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"Wirtschaftswachstum ist entscheidend im Kampf gegen Hunger" | Hintergrund aktuell | bpb.de

"Wirtschaftswachstum ist entscheidend im Kampf gegen Hunger"

Christian Kuhlgatz Matthias Klein

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Die Unterschiede sind weltweit noch immer sehr groß: Einige Staaten haben im Kampf gegen Hunger und Mangelernährung in den vergangenen Jahren große Fortschritte erreicht, andere nicht. Eine stabile Wirtschaftspolitik und ländliche Entwicklung seien die Schlüssel zum Erfolg, sagt der Agrarökonom Christian Kuhlgatz im Interview.

Farmarbeiter verlesen auf einer Kakao-Plantage in Ghana die zum Trocknen ausgelegten Kakaobohnen. (© picture-alliance/dpa)

Matthias Klein: Herr Kuhlgatz, weltweit ist die Zahl der hungernden Menschen seit Anfang der 1990er Jahre von einer Milliarde auf rund 800 Millionen Menschen gesunken. Was sind die Gründe dafür?

Christian Kuhlgatz: Ein wesentlicher Faktor ist das Haushaltseinkommen: In den Entwicklungsländern geben Haushalte im Durchschnitt bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrung aus. In den Ländern, in denen die Zahl der Hungernden deutlich gesunken ist, ist die Wirtschaft stark gewachsen. Dadurch stiegen die Einkommen, die Haushalte hatten mehr Geld zur Verfügung. Entscheidend war, dass das Wirtschaftswachstum auch für die arme Bevölkerung Verbesserungen gebracht hat. Um ein solches breitenwirksames Wirtschaftswachstum zu erreichen, musste die Politik die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen verbessern. Beispiele dafür sind eine Eindämmung starker Inflation, eine Abwertung der Währung, eine Stärkung der Eigentumsrechte und langfristige Investitionen in die Infrastruktur. Hinzu kamen Programme zur Unterstützung der Bedürftigen: In Brasilien baute der Staat soziale Netze auf und förderte Ernährungsinitiativen wie beispielsweise Schulspeisungsprogramme. In China unterstützte der Staat die Landwirtschaft, in der besonders viele arme Menschen arbeiten.

Matthias Klein: Die regionalen Unterschiede sind weltweit sehr groß. Liegen die Gründe dafür in strukturellen Unterschieden oder sind aktuelle Entwicklungen wie Naturkatastrophen oder Kriege dafür entscheidend?

Christian Kuhlgatz: Interner Link: In den meisten Fällen geben strukturelle Unterschiede den Ausschlag, die meisten Menschen hungern chronisch. Ein großes Problem ist die Rechtssituation in vielen Entwicklungsländern, die beispielsweise zu Korruption oder Misswirtschaft führt. Erfolgreich sind vor allem Länder, die nicht nur makroökonomische Faktoren wie die Inflation im Blick haben, sondern auch langfristige Investitionen tätigen. Hierzu zählen insbesondere Investitionen in die Infrastruktur, in Bildung, in landwirtschaftliche Beratung und in soziale Transfer- und Ernährungsprogramme. Länder, die hier investieren, sind auch besser gegen Katastrophen wie Dürren und Überschwemmungen gewappnet.

Klicken Sie auf das Bild, um die interaktive Karte zu öffnen. (© bpb)

Matthias Klein: Aktuell hungern besonders viele Menschen in Afrika, besonders stark betroffen sind Burundi und Eritrea. Was sind dort die größten Probleme?

Christian Kuhlgatz: Afrika ist der einzige Kontinent, in dem die Anzahl der Hungernden seit 1990 sogar gestiegen ist. Dies betrifft insbesondere das Afrika südlich der Sahara. Die politisch sehr unsicheren Verhältnisse sind zumeist das Hauptproblem. Viele Länder leiden unter ethnischen Konflikten und daraus resultierenden Kriegen und Bürgerkriegen. Solche blutigen Konflikte haben auch in Burundi und Eritrea maßgeblich zur katastrophalen Ernährungssituation Anfang 2000 geführt. Seitdem konnten sich die beiden Länder kaum erholen, was vorrangig daran liegt, dass die Politik noch keine Rahmenbedingungen für ein anhaltend breitenwirksames Wirtschaftswachstum schaffen konnte. Insbesondere die autokratische Regierung in Eritrea scheint zurzeit keinen Fokus auf die Ernährungssicherung der Bevölkerung zu legen. Einige afrikanische Länder wurden darüber hinaus durch die AIDS/HIV-Epidemie in den 1990er Jahren zurückgeworfen: Diese Krankheit trifft insbesondere die arbeitende Bevölkerung, das Einkommen der Haushalte sank. Allerdings muss man bei einem so großen Kontinent wie Afrika differenzieren: Es gibt durchaus auch Länder, die den Hunger erfolgreich bekämpfen konnten, beispielsweise Ghana, Mosambik, Nigeria, Kamerun oder Angola.

