Mitglieder ihrer jeweiligen Fraktion in das Kabinett einbinden. Vor allem grundsätzliche Richtungs-, aber durchaus auch detaillierte Sachentscheidungen können in der (gemeinsamen) Regierungszeit nur erfolgreich durchgesetzt werden, wenn diese von den Fraktionen durchgängig akzeptiert werden. Daher liegt es im dringenden Interesse der Führungsgruppen, die die Koalitions- und Kabinettsbildung in Händen halten, die Standpunkte, Strömungen und Stimmungen ihrer Fraktionen richtig einzuschätzen. Dazu gehört auch, bei der Auswahl des Regierungspersonals genügend Ministerinnen vorzusehen, Vertreter einflussreicher politischer Flügel zu berücksichtigen und einen gewissen regionalen Proporz großer und kleiner Landesverbände der beteiligten Parteien im Auge zu behalten. So war kein Kanzler der Bundesrepublik autonom in der Komposition seines Kabinetts; die Rolle der Fraktionen reichte dabei vom negativen Druck- und Verhinderungspotenzial bis zur positiven Gestaltung.

Je besser dem designierten Kanzler zusammen mit den Führungspersonen des Koalitionspartners dieser Akt der Repräsentation ihrer Fraktionen und Parteien gelingt, desto besser ist gewährleistet, dass die Regierung und die sie tragenden Fraktionen bei allen Entscheidungen während der folgenden Wahlperiode zusammenhalten und eng zusammenarbeiten.
Bleibt die erste Wahlperiode außer Acht, als sich die parlamentarischen Strukturen und Verfahren erst herausbilden mussten, so ist für die Unionsfraktion festzuhalten, dass in den nachfolgenden 65 Jahren ihrer Parlamentsgeschichte von 1953 bis 2018 (in denen sie 45 Jahre lang den Kanzler stellte) von 93 Ministern 55 dem Fraktionsvorstand entstammten. In der SPD kamen in der Zeit ihrer Regierungsverantwortung von 1966 bis 1982, 1998 bis 2009 und wieder seit 2013 von 71 Ministern 31 aus dem Fraktionsvorstand.

Wird nur die "einfache" parlamentarische Erfahrung in Betracht gezogen, so hatte lediglich etwa jeder zehnte christdemokratische und sozialdemokratische Minister diese nicht aufzuweisen, war also vor Übernahme eines Regierungsamtes nicht Mitglied des Bundestages gewesen. Eine ungewöhnlich hohe Zahl von Personen ohne Bundestagsmandat berief Gerhard Schröder 1998 in sein erstes Kabinett: Sechs der zwölf von der SPD zu besetzenden Ressorts wurden von Nicht-MdBs geleitet. Der Kanzler selbst war zwar von 1980 bis 1986 Abgeordneter in Bonn gewesen, seither aber Landespolitiker. Kritische Stimmen werteten es im Nachhinein als Versäumnis, nicht genügend Mitglieder der Fraktion ins Kabinett berufen zu haben, und machten dies wesentlich für die Startschwierigkeiten verantwortlich, die der ersten Regierung Schröder bescheinigt wurden.

Als Angela Merkel 2005 ihr erstes Kabinett als Kanzlerin einer Großen Koalition zusammenstellte, hatten fünf der fünfzehn Minister kein Bundestagsmandat; alle fünf strebten aber sofort erfolgreich einen Sitz im 17. Bundestag an. 2009 waren nur noch zwei Ressortinhaber nicht gleichzeitig Parlamentarier, in Merkels viertem Kabinett seit Frühjahr 2018 zwei.
Hier zeigt sich noch einmal deutlich die Logik des parlamentarischen Regierungssystems: Die enge, eben auch personelle Verknüpfung von Parlamentsmehrheit und Regierung sichert die Funktionsfähigkeit. Stammen die Minister aus dem Parlament, verfügen sie dort über ihre "Hausmacht", so verlaufen Kommunikation und Kooperation reibungsloser, und die Mehrheit kann "ihre" Regierung besser kontrollieren.

Kontrollfunktion

Die Logik des parlamentarischen Regierungssystems ist auch die Ursache dafür, dass die Kontrollfunktion nicht vom Gesamtparlament wahrgenommen wird, sondern – mit je eigenen Zielen und eigenen Instrumenten – von der Mehrheit einerseits und der Opposition andererseits ausgeübt wird.
Im Bundestag steht den Abgeordneten bzw. den Fraktionen ein umfangreiches Arsenal an Kontrollinstrumenten zur Verfügung. Sie reichen vom Konstruktiven Misstrauensvotum über Frage- und Informationsrechte sowie das Budgetrecht bis hin zu Untersuchungsausschüssen und Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht. Viele dieser Instrumente sind ausdrücklich als Minderheitsrechte ausgestaltet, um der Opposition faire Chancen zu geben, das Handeln der Regierung und ihrer Mehrheit im Parlament zu überprüfen.

Fragerechte

So gibt es zum Beispiel für das Alltagsgeschäft der Informationsbeschaffung im Bundestag eine ganze Palette von Möglichkeiten, Anfragen an die Bundesregierung zu richten. Jeder bzw. jede Abgeordnete kann die schon erwähnten kurzen Fragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung durch die Regierung einreichen. Weitere Fragerechte stehen Fraktionen bzw. Abgeordneten in Fraktionsstärke zu:

Große Anfragen sind auf umfangreichere Themenkomplexe gerichtet, zum Beispiel auf die "Klimadiplomatie der Bundesrepublik Deutschland", die "Altersarmut in Deutschland", die "Zukunft der deutschen Sprache" oder die "Vereinfachung des Steuerrechts". Da sie neben der schriftlichen Antwort der Regierung auch zur Debatte auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden können (§§ 100, 101 GO-BT), dienen Große Anfragen nicht nur der sachlichen Information, sondern auch der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Politik der jeweiligen Regierungskoalition.

Kleine Anfragen, mit denen "Auskunft über bestimmt bezeichnete Bereiche" (§ 104 GO-BT) von der Regierung verlangt werden kann, werden nur schriftlich beantwortet.
Aktuelle Stunden sind wie die Großen Anfragen auch ein wichtiges Mittel, Öffentlichkeit herzustellen. Sie können von einer Fraktion zur Aussprache "über ein bestimmt bezeichnetes Thema von allgemeinem aktuellen Interesse" (§ 106 GO-BT) beantragt werden. Beide Instrumente werden vornehmlich von der Opposition eingesetzt, um der Regierung vor den Augen der Wählerschaft Versäumnisse vorzuwerfen und sich selbst als die bessere Alternative darzustellen.
So brachten zur Zeit der sozial-liberalen Koalition die SPD- und die FDP-Fraktion keine einzige Große Anfrage ein. Gelegentlich nutzen aber auch die Fraktionen der Mehrheit Große Anfragen. Dann handelt es sich in aller Regel um abgesprochene Aktionen, mit denen der Regierung die Bühne geboten wird, ihre Politik öffentlich zu präsentieren oder zu verteidigen. Die Statistik spiegelt diese Motive: Seit 35 Jahren, also seitdem immer mindestens zwei Oppositionsfraktionen im Bundestag vertreten waren, stammen zwischen 85 und 100 Prozent der Großen Anfragen von Oppositionsfraktionen, seit der 13. Wahlperiode (1994 bis 1998) sind es 90 bis 100 Prozent. Gleiches gilt für die Kleinen Anfragen: In den letzten fünf Wahlperioden lag der Anteil der Oppositionsfraktionen bei 99,1 bis 100 Prozent.

Diese Kontrollaktivitäten im Bundestag erfuhren einen sprunghaften Anstieg mit dem Einzug der Grünen 1983. Hatte die christdemokratische Opposition in den vier Wahlperioden zuvor zwischen 24 und 47 Große Anfragen an die sozial-liberale Regierung gerichtet, so machte die neue grüne Fraktion erheblich mehr Gebrauch von diesem Mittel: Ihre 87 Großen Anfragen veranlassten auch die auf die Oppositionsbänke verwiesene SPD zu aktiverem öffentlichkeitswirksamem Verhalten und 61 solcher Anfragen. Seither gab es immer mehr als eine Oppositionsfraktion im Bundestag und somit Wettbewerb unter ihnen – mit der Folge, dass sich die Zahl der Großen Anfragen auf hohem Niveau einpendelte. Seit 2005 ist allerdings ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen mit dem Tiefpunkt in der 18. Wahlperiode, als nur noch 15 Große Anfragen von den beiden Oppositionsfraktionen, den Grünen und der Linken, gestellt wurden. Gleichzeitig stieg die Zahl der Kleinen Anfragen deutlich an. Auch die schriftlichen und mündlichen Anfragen, die einzelne Abgeordnete an die Regierung richten können, nahmen zu, erreichten einen Höhepunkt zur Zeit der christdemokratisch-liberalen Koalition, um drastisch zu sinken, als 2013 bis 2017 der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD nur noch die Grünen und die Linken gegenüberstanden. Ob in dieser besonderen Konstellation der Grund für das wechselvolle Oppositionsverhalten liegt, dürfte nach Ende der gegenwärtigen Großen Koalition mit doppelt so vielen parlamentarischen Gegenspielern genauer zu beurteilen sein.

Kontrolle und Rechenschaft im Deutschen Bundestag (© Michael F. Feldkamp, Deutscher Bundestag 1998 bis 2017 / 18: Parlaments- und Wahlstatistik für die 14. bis beginnende 19. Wahlperiode, in: ZParl, 49. Jg. (Heft 2), S. 207–222, S. 219)

Die Reichweite Großer Anfragen lässt sich mit verschiedenen Themen veranschaulichen, zu denen die Regierung in der 18. Wahlperiode Auskunft geben sollte: "Stärkung der Menschenrechte in Deutschland" (Bündnis 90/Die Grünen), "Sozialer Wohnungsbau in Deutschland – Entwicklung, Bestand, Perspektive" (Die LINKE), "Schlüssel für eine globale, ökologische und gerechte Energieaußenpolitik" (Bündnis 90/Die Grünen), "Entwicklungsstand und Umsetzung des Inklusionsgebotes in der Bundesrepublik Deutschland" (Die LINKE), "20-Jahres- Bilanz der Bahnreform 1994 bis 2014" (Die LINKE).

Budgetrecht

Der Haushaltsausschuss: Ein für die Entstehungsgeschichte des Parlamentarismus konstitutiver und insofern geradezu klassischer Bestandteil der Kontrollaktivitäten ist das Budgetrecht. Im Bundestag wird die Bedeutung dieses Instruments für die Kontrolle der Regierung schon dadurch deutlich, dass der Haushaltsausschuss – nicht rechtlich fixiert, aber aus Tradition – immer von einem Mitglied der Opposition geleitet wird. Dieser Ausschuss ist das parlamentarische Zentrum zur Befassung mit dem Bundeshaushalt, der als Gesetz verabschiedet wird. Bei der Erstellung des Haushalts ist die Regierung die dominante Akteurin: Nur sie kann Haushaltsplan und -entwurf einbringen. Dabei hat insbesondere der Bundesfinanzminister eine Reihe von speziellen Kompetenzen zum konjunkturpolitischen Handeln.

Nichtsdestoweniger ist der Haushaltsausschuss ein ernst zu nehmender Wächter über die Bundesfinanzen. Er wirkt an der Aufstellung des Budgets, am Vollzug und an der nachträglichen Kontrolle mit; auch an allen ausgabewirksamen Entscheidungen des Bundestages muss er beteiligt werden. Die Arbeit im Ausschuss ist überwiegend durch Kollegialität und Kooperation geprägt. Seine Mitglieder sehen sich fraktionsübergreifend einem gemeinsamen Ziel verpflichtet: Sie wollen sparsam haushalten. Deshalb werden sie im Bundestagsjargon – unabhängig davon, ob sie aus Mehrheit oder Opposition stammen – "die Haushälter" genannt.

Viele von ihnen sind langjährige, mit dem speziellen Haushaltsverfahren vertraute und erfahrene Parlamentarier, die sich zudem gut untereinander kennen. So ist der Einfluss des Ausschusses nicht zu unterschätzen; insbesondere bei der Kontrolle von Details in den Einzelplänen der Ressorts kann ihm versiertes Arbeiten bescheinigt werden. Geht es um grundlegende Prioritätenentscheidungen oder drücken sich Konflikte zwischen Regierungsmehrheit und Opposition in den Zahlen des Budgets aus, so kommt die dem Parlamentarismus eigene Frontstellung zum Tragen: Letztlich werden die regierungstragenden Fraktionen ihre Prioritäten gegen die Opposition durchsetzen. Dafür hat sie schließlich auch die Wählerschaft legitimiert, indem sie sie zur Mehrheit machte.

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse

Ein besonders scharfes Schwert der Opposition, um die Regierung öffentlichkeitswirksam zur Rede zu stellen, sind Parlamentarische Untersuchungsausschüsse. In der Verfassung sind sie sogar als Minderheitsrecht verankert (Art. 44 GG). Auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages muss ein solcher Ausschuss vom Bundestag eingesetzt werden. Zwei bis drei Untersuchungsausschüsse pro Wahlperiode sind der Normalfall; insgesamt hat der Bundestag bis 2018 44-mal von diesem Kontrollinstrument Gebrauch gemacht.

Häufig auch als "Skandalenqueten" bezeichnet, sollen die Untersuchungsausschüsse Fehlverhalten bzw. Fehlentscheidungen vor allem der Regierung aufdecken und anprangern. Nicht zuletzt durch die Anlehnung des Verfahrens an den Strafprozess ist aber der Eindruck in der Öffentlichkeit entstanden, es handele sich bei diesen Ausschüssen um gerichtsähnliche Gremien, die der Wahrheitsfindung dienen.

Dazu sind sie als Institutionen, die der Logik des Parlamentarismus folgen, aber nur sehr begrenzt in der Lage. Vor allem in den Abschlussberichten kommen die je unterschiedlichen Einschätzungen von Mehrheits- und Oppositionsfraktionen zum Ausdruck und erfüllen damit den zentralen Zweck der Untersuchungsausschüsse: Die Wählerinnen und Wähler sollen sich aus den kontroversen Interpretationen der Beteiligten ein Urteil bilden können über die in Rede stehenden Vorkommnisse und die Verantwortung der politischen Akteure. Somit fördern die Untersuchungsausschüsse die "Parteienwahrheit" zutage und sind deshalb keineswegs die fruchtlosen Scheinveranstaltungen, als die sie oft kritisiert werden, weil fälschlicherweise "Tatsachenwahrheiten" von ihnen erwartet werden.

Das große Medienecho, das Untersuchungsausschüsse finden – mittlerweile werden Zeugenanhörungen live im Fernsehen übertragen –, birgt die Gefahr, dass dieses Instrument für Showeffekte eingesetzt wird. Um aber die öffentliche Wirkung als intensive, ernst zu nehmende Kontrolle der Regierung zu erhalten, ist vor leichtfertiger und übertrieben häufiger Nutzung gewarnt worden. Bisher sind die Fraktionen des Bundestages dieser Versuchung allerdings nicht erlegen.

Konstruktives Misstrauensvotum

Kontrovers hinsichtlich seiner Wirkung wird das Konstruktive Misstrauensvotum eingeschätzt. In fast sechzig Jahren bundesrepublikanischer Geschichte kam es lediglich zweimal zur Anwendung: 1972 versuchte der damalige Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) vergebens, den sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt auf diese Weise abzusetzen; 1982 gelang es Helmut Kohl (ebenfalls CDU), die FDP aus der Koalition mit der SPD herauszulösen und am 1. Oktober jenes Jahres das Konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt zu gewinnen. Trotz der soliden Mehrheit, die mit der neuen Koalition aus Union und FDP im Bundestag vorhanden war, und der somit ohne Zweifel gegebenen Handlungsfähigkeit der Regierung strengte Kohl aber anschließend – wie vorab versprochen – die Neuwahl des Bundestages vor Ablauf der regulären Wahlperiode an. Zu massiv wurde in der öffentlichen Diskussion ein solcher Kanzlersturz ohne Wählervotum für illegitim gehalten – ganz entgegen der Verfassungsrechtslage.

Zahlenmäßig spielt also dieses wohl spektakulärste Kontrollinstrument im Bundestag eine geringe Rolle. Auch zum Schutze der Regierung vor destruktiven Mehrheiten, die selbst nicht bereit sind zur Übernahme von Regierungsverantwortung – der Zweck, für den es der Parlamentarische Rat vor allem ins Grundgesetz aufgenommen hatte – musste das Konstruktive Misstrauensvotum noch nicht in Anspruch genommen werden. Bisher erwiesen sich die Parteien bzw. Fraktionen im Bundestag stets als hinreichend kompromissfähig und verantwortungsbewusst, sodass die Bundesrepublik Deutschland geradezu zum Musterbeispiel stabilen Regierens wurde. Allerdings darf die Wirkung des Konstruktiven Misstrauensvotums für die Beziehungen zwischen Regierung und Mehrheit nicht unterschätzt werden: Die Regierung muss sich hüten, die Folgebereitschaft der eigenen Fraktion(en) oder zu vieler ihrer Abgeordneter so zu strapazieren, dass diese ihr das Vertrauen entziehen. Solch ein "antizipativer Effekt" in Gestalt einer gedanklichen Vorwegnahme möglicher Auswirkungen des Misstrauensvotums kann plausibel vermutet, aber natürlich kaum gemessen werden.

Die "klassischen" Kontrollrechte sind im Bundestag zwar in erster Linie die Domäne der Opposition; für ein wirklichkeitsgerechtes Verständnis des Bundestages darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, als erschöpfe sich hierin die parlamentarische Kontrolle. Ebenso bedeutend sind die entsprechenden Aktivitäten der Mehrheit. Auch sie kontrolliert "ihre" Regierung – allerdings auf anderen Wegen und mit anderen Zielen als die Opposition. So hat die Mehrheit naturgemäß kein Interesse daran, der Öffentlichkeit Fehler oder Mängel "der eigenen Leute" vorzuführen. Vielmehr werden die Abgeordneten der Parlamentsmehrheit alles daran setzen, in den Augen der Wählerinnen und Wähler als erfolgreich zu erscheinen – und das ist nun einmal nur mit einer Regierung möglich, die in diesem Sinne gute Leistungen erbringt.

Also wird intern sichergestellt, dass die Gesetzentwürfe und andere politische Vorhaben den Anforderungen entsprechen. Dies geschieht durch ständige Kommunikation und gegenseitige Überzeugungsarbeit auf informellen und nicht-institutionalisierten Wegen sowie in den dafür eingerichteten Gremien, vor allem in den Arbeitsgruppen und -kreisen. Wird hinter den verschlossenen Türen von Koalitionsfraktionen und Regierung nicht das gewünschte Politikergebnis erzielt, kann die Mehrheit Minister oder – aus ihrer Sicht schlimmstenfalls – den Kanzler austauschen. Da dies aber Mittel sind, die der Öffentlichkeit Defizite in der Regierungsmehrheit aufzeigen, werden zuvor alle Möglichkeiten der internen und bewusst nicht nach außen sichtbaren Richtungskontrolle ausgeschöpft. Die Wechsel von Konrad Adenauer zu Ludwig Erhard oder von Willy Brandt zu Helmut Schmidt verdeutlichen exemplarisch diese Kontrollmacht der Fraktionen, die sich im Übrigen auch schon auf Landesebene bei Wechseln im Ministerpräsidentenamt gezeigt hat.

Rolle in der Gesetzgebung

Ausgangspunkte gesetzgeberischer Initiativen

Für die parlamentarische Demokratie ist es strukturtypisch, dass die Regierung die dominante Rolle in der Gesetzgebung spielt. Dies gilt auch für den Bundestag. Im Durchschnitt werden dort zwei Drittel der Gesetzentwürfe von der Regierung eingebracht oder von den Fraktionen, die die Regierungskoalition tragen. Der politisch-inhaltliche Ursprung dieser Initiativen liegt oft in den Koalitionsvereinbarungen, die zu Beginn einer Wahlperiode getroffen werden. Darin legen die Koalitionspartner die wichtigsten Vorhaben ihrer gemeinsamen Regierungszeit fest – teilweise schon recht detailliert, teilweise noch eher vage, je nachdem, wie viel Einvernehmen in den Verhandlungen zwischen den Parteien bzw. Fraktionen zu erzielen war und wie viel Konfliktstoff "ausgeklammert" werden musste, um das geplante Bündnis nicht zu gefährden.

Aus den im Koalitionsvertrag festgehaltenen Regierungsvorhaben ergeben sich bereits etliche Prüf- und Vorbereitungsaufträge an die zuständigen Abteilungen der Bundesministerien. Doch darüber hinaus können auch etliche andere Akteure Anstöße zu Gesetzesinitiativen geben: Abgeordnete nehmen Impulse aus ihren Kontakten zu Bürgerinnen und Bürgern sowie Interessengruppen auf; Verwaltungsbehörden stellen bei der Anwendung von Gesetzen Defizite fest; Urteile des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte erfordern – teilweise zwingend – Gesetzesänderungen; Verbände artikulieren ihre Interessen; in den Medien wird Regelungsbedarf diskutiert. Oder aber innerhalb der Mehrheitsfraktionen ergreifen Arbeitsgruppen die Initiative. Oft ergänzen sich diese verschiedenen Quellen für gesetzgeberische Aktivitäten.

Stationen der Gesetzgebung

Der Gesetzgebungsprozess im Bund (Interner Link: Grafik als PDF öffnen) (© Basis: Artikel 76–78 Grundgesetz; Geschäftsordnungen von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat; Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10. aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 216 (aktualisiert))

Erarbeitung des ersten Entwurfs in Ministerien, Kabinett und Mehrheitsfraktionen: Der Standardweg der weiteren Bearbeitung führt die Gesetzentwürfe in die fachlich spezialisierte Ministerialbürokratie. Beauftragt vom jeweiligen Minister liefert diese zumeist den ersten Entwurf, der sodann im Kabinett beraten wird. Doch selbst wenn sich die Regierungsmitglieder einig sind, ist der nächste Schritt keineswegs die Überweisung an den Bundestag bzw. Bundesrat.

Zuallererst muss sichergestellt werden, dass die Mehrheitsfraktionen die Regierungsvorlage mittragen. Problematisch sind dabei weniger die grundsätzliche Richtungsgebung und die Koordination von Politiken, denn sie liegen in den Händen derjenigen, die die Koalitionsfraktionen führen und entweder mit am Kabinettstisch sitzen oder mit der Regierung in ständigem Austausch über den sachpolitischen Willen ihrer Fraktionen stehen.

Ungleich schwieriger sind die Erarbeitung und Überprüfung der inhaltlichen Details sowie der Abgleich der parlamentarischen Entscheidung mit Positionen von Partei und Wählerschaft im Einzelnen. Hier bedarf es einer Vielzahl von Fraktionsexperten, die auf der Arbeitsebene der Fraktionen die inhaltliche Feinabstimmung leisten.

Ihre Arbeitsgruppen sind der Filter für das konkret Machbare und politisch Annehmbare – und zwar in erster Linie unterhalb von Grundsatz- und Richtungsentscheidungen – und damit – angesichts der Komplexität und Technizität der meisten zu regelnden Materien – die Gremien, in denen über die große Masse der Gesetzentwürfe beraten wird. In den Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreisen der Mehrheitsfraktionen findet die sachpolitische Kommunikation der Fraktionsexperten mit Regierung und Ministerialbürokratie sowie zuweilen auch der Koalitionspartner untereinander statt. Hier wird die gegenseitige Bereitschaft zu Widerstand oder Unterstützung der Gesetzesvorhaben sondiert; hier werden Ausschusssitzungen, Fragestunden und Plenardebatten konkret inhaltlich vorbereitet. Prinzipiell dasselbe gilt für die Fraktionen der Opposition, nur dass hier die Verzahnung mit der Regierung entfällt. Stattdessen bedient sich die Opposition des Öfteren der Ministerialbeamten aus jenen Bundesländern, in denen sich die eigene Partei in der Regierungsverantwortung befindet.

Es kann also keine Rede davon sein, dass Kanzler und Kabinett mithilfe ihres Beamtenapparats dem Parlament, und das heißt in diesem Zusammenhang: ihrer eigenen Mehrheit, Gesetze präsentieren, die dieses dann nur noch "abnickt". Ohne Zweifel entstammt der erste Entwurf und damit gewiss auch schon viel Richtungsweisung meistens der Regierung. Aber schon dabei muss im Vorwege ausgelotet werden, was die Koalitionsfraktionen mitzutragen bereit sind. Und spätestens für die Einzelheiten sehen sich die jeweils spezialisierten Abgeordneten sehr wohl zuständig.

So haben Minister immer wieder bekundet, dass die Expertinnen und Experten in den regierungstragenden Fraktionen ihre "wichtigsten Verbündeten" seien und sie deren Sachverstand wie ihre politische Vermittlerrolle produktiv nutzen. Außerdem müssten sie durch enge Kontakte zur Fraktion verhindern, dass dort Gegenpositionen aufgebaut werden oder die Öffentlichkeit mobilisiert wird, weil sich die Fraktionsmitglieder in den Entwürfen der Regierung nicht hinreichend repräsentiert sehen. Im schlimmsten Fall drohe die Gefahr von Abstimmungsniederlagen, wenn solche Unzufriedenheiten nicht aufgegriffen und bearbeitet würden. Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, wahrlich eine souveräne Persönlichkeit, beschrieb Zusammenkünfte mit "seiner" Fraktion bei einer Gelegenheit als "Fegefeuer".

Weitergabe an Bundesrat und Bundestagsplenum: Erst wenn gesichert ist, dass sich Regierung und Mehrheit, zumindest im Großen und Ganzen, einig sind, wird ein Entwurf in den förmlichen Gang der Gesetzgebung eingespeist. Die Kabinettsvorlage wird dem Bundesrat, der Länderkammer, für eine erste Stellungnahme zugeleitet, die auch erster Durchgang genannt wird. Liegt diese nach spätestens sechs Wochen vor, fügt die Regierung sie samt ihrer Gegenäußerung dem ursprünglichen Entwurf hinzu und bringt die Vorlage beim Bundestag ein. Damit ist das Parlament bereits über mögliche Kritikpunkte der Länder informiert, die im weiteren Verlauf des Verfahrens gegebenenfalls zu Einsprüchen oder gar zu einer endgültigen Ablehnung der Gesetzesinitiative führen können.

Erste Lesung: Nachdem der Entwurf als Drucksache an alle Bundestagsabgeordneten verteilt wurde, befassen sich zunächst die Fraktionen damit, und das heißt in erster Linie deren "zuständige" Arbeitsgruppen bzw. -kreise. Ist eine erste Meinungsbildung erfolgt, einigt man sich im Ältestenrat über den weiteren zeitlichen wie organisatorischen Ablauf, insbesondere über die zu beteiligenden Ausschüsse, die federführend und mitberatend die Vorlage bearbeiten sollen. Förmlich wird dieses Verfahren in der sogenannten Ersten Lesung des Gesetzes vom Plenum des Bundestages beschlossen.

Diese Lesung dient nicht dazu, sich mit der Initiative sachpolitisch zu befassen, sondern soll demokratische Transparenz herstellen: Die Bürgerinnen und Bürger können so Kenntnis erhalten, welche Themen auf der politischen Tagesordnung stehen und welche Aktivitäten die Regierung und die Fraktionen bzw. Parteien dazu entfalten. Diese Herstellung politischer Öffentlichkeit dient des Weiteren dazu, dass Diskussionen stattfinden, dass sich Betroffene zu Wort melden können und insgesamt ein offener Prozess der Meinungs- und Urteilsbildung in Gang gesetzt wird.

Diskussion des Entwurfs in den Ausschüssen: Im Bundestag erfolgt die weitere Bearbeitung des Gesetzentwurfs in den Fraktionen und Ausschüssen. Auf Vorschlag der Fraktionen werden in den Ausschüssen sogenannte Berichterstatter benannt, die sich detailliert mit den Inhalten des Entwurfs auseinandersetzen, als Bindeglieder zwischen dem Ausschuss und ihrer jeweiligen Fraktion fungieren und zusammen mit dem oder der Ausschussvorsitzenden für den Abschlussbericht ans Plenum des Bundestages verantwortlich sind.

Da die Fraktionen der Mehrheit in der Regel bereits im Vorbereitungsstadium von ihrer Regierung in die Beratungen einbezogen worden sind, wird der Ausschuss faktisch vor allem dazu genutzt, die Argumente der Opposition zu diskutieren und Informationen zu erhalten, die in die Fraktionen eingespeist werden, um dort die Willensbildung für die abschließende Abstimmung im Plenum vorzunehmen.
Neuere Ergebnisse der Parlamentsforschung zeigen, dass die Bundestagsausschüsse nicht – wie landläufig vermutet – im Zentrum der Sacharbeit stehen. Schon seit langem werden Gesetze nicht mehr einstimmig oder mit nur wenigen Gegenstimmen im Plenum verabschiedet, weil in den Ausschüssen Konsens hergestellt werden konnte. Vielmehr spiegelt sich in den Auseinandersetzungen dort die bekannte Frontstellung von Regierungsmehrheit und Opposition wider, erfüllen die Ausschussberatungen inzwischen in erster Linie die Funktion einer "Generalprobe" für die Plenardebatte.

Nur wenn es sich ausnahmsweise um interfraktionelle, also von allen Fraktionen eingebrachte Gesetzentwürfe und eilige Vorlagen handelt, werden diese in den Ausschüssen eher ergebnisoffen und detailliert verhandelt. Der Schwerpunkt der gesetzgeberischen Sacharbeit liegt in den Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreisen der Fraktionen. Deshalb bezeichnet sie der Politikwissenschaftler Jürgen von Oertzen als "Kern der parlamentarischen Willensbildung".

Im Laufe der Ausschussarbeit können die Abgeordneten von der Möglichkeit Gebrauch machen, in öffentlichen Anhörungen, sogenannten Hearings, externen Sachverstand einzuholen und die Positionen von Interessengruppen und Betroffenen in Erfahrung zu bringen. Mittlerweile findet zu jedem Gesetzentwurf von politischer Bedeutung mindestens eine solche Anhörung statt, im Schnitt 300 bis 500 pro Wahlperiode. Wichtigste Ziele sind dabei, die Akzeptanz der geplanten Maßnahme auszuloten und im Widerstreit der Experten Öffentlichkeit für die eigenen Positionen herzustellen.

Zweite Lesung: Am Ende der Arbeit steht der Bericht ans Plenum. Er enthält die Empfehlung, den Gesetzentwurf in der vom Ausschuss verabschiedeten Fassung zu beschließen, des Weiteren die Gründe, wenn der Ausschuss von der Regierungsvorlage abgewichen ist, sowie gegebenenfalls die Ansichten überstimmter Minderheiten. Auch das Abstimmungsverhalten wird mitgeteilt. Der Bericht bildet die Grundlage für die Zweite Lesung im Plenum des Bundestages. Dies ist der Zeitpunkt für die politisch-inhaltliche Debatte zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Dabei geht es nach all den Beratungen in Fraktionen und Ausschüssen nicht mehr darum, die jeweils andere Seite zu überzeugen; vielmehr soll hier der Öffentlichkeit gezeigt werden, wer aus welchen Gründen wofür steht.

Jeder bzw. jede Abgeordnete hat in dieser Zweiten Lesung das Recht, Änderungsanträge einzubringen. Theoretisch ist dies vor allem wichtig für fraktionslose MdBs, die es allerdings nur selten gibt. Aber auch für die fraktionsgebundenen Abgeordneten ist dieses Recht bedeutsam: Es verpflichtet nämlich die Fraktionsführung dazu, abweichende Positionen ihrer Angehörigen ernst zu nehmen, Zweifelnde argumentativ zu überzeugen oder durch Kompromisse einzubinden. Sonst riskiert sie, dass in der Debatte über das Gesetz der Mangel an Geschlossenheit durch Einbringung von Änderungsanträgen aus den eigenen Reihen öffentlich wird und bei der Wählerschaft den Eindruck der Schwäche erweckt. Weil die Fraktionen sich des Drohpotenzials solcher Änderungsanträge bewusst sind, verhalten sie sich entsprechend, und es kommt nur selten zu Anträgen einzelner Abgeordneter in der Zweiten Lesung.

Die Opposition bringt naturgemäß häufiger Änderungsanträge ein, um ihre Gegenpositionen der Öffentlichkeit begründet zu präsentieren. Damit verfolgt sie vor allem das Ziel, nicht nur als bloße Neinsagerin zu erscheinen, sondern konstruktiv zu wirken – eine unverzichtbare Orientierung angesichts einer in Deutschland vorherrschenden Politischen Kultur, die die Opposition eher als Kooperationspartner denn als Gegenspieler der Regierung verstehen möchte. Daraus erklärt sich im Übrigen auch, warum im Bundestag regelmäßig (außer zu Zeiten Großer Koalitionen) zwischen 15 und 20 Prozent der Gesetzesinitiativen von der Opposition ausgehen, obwohl diese keine Chance auf eine Mehrheit für ihre Vorlagen hat.

Das Gegenbeispiel finden wir im House of Commons, dem britischen Unterhaus. Dort agiert die Opposition klassisch kompetitiv, also wettbewerbsorientiert, und beschränkt sich strikt darauf, den Bürgerinnen und Bürgern in öffentlicher Debatte ihre Kritik an der Regierung zu vermitteln.

Dritte Lesung: In aller Regel schließt sich an die Zweite Lesung umgehend die Dritte Lesung, die Schlussabstimmung, an. Dabei ermittelt der Bundestagspräsident die Ja- und Neinstimmen sowie die Enthaltungen. Die Abgeordneten erheben sich dazu von ihren Plätzen oder geben Handzeichen. Ist der Sitzungsvorstand sich nicht über das Ergebnis einig oder muss bei bestimmten Beschlüssen festgestellt werden, ob die erforderliche qualifizierte Mehrheit erreicht ist, ordnet der amtierende Präsident den sogenannten Hammelsprung an, das heißt die genaue Auszählung der Stimmen.

Namentliche Abstimmungen sind die große Ausnahme. Sie können von einer Fraktion (bzw. Abgeordneten in Fraktionsstärke) beantragt werden und dienen dazu, das individuelle Abstimmungsverhalten der Abgeordneten transparent zu machen und im Protokoll zu dokumentieren. Dies wird von den Fraktionen entweder als Methode benutzt, um den Wählerinnen und Wählern eindrucksvoll ihr Engagement zu beweisen oder um den politischen Gegner bei Uneinigkeit in dessen Lager strategisch zu treffen: So kann die mangelnde Geschlossenheit der Gegenseite vorgeführt werden, oder man kann politische Positionen auf diese Weise besonders anprangern.

Im Saldo lässt sich dem Bundestag bescheinigen, dass er im Sinne der Typologie als fleißiges Arbeitsparlament gelten kann. In den arbeitsteiligen Strukturen ihrer Fraktionen legen die Abgeordneten erhebliche Effizienz an den Tag und können – entgegen einer gängigen populistischen Behauptung – keineswegs als Spielbälle von Regierung und Ministerialbürokratie abgetan werden. Diese haben zwar den Vorteil der Initiative und der personellen sowie materiellen Ressourcen zu ihrer Ausarbeitung. Doch erstens ist dies in der parlamentarischen Demokratie mit ihrer Handlungseinheit aus Parlamentsmehrheit und Regierung auch genauso beabsichtigt, und zweitens bleiben deshalb Minister und Beamte letztlich immer von der Kooperations- und Zustimmungsbereitschaft der Abgeordneten abhängig. Auch die Orientierung der Bundestagsmitglieder an effektiver Erledigung ihrer Aufgaben und ihr Interesse, über Spezialisierung und Teamgeist im Parlament persönlich wirkungsmächtig zu sein, sind weitere Gegengewichte zu einer insofern nur auf den ersten Blick als übermächtig erscheinenden Exekutive.

Beteiligung des Bundesrates: Mit der Behandlung im Bundestag ist der Gesetzgebungsprozess in der föderal gegliederten Bundesrepublik Deutschland noch nicht abgeschlossen. Die Länderkammer, der Bundesrat, hat ein gewichtiges Wort mitzusprechen, denn es sind die Länder, die den größten Teil der Bundesgesetze vollziehen. So liegt es nahe, ihre administrativen Kenntnisse und Erfahrungen schon frühzeitig in die Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen.

Jeder Gesetzesbeschluss des Bundestages muss darum dem Bundesrat zugeleitet werden. Handelt es sich um Materien, die auch Belange der Bundesländer betreffen, insbesondere in deren Verwaltungsverfahren oder Finanzen eingreifen, ist die Zustimmung des Bundesrates zwingend erforderlich, damit ein Gesetz zustande kommt. In allen anderen Fällen hat der Bundesrat das Recht, Einspruch einzulegen, der aber vom Bundestag wiederum überstimmt werden kann.

Vermittlungsausschuss: Es besteht die Möglichkeit, einen Vermittlungsausschuss anzurufen, um Meinungsverschiedenheiten über eine Gesetzesvorlage zu beseitigen. Dieser setzt sich aus 16 nach Fraktionsstärke berufenen Abgeordneten des Bundestages und 16 Vertretern des Bundesrates, je einem pro Bundesland, zusammen. Existieren parteipolitisch unterschiedliche Mehrheiten in den beiden Kammern, hat der Vermittlungsausschuss besonders viel zu tun, denn die im Bundestag mit ihren Vorstellungen unterlegene Opposition wird natürlich versuchen, ihre Mehrheit im Bundesrat dafür zu nutzen, Korrekturen am Gesetz vorzunehmen.

So musste die Kohl-Regierung in der 12. und 13. Wahlperiode, als die SPD-geführten Landesregierungen im Bundesrat über die Mehrheit verfügten, 166-mal hinnehmen, dass ihre Vorhaben im Vermittlungsausschuss verhandelt wurden; und die rot-grüne Regierungsmehrheit unter Kanzler Schröder hatte zwischen 1998 und 2005 in 175 Fällen mit der unionsgeführten Bundesratsmehrheit im Vermittlungsausschuss nach Kompromissen für ihre Gesetzesbeschlüsse zu suchen. Nur 73 dieser insgesamt 341 Vermittlungsverfahren blieben erfolglos, sodass dem Ausschuss viel Respekt gezollt, er allerdings auch gelegentlich als "heimlicher Gesetzgeber" etikettiert wurde.

In den nachfolgenden drei Wahlperioden während der Kanzlerschaft Merkels kam es weit seltener zur Anrufung des Vermittlungsausschusses. In der 16. Wahlperiode, als die CDU mit der SPD regierte, wurde der Vermittlungsausschuss 18-mal angerufen, in nur einem Fall versagte der Bundesrat dennoch die Zustimmung. Während der darauffolgenden schwarz-gelben Koalition musste der Ausschuss bei 44 Gesetzesbeschlüssen tätig werden, zwölf davon scheiterten am Widerstand der Länderkammer. In der dritten Großen Koalition von 2013 bis 2017 wurde der Vermittlungsausschuss dagegen nur dreimal zu Rate gezogen, war aber in zwei Fällen nicht erfolgreich.

Stellt man in Rechnung, dass der Bundestag pro Jahr zwischen 170 und 200 Gesetzesvorlagen behandelt, spiegeln diese Zahlen zum einen die erhebliche Kompromissfähigkeit und Repräsentationsleistung des Parlaments wider. Zum anderen sind sie allerdings auch das Resultat eines drastischen Wandels der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Zwar waren schon seit 1969 gleichgerichtete parteipolitische Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die Ausnahme, aber es waren eben nur vier Parteien – CDU/CSU, SPD und FDP –, die sich in unterschiedlichen Koalitionskonstellationen in Bundestag und Bundesrat gegenüberstanden und gesetzgeberische Konflikte lösen mussten.

Mittlerweile werden in den Bundesländern aber die politischen Lager übergreifende Regierungsbündnisse gebildet, sodass gegenwärtig nicht weniger als elf verschiedene Parteikombinationen die Landesregierungen stellen. Sie reichen von den "klassischen" Formaten der Großen (CDU/SPD) und kleinen Koalitionen (SPD/Grüne und CDU/FDP) über Bündnisse aus Grünen und Christdemokraten bis zu "Jamaika" und "Kenia", also CDU/Grüne/FDP und CDU/SPD/Grüne. Da die Landesregierungen ihre Stimmen im Bundesrat nur einheitlich abgeben können, führt diese Vielfalt dazu, dass Mehrheiten in der Länderkammer schwerer zu erreichen sind und kaum im Vorwege kalkuliert werden können.

Dies dürfte den Gesetzgebungsprozess im Bund durchaus erschweren. Seit der zweiten Wahlperiode bedurften regelmäßig zwischen 50 und 60 Prozent aller Gesetzesvorlagen, die der Bundestag verabschiedete, der Zustimmung durch den Bundesrat. Damit erhöhte sich dessen Einflusspotenzial erheblich. Zwar scheiterten letztlich nur wenige Gesetze an einer oppositionellen Mehrheit in der Länderkammer – von 1949 bis 2005 höchstens ein Dutzend pro Wahlperiode, was durchschnittlich nur gut einem Prozent aller vom Bundestag verabschiedeten Gesetze entsprach; aber darunter befanden sich zentrale Reformvorhaben der jeweiligen Regierungskoalition.

Außerdem darf die antizipierende Wirkung nicht unterschätzt werden, die im Vorhinein von der Kenntnis dieses Sachverhalts ausgeht: Weiß die Bundestagsmehrheit, dass ihre Gesetze auf eine gegnerische Parteienmehrheit im Bundesrat treffen, wird sie oft schon im Vorwege Kompromisse schließen (müssen). Die massiven Blockadevorwürfe, die aus diesen Zusammenhängen heraus wiederholt an den Bundesrat und die dort vertretenen Landesregierungen gerichtet wurden, erschienen oft aus taktischen Gründen übertrieben und vernachlässigten zumeist die positiven Effekte, die jahrzehntelang von der Aufgabenzuweisung im deutschen Bundesstaat ausgingen.

Im Kern war die Kritik aber nicht von der Hand zu weisen und trug mit dazu bei, dass es im Sommer 2006 schließlich nach etlichen Anläufen gelang, eine Föderalismusreform auf den Weg zu bringen. Die Grundgesetzänderungen, die in diesem Zusammenhang verabschiedet wurden, sollten eine Entflechtung der Aufgaben von Bund und Ländern bewirken. Die Hoffnung, dass damit auch die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze sinken würde, scheint sich zu erfüllen: Bereits in der 16. Wahlperiode reduzierte sich ihr Anteil an der Gesetzgebung auf 41,8 Prozent und im 17. Bundestag auf 38,3 Prozent. Auch die Einsprüche des Bundesrates gegen jene Gesetzesvorlagen, die nicht seiner Zustimmung bedürfen, bewegen sich in aller Regel im einstelligen Bereich.

So gelang es dem Deutschen Bundestag, die Gesetzgebungsfunktion in den fast siebzig Jahren seines Bestehens durch sachpolitische Expertise und Verhandlungen im Bundesstaat, durch Repräsentation der vielfältigen Interessen in der Gesellschaft und deren Ausgleich zu erfüllen.
Mit der parlamentarischen Letztentscheidung erfährt das Gesetz schließlich seine demokratische Legitimation. Nur durch sie wird Allgemeinverbindlichkeit erreicht, also die Verpflichtung aller Bürgerinnen und Bürger, dem Gesetz Folge zu leisten. Die formellen Schlusspunkte im Gesetzgebungsverfahren setzen die Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder den zuständigen Bundesminister, die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und die Verkündung im Bundesgesetzblatt.

Wahrnehmung der Öffentlichkeitsfunktion

Vor- und Nachteile der Transparenz

Wird dem Bundestag in wissenschaftlichen Untersuchungen bescheinigt, seine Gesetzgebungsfunktion weit überwiegend gut wahrgenommen zu haben, so fällt das Urteil hinsichtlich der Erfüllung seiner Öffentlichkeitsfunktion weniger günstig aus.
Der Bundestag hat sich nicht, wie anfänglich erwartet, zu einer Mischform von Arbeits- und Redeparlament entwickelt. Schon bald lautete die Kritik, es werde im Bonner Parlament zu viel hinter verschlossenen Türen verhandelt. In den ersten drei Wahlperioden kamen auf eine öffentliche Sitzung fast zwanzig nicht-öffentliche. Dieses Verhältnis verbesserte sich zwar in den Folgejahren, doch geschah dies vor allem, weil die Anzahl der Ausschusssitzungen drastisch abnahm. Einen gewissen öffentlichen "Lichtblick" stellte die vermehrte Nutzung der Hearings seit 1961 dar; aber auch noch zum 40. Jubiläum des Bundestages 1989 gab es genug Grund, das Parlament an seinen Verfassungsauftrag zu erinnern: Artikel 42 GG fordert, dass der Bundestag öffentlich verhandelt.

Erst seit Mitte der 1990er-Jahre werden in der Praxis häufiger die Türen von Ausschüssen und Enquete-Kommissionen geöffnet. Die Grünen sorgten kurzzeitig für einen Anstieg der öffentlichen Sitzungen, indem sie die Versammlungen ihrer Fraktion für das allgemeine Publikum zugänglich machten. Die Erfahrung, wie gnadenlos negativ anschließend mit den dort ausgetragenen Kontroversen in den Medien umgegangen wurde, veranlasste die Fraktion jedoch rasch, diesen Versuch zu beenden. Denn sie hatte nicht das erhoffte bessere Verständnis für die politischen Willensbildungsprozesse erreicht, sondern die bekannte Kritik, teilweise auch Abstrafung für "mangelnde Geschlossenheit" geerntet. Seit 1990 tagen die Bündnisgrünen wieder in nicht-öffentlichen Sitzungen und präsentieren nach Möglichkeit, wie die anderen Fraktionen auch, erst dann ihre Positionen der Öffentlichkeit, wenn nicht mehr der Vorwurf der Zerstrittenheit, der Führungs- und Handlungsunfähigkeit erhoben werden kann.

Offenbar erweist sich also immer noch als zutreffend, was Otto von Bismarck, deutscher Reichskanzler von 1871 bis 1890, behauptet hatte: Die Herstellung von Würsten und das Gesetze machen hätten gemeinsam, dass man schlecht schlafe, wenn man sähe, wie es geschieht. Dennoch werden immer wieder Forderungen nach mehr Transparenz an die politischen Institutionen herangetragen und dies aus guten Gründen: Nur wenn sich die Bürgerinnen und Bürger ein realistisches Bild von den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen machen können, sind sie auch zu einem angemessenen Urteil fähig. Nur wenn ihnen verschiedene Problemsichten und Lösungsalternativen von den Politikern präsentiert werden, können sie eine Wahl treffen, wird Wahl im pluralistisch-demokratischen Sinne sogar erst möglich.

Die Plenardebatte

Genau diesem Zweck dient die parlamentarische Debatte. Im Bundestag finden pro Jahr etwa sechzig Plenarsitzungen statt. Die dort gehaltenen Reden sollen den Bürgerinnen und Bürgern die unterschiedlichen Standpunkte der Fraktionen von Regierungsmehrheit und Opposition darstellen und begründen. Das Ringen um die beste Lösung bei komplexen Sachfragen, die gegenseitige Überzeugung und das Aushandeln von Kompromissen für die "gerechte", die gemeinverträgliche Entscheidung kann naturgemäß nicht in einer Versammlung mit hunderten von spontan diskutierenden Personen geschehen. Wichtiger noch: Die oben beschriebene Logik des parlamentarischen Regierungssystems verlangt die – vom Wähler so gewollte und legitimierte – Führung durch die Mehrheit einerseits und offene Kritik durch die Opposition andererseits. Entsprechend sind die geschilderten Arbeitsstrukturen des Bundestages angelegt. In ihnen werden die Positionen geklärt und die Entscheidungen vorbereitet. In der Plenardebatte wird dafür dann öffentlich die Verantwortung übernommen – von der Mehrheit für die von ihr durchgesetzte Politik, von der Opposition für deren Kritik und Ablehnung.

Deshalb ist es sachlich auch nicht erforderlich, dass alle Abgeordneten an der Plenardebatte teilnehmen, wie es angesichts "leerer Bänke" im Bundestag immer wieder gefordert wird. Das oft wie eine Entschuldigung angeführte Argument, dass die Parlamentarier gleichzeitig etwa in Ausschüssen arbeiten müssten, trifft ohnehin nicht zu, denn solche Überschneidungen sieht der Terminplan des Bundestages nur in seltenen Ausnahmefällen vor. Betrachtet man diese Frage allerdings unter der Perspektive effektiver Zeitnutzung der Abgeordneten, müssen sich im Plenum tatsächlich nur jene einfinden, die das jeweils anstehende Thema auch behandelt haben und folglich zu seiner öffentlichen Darstellung inhaltlich etwas beitragen können. So verhalten sich in der Regel auch die Bundestagsabgeordneten und gehen, wenn sie nicht mit ihrem Sachverstand für ihre Fraktion gefordert sind, vernünftigerweise anderen Aufgaben nach.

Der Bundestag hat auf die anhaltende Kritik an der nicht befriedigenden Erfüllung seiner Öffentlichkeitsfunktion reagiert. Inzwischen werden häufiger Sitzungen von Ausschüssen und Enquete-Kommissionen geöffnet und auch vom Parlamentsfernsehen übertragen. Seit drei Wahlperioden stehen einer öffentlichen Sitzung nur noch zwischen drei und vier nicht-öffentliche gegenüber. Weitere Bemühungen, zum Beispiel durch Öffentlichkeitsarbeit, Besucherprogramme, durch Ausstellungen und Publikationen realitätsgerecht über die Arbeit des Parlaments zu informieren, treten hinzu.

Allerdings haben sich die Bedingungen für die Vermittlung von Politik, die Formen, in denen über politische Inhalte informiert und diskutiert wird, über die letzten Jahrzehnte deutlich verändert. Im Vordergrund steht nicht mehr der persönliche Kontakt zwischen Abgeordneten und Wählerschaft, etwa bei Veranstaltungen oder Bürgersprechstunden im Wahlkreis, oder aber das geschriebene Wort, etwa in der Presse sowie in Veröffentlichungen der Parteien.

Vermittlung von Politik im Fernsehen

Seit längerem schon war das Fernsehen das bevorzugte Medium, das die meisten Menschen über Politik ins Bild setzte und das im wahrsten Sinne des Wortes: Fernsehen braucht Bilder, was die Art der Informationsvermittlung und den Stil der Kommunikation zwischen Politik und Bürgerschaft beeinflusst. Ein mediengerechtes Erscheinungsbild und ein sicheres Auftreten vor der Kamera werden zu Kriterien für die Eignung von Politikern und fördern die Personalisierung von Politik. Teure Sendezeiten oder ein vermeintlich geringes Publikumsinteresse diktieren oft eine Verkürzung und Vereinfachung bei der Darstellung komplexer politischer Zusammenhänge.

QuellentextRolle der Medien

Im Prozess der politischen Meinungsbildung werden den Medien häufig folgende Aufgaben zugeordnet:

  1. Information über Geschehnisse und Meinungen;

  2. Artikulation von Meinungen, wie sie in der Bevölkerung bestehen;

  3. Kritik und Kontrolle gegenüber Regierungen, Parteien etc.

Unbestritten sind dabei die beiden erstgenannten Funktionen, bei denen die Medien lediglich als Mittler operieren. Was hingegen ihre Rolle als kritisierende und kontrollierende Akteure angeht, steht dem die These gegenüber, Verlegern, Intendanten und Journalisten fehle es an demokratischer Legitimation für eine derartige Akteursrolle; sie sollten nur als "Moderatoren" fungieren. Selbst dann bliebe ihnen unvermeidlich die Themen- und Nachrichtenauswahl.

Wendet man sich der Frage zu, wie die Medien die ihnen zugeordneten Funktionen erfüllen, so fallen Defizite und Probleme ins Auge:

1. In der medialen Vermittlung der Politik wird – besonders bei Fernsehen und Boulevardpresse – ein Trend zur Vereinfachung, Personalisierung und Emotionalisierung konstatiert: "Die dramaturgischen Notwendigkeiten – Spannung, Verkürzung, Simplifizierung – lassen Kontinuität und Rationalität auf der Strecke", fasst [Heinrich] Oberreuter zur Fernsehvermittlung der Politik zusammen. Auf diese Weise wird einerseits oberflächliche Anteilnahme und unbegründetes Kompetenzbewusstsein beim Publikum, andererseits dem entsprechendes Öffentlichkeitsverhalten bei Politikern erzeugt. Politiker entwickeln häufig eine "symbiotische Kommunikationsgemeinschaft" mit Journalisten, produzieren bloße Medienereignisse und bedienen sich einer plakativ-symbolischen Sprache. Die Unsachlichkeit von Wahlkämpfen ginge demnach "also eher von Journalisten selbst aus, als von Politikern."

2. Ähnlich problematisch wirkt sich eine zweite strukturelle Bedingung medialer Vermittlung aus, die journalistische Auswahl nach "Nachrichtenfaktoren". Zu ihnen zählen: der (gehobene) Status eines Akteurs, die Konflikthaftigkeit und die Relevanz eines Themas für viele Menschen, die Identifikation (dank räumlicher Nähe und Emotionalisierung), Dramatik und Affinität des Geschehens. Im Ergebnis wird dem Atypischen Vorrang vor dem Normalen, der Neuigkeit vor der Wiederholung (Neophilie), der affektiv ansprechenden Katastrophe bzw. dem Skandal vor ordentlichen Verhältnissen (Videomalaise) eingeräumt. So notwendig dies ist, um Aufmerksamkeit zu erringen, hat es zur Folge, dass beim Konsumenten im Laufe der Zeit ein systematisch verzerrtes Bild der Welt entsteht.

3. Allgemein wird den Medien die Wirkung zugeschrieben, die Themen der Politik und Diskussion zu bestimmen (agenda setting). Dabei neigen sie dazu, bei Wahlen den Akzent relativ stark auf Politikkonstellationen und Personen (horse race-Aspekte) zu Lasten von Sachthemen zu legen. Bezeichnend das Ergebnis einer inhaltsanalytischen Untersuchung zur Wahl 2005: Konkrete Parteiziele seien am wenigsten in Fernsehnachrichten, nur begrenzt in Tageszeitungen, Talkshows und Politikerreden vermittelt worden – in ihrer Mehrheit "überhaupt nicht".

Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 424 ff.

Chancen und Herausforderungen durch Neue Medien

Auch das Internet als Medium der Information und des direkten, wenngleich nicht persönlichen Kontaktes zwischen Bürgern und Politik sowie die neuen Sozialen Medien gewinnen ständig an Bedeutung. Nach Umfragen und Untersuchungen zum Kommunikationsverhalten der Parlamentarier unterhalten so gut wie alle eine eigene Homepage, und circa drei Viertel der gegenwärtigen Mitglieder des Bundestages verfügen über einen Twitter-Account (mit großen Unterschieden zwischen den Fraktionen). Ebenfalls drei Viertel nutzen nach eigenen Angaben das Internet oft oder sehr oft in ihrem politischen Alltag und stellen auch fest, dass die Kontaktaufnahme seitens der Bürger am ehesten über das Internet stattfindet.

Mit der Verbreitung des Internets hat das Phänomen der "Breaking News", die Orientierung am Neuigkeitswert, noch einmal deutlich das Tempo erhöht, mit dem die Politik reagieren muss. Speziell der Siegeszug der Sozialen Medien, die – insbesondere bei der jüngeren Generation – zunehmend das Fernsehen ersetzen, stellt Bemühungen um eine sachgerechte Information über Politik und eine angemessene Urteilsbildung vor erhebliche Herausforderungen. Wissenschaftliche Befunde über Ausmaß und Auswirkungen der Nutzung von Facebook, Twitter und anderen Onlinediensten zur politischen Kommunikation zeigen bislang zwiespältige Folgen für die Qualität der politischen Diskussion auf. Einerseits gelingt es über Soziale Medien, breite Bevölkerungskreise zu erreichen und zu mobilisieren. Andererseits belegen Auswüchse wie Hasskommentare und sogenanntes Flaming (beleidigende Äußerungen) ob anonym oder unter Namensnennung ins Netz gestellt, sinkende Hemmschwellen in der Kommunikation und können eine wechselseitige Radikalisierung Gleichgesinnter in den "Echokammern" des Netzes bewirken. Vertreter unterschiedlicher Positionen und "Echokammern" untereinander attackieren sich, und schon Kleinigkeiten können breite Öffentlichkeiten zu "shit storms" animieren. Diese Gegebenheiten erschweren es dem Parlament und seinen Abgeordneten erheblich, sachlich über ihre Aktivitäten und die Ergebnisse ihrer Arbeit zu informieren.

QuellentextVor- und Nachteile von Facebook

[…] Es gibt wohl kein Medium, anhand dessen sich der Streit um Vor- und Nachteile der digitalen Revolution besser ablesen lässt als an Facebook. Es […] verbindet […] charakteristische Merkmale dessen, was überhaupt neu und revolutionär zu sein scheint am Internetzeitalter: Interaktion, Partizipation und Multimedialität. Den Untergang des Qualitätsjournalismus verkünden die einen, eine neue Stufe der Demokratie die anderen.
Zweifellos, die Visionen der Internetoptimisten in den 1990er Jahren wurden teilweise von der Realität überholt, etwa der Glaube daran, "verzögerte Schriftlichkeit in Diskussionsforen müsse zu sensiblerer, rationaler und reflektierender Kommunikation führen". Dennoch lohnt ein Blick auf das, was dahintersteckt: die Vision eines demokratiestiftenden (sozialen!) Netzwerks.

Als Keimzelle dieser Ideologie könnte man die niedrige Zugangshürde des Mediums und die damit verbundene demokratische Grundidee gesellschaftlicher Teilhabe benennen. Unabhängig von Bildungsgrad, Einkommen oder Herkunft kann sich jeder bei Facebook (oder anderen sozialen Netzwerken) anmelden und findet dort dieselben Inhalte. Die Grundvoraussetzungen, um am öffentlichen (digitalen) Diskurs teilzunehmen, sind beinahe gleich. Noch nie zuvor waren Informationen und Nachrichten so günstig und vielfältig zugänglich wie im World Wide Web; auch ohne Zeitungsabonnements bekommen Nutzer zahlreiche, oft kostenlose Informationen. Hinzu kommt, dass durch diesen Reichtum an Inhalten das thematische Monopol der traditionellen Medien durchbrochen werden konnte.

Jeder darf mitmachen, ohne Korrektur und Qualifikation – diese Prinzipien haben jedoch auch ihre Schattenseiten. […]

Je abstruser die Argumentation, je aggressiver der Umgangston, desto größer die Aufmerksamkeit – statt eines konstruktiven Dialogs findet sich häufig ein von Hass und Häme erfüllter Schlagabtausch. Manche Experten sprechen daher gar vom Internet als rechtsfreiem Raum und nennen es "das größte Anarchismusexperiment aller Zeiten".

Was aber ist diese digitale Agora unserer Zeit? Grundlage gelebter Demokratie oder Plattform für Gewalt, Hass und Grenzüberschreitung? Eine rhetorische Frage. Denn natürlich kann man sowohl für das eine als auch für das andere Extrem Beispiele finden. […]

"Massenmedien", das waren Ende des 20. Jahrhunderts die großen Verlage und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, daneben gab es wenig. Diese Zeiten sind vorbei. Medien sind heute überall und werden von unterschiedlichsten Akteuren befüllt und betrieben. […]

Wohin die Einflussnahme von Facebook auf den konventionellen Journalismus führen kann, lässt sich bereits jetzt am Verhalten einiger Medien erahnen. Weil es den Nutzern wie beschrieben in erster Linie darum geht, unterhalten zu werden, braucht man nicht viel Fantasie, um zu erraten, welche Artikel am häufigsten in sozialen Medien geteilt und kommentiert werden. Den Leuten gefällt das Lustige, Absurde oder Emotionale. […] Konkret heißt das: viel Comedy, einige absurde Meldungen […], reißerische Themen [….].

Nun könnte man entgegnen: Es muss ja nicht zwingend Facebook der Ort sein für ernsthafte Diskussionen. Wenn es doch dort eher um Unterhaltung geht, wieso unnötig Inhalte einstreuen, die ohnehin nicht geklickt werden?

Wieso? Weil es eben gerade nicht in erster Linie um Klickzahlen geht. Oder besser gesagt: gehen sollte! Es ist nicht entscheidend, wie viele Nutzer einen Beitrag mit "gefällt mir" markieren, sondern was für eine Information am Ende hängenbleibt. Wenn jedes Thema nur noch auf seinen Unterhaltungsaspekt hin abgetastet und entsprechend für Facebook aufbereitet wird, verfälscht das offensichtlich die Kriterien der Relevanz. […]

Thilo Braun "Marktgeschrei wie auf der Agora", in: Michael Steinbrecher / Günther Rager (Hg.): Meinung Macht Manipulation, Westend Verlag GmbH, Frankfurt 2017, S. 51 ff.

Für das Zusammenwirken der politischen Akteure und der (klassischen) Medien ist festzuhalten, dass sich ihre Verhaltensweisen gegenseitig bedingen. Beide Seiten haben sich aufeinander eingestellt, nutzen einander und sind aufeinander angewiesen. Im Ergebnis hat das Plenum des Bundestages als Ort der direkten Vermittlung von Politik an Bedeutung verloren. Insofern geht die oft erhobene Klage, früher habe es im Gegensatz zu heute im Bonner Parlament viel mehr begnadete, charismatische Redner gegeben, am Kern vorbei. Für die Außenwirkung eines Politikers wie für die Verbreitung politischer Informationen und Botschaften ist der Auftritt in einer einschaltquotenstarken Talkshow viel wirkungsvoller als eine gute Rede im Plenum des Bundestages. Und die Möglichkeiten, die das Internet und die Sozialen Medien bieten, um für Themen zu mobilisieren, dürften – im Guten wie im Schlechten – noch längst nicht ausgereizt sein. Manche dieser Aspekte geben Anlass zu Bedauern und Kritik, andere werden als Chance zur Bereicherung des politischen Diskurses wahrgenommen. In jedem Fall werden diese Entwicklungen von breiten Kreisen aus Politik, Medien und Öffentlichkeit gemeinsam getragen.

Angesichts dieser Zusammenhänge kommt den Parteimitgliedern vor Ort keine geringere, sondern eher eine gesteigerte Bedeutung für die Vermittlung von Politik zu. Sie wirken in Familie und Freundeskreis, im Beruf und in Vereinen und verkörpern so die Notwendigkeit wie Vernünftigkeit politischen Engagements. Parteien sind auf diese Weise unverzichtbare Bausteine für eine funktionierende Demokratie. Erst diese Verwurzelung in der Bürgerschaft bringt auch den politischen Nachwuchs für die Parlamente hervor und bestimmt so über die Qualität künftiger politischer Entscheidungen.

Artikulationsfunktion – das Parlament als Bindeglied von Politik und Gesellschaft

Die Vermittlung und Begründung von Politik, sei es direkt im Plenum oder sei es über Medien, ist nur die eine Richtung der Kommunikation zwischen Abgeordneten und Bürgern. Im Gegenzug müssen Parlamentarier darüber hinaus gesellschaftliche Interessen wie Wählermeinungen in die politischen Institutionen transportieren und für deren angemessene Berücksichtigung im Entscheidungsprozess sorgen.

Dass es der Vielschichtigkeit menschlicher Interessen widerspräche und fatale Konsequenzen für die Kompromiss- und Handlungsfähigkeit von Politik hätte, wollte man diese Funktion über "soziale Repräsentativität", also die spiegelbildliche Zusammensetzung des Parlaments erreichen, ist bereits dargelegt worden (siehe S. 43). Der Bundestag ist kein "Abbild" der Bevölkerung und muss es auch nicht sein, solange gewährleistet ist, dass zwischen Repräsentierten und Repräsentanten eine ständige lebendige Verbindung besteht.

Vernetzung mit dem Wahlkreis

Ihrer Aufgabe, das Bindeglied zu sein, kommen die Abgeordneten auf vielfältige Weise nach. So pflegen alle Mitglieder des Bundestages eine enge Vernetzung mit ihren Parteiorganisationen. Die meisten von ihnen behalten sogar Vorstandspositionen vor allem in Ort und Kreis bei. Dies dient nicht nur zur Sicherung der eigenen Hausmacht, sondern schafft auch Kontakte zur Parteibasis, zur Wählerschaft, den Vereinen und den Verbänden.

Viele Abgeordnete nehmen zudem kommunalpolitische Aufgaben wahr. Sie fungieren als Gemeinde- und Kreisräte, teils sogar als Bürgermeister und sind im vorpolitischen Raum, also in Vereinen, Verbänden und Interessengruppen, aktiv. Hier werden nicht nur Politik und parlamentarische Entscheidungen erklärt und vermittelt, sondern vor allem Informationen aufgenommen (siehe, S. 44), Interessen ermittelt, Meinungen abgefragt, Stimmungen erfühlt – alles wichtige Bausteine für die Willensbildung im Parlament. In welchem Ausmaß die Abgeordneten sich diesen Kontakten widmen, zeigen Studien zu ihrem Zeitbudget: 33 der durchschnittlich 78 Arbeitsstunden einer sitzungsfreien Woche und knapp 20 Arbeitsstunden einer ebenso langen Sitzungswoche verbringen MdBs mit solchen Tätigkeiten.

Fragt man die Parlamentarier nach der Bedeutung ihrer verschiedenen Aufgaben, so halten 84 Prozent es für wichtig, stets für die Bürgerinnen und Bürger zugänglich zu sein. In einer Umfrage von 1994 unter 2800 deutschen Landes-, Bundes- und Europaparlamentariern verstanden sich 86 Prozent der Befragten vor allem als "Sachwalter des Gemeinwohls", und 89 Prozent stimmten der Aufgabenbeschreibung zu, sie sollten die Anliegen und Interessen der Bürgerinnen und Bürger im Parlament vertreten.

Des Weiteren haben Detailstudien zur Wahlkreisarbeit von 2011 bis 2013 ergeben, dass den Abgeordneten Bürgernähe ein wichtiges Anliegen ist und die meisten sich erfolgreich darum bemühen. Vor Ort steht dabei nicht die Vermittlung der eigenen Politik, sondern die Informationsaufnahme im Vordergrund (siehe S. 44). Die hier entstehenden Kontakte mit der Lebens- und Alltagswelt der Bürger sind im Selbstverständnis der Abgeordneten zudem wichtig für die Arbeit im Parlament. 86 Prozent der MdBs schreiben daher der Wahlkreisarbeit eine große oder sehr große Bedeutung für die Tätigkeit in Berlin zu. Dies lässt darauf schließen, dass die aufgenommenen Positionen, Perspektiven und Praxisbeispiele tatsächlich in den Bundestag transportiert werden, wenngleich unstrukturiert, gefiltert und selektiv.

Nicht zuletzt erhellen Daten zur Repräsentationsleistung im Wahlkreis, dass die Kommunikationsnetze der Abgeordneten in die gesamte Gesellschaft hineinreichen. Auch aus diesem Blickwinkel besteht also keine Notwendigkeit für eine sozial spiegelbildliche Zusammensetzung des Parlaments. Eingeschränkt werden die Möglichkeiten kommunikativer Rückbindung eher durch praktische Gegebenheiten: Abgeordnete aus kleinen Parteien beispielsweise müssen mehrere Wahlkreise gleichzeitig, also sehr viele Menschen betreuen; Spitzenpolitikern wiederum fehlt es häufig an Zeit für den intensiven persönlichen Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern.

Wechselseitige Beeinflussung

Studien zur Responsivität, also, verkürzt gesagt, zur Frage, ob Politiker entsprechend den Interessen und Einstellungen der Wählerinnen und Wähler handeln, bestätigen ein Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung zwischen Öffentlichkeit und Parlament. Oft nehmen dabei die Abgeordneten beziehungsweise die Regierung eine Führungsrolle ein, "das heißt, parlamentarisches Handeln führt eher zu einem Meinungswandel, als dass die Veränderung der Bevölkerungspräferenzen dem parlamentarischen Handeln vorausgeht. Allerdings findet sich nie ein ausschließlich in eine Richtung verlaufender Einfluss, sondern öffentliche Meinung und Politik beeinflussen sich in unterschiedlichem Maße gegenseitig", so der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider. Auch wenn diesen Untersuchungen zufolge der Bundestag eine kommunikative Führungsfunktion wahrnimmt, so wird ebenso deutlich, dass dies im Wechselspiel von Bürgerschaft und Politik stattfindet. Von "Abgehobenheit" und "Bürgerferne" zeugen all diese Fakten und Daten jedenfalls nicht.

Der obige Befund zur Gesetzgebungsfunktion, dass die Bundestagsabgeordneten sich also offenbar mit viel Detailarbeit darum bemühen, politisch wie sachlich überzeugende Lösungen für anstehende Probleme zu finden, ist ein weiterer Mosaikstein für die Bewertung der Artikulationsleistung. Nimmt man die etwa in Wahlbeteiligung und Wahlverhalten über Jahrzehnte ausgedrückte grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung zu Parlament und Parteien hinzu, so darf geschlossen werden, dass es dem Bundestag im Saldo gelungen ist, eine breite Repräsentation zu gewährleisten und gesellschaftlichen Ausgleich herzustellen.

Der Bundestag – Entfernung vom Bürgeralltag und Spielball privilegierter Interessen?

Dennoch hat in den letzten Jahren, wie etliche Umfragen belegen, die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger zugenommen. Verteilungsprobleme im Zuge der europäischen Integration, Auswirkungen der Globalisierungsprozesse und der deutschen Vereinigung sowie die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, zuletzt auch der Umgang mit der Migrationsproblematik und dem Klimawandel haben vermehrt Zweifel geweckt, ob die Repräsentanten sich nicht doch zu weit von der Lebenswelt der Repräsentierten entfernt haben und der Bundestag nicht zum Spielball privilegierter Interessen geworden sei.

Repräsentationsdefizite als Motor des Wandels von Parteien und Parteiensystem

Auch schon in der Vergangenheit waren politische Entwicklungen zu beobachten, in deren Verlauf die Kritik an der Repräsentationsleistung des Parlaments immer stärker wurde. So entstand etwa die aus der Studentenbewegung hervorgegangene sogenannte Außerparlamentarische Opposition der späten 1960er-Jahre aus dem Gefühl von Teilen der jüngeren Generation, im Bundestag nicht vertreten zu sein. Denn die damalige Große Koalition aus CDU/CSU und SPD konnte aufgrund ihrer Mehrheit zahlreiche umstrittene Gesetzes- und gar Verfassungsänderungen (vor allem die umstrittenen Notstandsgesetze) beschließen, gegen die die FDP als einzige Oppositionspartei im Parlament keine wirkmächtige Stimme erheben konnte. Die – thematische und personelle – Öffnung der SPD und der Regierungswechsel zu einer sozial-liberalen Koalition 1969 integrierte diese Bewegung weitgehend in das bestehende Parteiensystem. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums konnte die CDU/CSU – mittlerweile in der Opposition, also nicht mehr in der Verantwortung für konkretes Regierungshandeln – den in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre erstarkten Rechtsextremismus entschärfen und dessen Wähler wieder an sich binden.

Ein gutes Jahrzehnt später gelang es den im Bundestag etablierten Parteien nicht mehr, den gesellschaftlichen Wandel hinreichend aufzunehmen. Zu groß hatten sie die Defizite bei der parlamentarischen Artikulation jener Interessen werden lassen, die gegen Atomkraftwerke, für mehr Umweltschutz und Ressourcenschonung kämpften, nach internationalem Frieden und mehr Gleichberechtigung von Frauen und Männern verlangten. So öffneten CDU/CSU, SPD und FDP selbst die Repräsentationslücke für die Entstehung der Grünen.

Seit einigen Jahren fühlen sich insbesondere Teile der ostdeutschen Bevölkerung nicht ausreichend von den im Bundestag vertretenen Parteien repräsentiert – mit der Folge, dass die nationalistisch, in Teilen rassistisch und rechtsextremistisch gewendete AfD in diese Lücke stoßen konnte. Ob es den anderen Parteien gelingt, die Repräsentationsdefizite zu beheben – sei es durch programmatische Anpassung, sei es durch vermehrte Kommunikation und Überzeugungsarbeit, oder ob es erneut zur dauerhaften Erweiterung des Parteiensystems kommt, bleibt abzuwarten.

Vor- und Nachteile des Lobbyismus

Auf Kritik trifft die Vertretung von Interessen durch den Bundestag und seine Abgeordneten auch unter dem Stichwort Lobbyismus. Als Etikett für Versuche von Interessenvertretern, die Gesetzgebung (und auch -ausführung) in ihrem Sinne zu beeinflussen, hat es meist einen negativen Beiklang.

Aus dieser Sicht sind große Verbände oder gar einzelne Unternehmen mittlerweile politisch viel zu mächtig, wirken zudem nicht nur von außen auf Parlament und Regierung ein, sondern können ihre Positionen sogar intern zur Geltung bringen, weil sie durch Beraterverträge oder anderweitige Geschäftsbeziehungen auch Abgeordnete in ihre Netzwerke einbinden. Einzelfälle, in denen MdBs auf der Gehaltsliste von Konzernen standen, ohne dafür konkrete Arbeit in den Unternehmen zu leisten, trugen weiter zu diesem Eindruck verschleierter und ungerechter Bevorzugung bestimmter Gruppen der Gesellschaft bei.
Sofern mit dieser Kritik die Vertretung von Partikularinteressen gegenüber dem Parlament in Misskredit gebracht werden soll, ist ihr entschieden zu widersprechen. Es gehört zu den Wesensmerkmalen pluralistischer Demokratie, dass sie die Artikulation aller gesellschaftlichen Interessen ermöglicht. Selbstverständlich muss der Bundestag Adressat dieser Anliegen sein; selbstverständlich hat jeder das Recht, sich mit Positionen und Forderungen an seine Repräsentanten zu wenden.

Erst aus dieser Freiheit und der Aufgabe des Parlaments wie der dort versammelten Parteien, die Interessen mittels Konflikt und Kompromiss auszugleichen, kann Gemeinwohl – und damit Gerechtigkeit – erzeugt werden. Darum muss immer wieder aufs Neue gerungen werden, denn in einer freiheitlichen Gesellschaft existiert keine einzige Wahrheit, kein vorgegebenes Gemeinwohl. Und an diesem Ringen müssen sich alle beteiligen dürfen.

Allerdings ergeben sich zwangsläufig Asymmetrien in den jeweiligen Möglichkeiten, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen. Sie resultieren aus den unterschiedlichen persönlichen, kognitiven und finanziellen Ressourcen, über die Einfluss suchende Akteure verfügen. Doch bilden diese Akteure auch ihrerseits eine wichtige Ressource für die Arbeit des Parlaments: Sie versorgen die Politik mit teilweise sehr speziellem Fach- und Insiderwissen sowie technischer Expertise, Informationen also, die in dieser Form auf anderen Wegen nur sehr viel schwieriger beschafft werden können. Außerdem kann ihre Beteiligung die Zustimmung zu politischen Lösungen von vornherein verbessern und deren Akzeptanz vorgetestet werden.

Diskussionswürdig ist deshalb nicht das "Ob" des Einflusses von Interessen – auch solcher, die mit "Macht" finanzieller oder politischer Art ausgestattet sind – sondern das "Wie". Ebenso wichtig wie das Recht, sich jederzeit an den Bundestag und seine Abgeordneten wenden zu können, ist daher der Grundsatz der Transparenz. Es muss durchschaubar sein, wer mit welchem Ergebnis auf den Entscheidungsprozess einwirkt, damit politische Verantwortung durch Bestätigung oder Abwahl der Akteure konkretisiert werden kann.

Können die Bürgerinnen und Bürger erkennen, welcher Verband, welches Unternehmen in welcher Weise und Intensität politisch agiert, dann müssen die Politiker alles daran setzen, den Verdacht unbotmäßigen Einflusses zu vermeiden beziehungsweise zu widerlegen. Einen Schritt in diese Richtung hat der Bundestag getan, als er 2014 eine Neuregelung zur Abgeordnetenbestechung in § 108e Strafgesetzbuch verabschiedete.
Lobbyismus, verstanden als die Artikulation von Interessen gegenüber dem Parlament, darf also nicht unterbunden werden, sondern es bedarf der förmlichen Regeln sowie eines informellen Verhaltenskodexes, seine Formen und Praktiken offenzulegen. Die Wählerschaft kann dann, falls erforderlich, Regelverstöße sanktionieren. Das ist das beste Mittel gegen vorhandenes Misstrauen in der Gesellschaft und die beste Garantie gegen Missbrauch.

QuellentextHerrschaft der Verbände?

Verbandseinfluss im Parlament
Das Bemühen um Einfluss wird in Berlin sichtbar in hunderten Büros von Verbänden. Offiziell sind beim Deutschen Bundestag 2314 Verbände registriert mit der Folge, dass sie bei Bundestagsanhörungen berücksichtigt werden und Hausausweise zu Parlament und Ministerien erhalten können. Diese Verbände lassen ihre Interessen durch eigene Angestellte vertreten (auch 140 einzelne Firmen unterhalten ständige Büros in Berlin), teilweise aber auch durch etwa 30 selbstständige Agenturen, die sich auf Beratung, Veranstaltungen und Kontaktvermittlungen verstehen; relativ häufig trifft man dort auf Anwälte und ehemalige Politiker. Insgesamt wird die Zahl der Lobbyisten, Berater etc. in Berlin auf rund 5000 Personen geschätzt.

Verbandsfärbung des 19. Deutschen Bundestages (Wahl 2017) (© bpb, Quelle: www.bundestag.de)

Wie der Begriff "Lobby" (= Vorhalle des Parlaments, bis zu der Nichtparlamentarier Zugang haben) andeutet, haben diese Lobbyisten zunächst die Aufgabe, Abgeordnete zu beeinflussen. Dies geschieht vor allem durch Kontakte mit "nahestehenden" Parlamentariern. Man versorgt diese mit Unterlagen und Argumenten und wird umgekehrt von ihnen über parlamentarische Entwicklungen informiert. Für 1987–90 lieferte eine Umfrageuntersuchung einen Durchschnitt von 176,8 Kontakten mit Interessenvertretern je Abgeordneten und Jahr.

Ein Indikator für Interesseneinfluss stellt ferner die Verbandsfärbung der Parlamente dar. Bloße Mitgliedschaft bedeutet allerdings keineswegs auch Gefolgschaft gegenüber dem Verband. Beispielsweise betrug der gewerkschaftliche Organisationsgrad der SPD-Bundestagsabgeordneten 2002–13 zwischen 73,4 und 78,9 %, was – entgegen ablehnender DGB-Positionen – keineswegs die Annahme der Agenda 2010-Gesetze durch die Fraktion verhinderte. Bei gewerkschaftlich organisierten Bundestagsabgeordneten "dominiert … die Loyalität gegenüber der eigenen Partei die Loyalität gegenüber den Gewerkschaften." Als zuverlässigerer Indikator für Bindungen gelten daher hauptberufliche oder ehrenamtliche Funktionen in einer Interessenorganisation, gleichgültig, ob fortgeführt oder nur in der Vergangenheit ausgeübt. Für die Gegenwart erhält man das in [der unten stehenden] Tabelle [...] gegebene Bild. Es zeigt ein für die einzelnen Fraktionen spezifisches interessenpolitisches Profil.

Karikatur: "Lobbyisten-Eingang" (© Gerhard Mester)

Sichtbar wird aber zugleich, dass ein einzelner Interessenverband keine Chance hat, eine Mehrheit der Abgeordneten auf sich einzuschwören. Hier hilft die arbeitsteilige Struktur des parlamentarischen Betriebs weiter: Die parlamentarische Willensbildung erfolgt in spezialisierten Parlamentsausschüssen und Fraktionsarbeitsgruppen, deren Vorschlägen die übrigen Abgeordneten meist folgen. Dementsprechend konzentriert sich Verbandseinfluss auf diese parlamentarischen Schaltstellen. Dort sammeln sich überproportional in bestimmten Ausschüssen Mitglieder interessierter Verbände, DGB-Gewerkschafter etwa in dem für Arbeit und Soziales. Interessen haben daher Chancen, sich an solchen Knotenpunkten des Entscheidungsprozesses durchzusetzen.

Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 63 ff.

Letztlich geht es bei der Erfüllung von Parlamentsfunktionen darum, die Legitimität der politischen Entscheidungen herzustellen und damit die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu erzeugen, diesen Entscheidungen zu folgen. Allein auf diese Weise wird sozialer Frieden in einer Gesellschaft auf demokratische Weise möglich. Dieser grundsätzliche Zusammenhang veranlasst die Parlamente und Abgeordneten dazu, nur solche Entscheidungen zu treffen, für die sie entweder schon breite Akzeptanz vorfinden oder für die sie glauben, genügend parlamentarisch gearbeitet, öffentlich geworben und überzeugt zu haben.

Dipl. Pol., Dr. rer. pol., war von 2001 bis 2018 Professorin für Regierungslehre und Policyforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2003 ist sie Chefredakteurin der Zeitschrift für Parlamentsfragen, seit 2016 Gründungsdirektorin des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl); sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des Deutschen Bundestages und Mitgliedder Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Von 2006 bis 2009 war sie Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Repräsentation und Parlamentarismus in Theorie und Praxis. Kontakt:E-Mail Link: schuettemeyer@iparl.de