Matthias Klein: Wie ist das gelungen?

Christian Kuhlgatz: Länder wie Ghana und Mosambik haben stabile wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen geschaffen und dann marktorientierte Maßnahmen eingeleitet. Ghana hat beispielsweise seine Volkswirtschaft reformiert, indem es die Märkte liberalisiert, die Währung abgewertet und die Inflation gedämpft hat. Mosambik, das früher zu den weltweit ärmsten Ländern gehörte, hat sich von planwirtschaftlichen Elementen verabschiedet und das Recht auf Nahrung verankert, womit ein langfristiger Fokus auf die Ernährungssicherung gelegt wurde. Das Wirtschaftssystem wurde aber nicht vollständig liberalisiert: Mosambik hält die Preise von Nahrungsmitteln staatlich niedrig. Und auch Ghana stützt seinen sehr bedeutenden Kakaosektor mit staatlichen Mitteln. Diese Politik ist zwar teuer und auch nicht immer auf die Armen ausgerichtet, allerdings können auf diese Weise unvorhersehbare Ertrags- und Preisschwankungen abgemildert werden. Solche Politik kann sinnvoll sein, solange sich Konsumenten und Erzeuger noch nicht selbstständig absichern können – etwa weil die Rechtslage unsicher oder der lokale Finanzsektor unterentwickelt ist.

Matthias Klein: Große Fortschritte gab es auch in Südostasien, in Lateinamerika und in der Karibik: Der Anteil der unterernährten Menschen ist beispielsweise in Thailand, Vietnam, Peru und Nicaragua deutlich gesunken. Woran liegt das?

Christian Kuhlgatz: Sowohl Vietnam als auch Thailand haben stark in die Förderung des Agrarsektors investiert. Zum Beispiel verbesserte sich die Ernährungslage in Vietnam durch Landreformen, eine stufenweise Liberalisierung der Agrarmärkte und außerdem durch Investitionen in die Bildung der ländlichen Bevölkerung. Thailand förderte die ländlichen Räume mit Infrastrukturmaßnahmen, der Vermessung von Land und Vergabe von Landrechten sowie der Unterstützung landwirtschaftlicher Vermarktungsketten. Seit Ende der 1990er Jahre kamen Ernährungsinitiativen und eine medizinische Grundversorgung hinzu. Auch Peru und Nicaragua haben ihre wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen verbessert und auf Einkommenstransfers an Arme sowie eine Stärkung der Landwirtschaft gesetzt. Damit konnte die Nahrungsversorgung in den ländlichen Gebieten gestärkt werden. Viele erfolgreiche Entwicklungsländer sind allerdings abhängig von wenigen Exportprodukten. So kann zum Beispiel ein Ausbruch von Pflanzenkrankheiten wie dem Kaffeerost in Nicaragua schnell zu schwerwiegenden Folgen für die Ernährungssicherung großer Bevölkerungsteile führen.

Matthias Klein: Bedeutet das, dass der Ausbau der Landwirtschaft und nicht etwa eine verstärkte Industrialisierung zu einer verbesserten Ernährungssituation in vielen Ländern geführt hat?

Christian Kuhlgatz: Tatsächlich haben viele Entwicklungsländer zunächst auf die Industrialisierung gesetzt und sich dabei durch hohe staatliche Subventionen stark verschuldet. Die industrielle Fertigung erfordert viel Kapitaleinsatz und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die in Entwicklungsländern oftmals nicht vorliegen. Bei der landwirtschaftlichen Produktion ist die Ausgangslage im globalen Wettbewerb zumeist günstiger. Die Landwirtschaft erfordert einen intensiven Arbeitseinsatz, und Arbeitskräfte sind - im Vergleich zu Industrieländern - sehr günstig. Wenn Staaten in ländliche Strukturen investieren, beispielsweise die Transport- und Finanzinfrastruktur verbessern, können nachhaltig rentable Wertschöpfungsketten entstehen. Die Einkommen der Landwirte und Lohnarbeiter steigen, wodurch die gesamte ländliche Wirtschaft gestärkt wird.

Matthias Klein: Generell sind Kinder besonders von Hunger betroffen. Vor allem in Indien und Bangladesch sind auffallend viele Kinder unterernährt.

Christian Kuhlgatz: So paradox es klingt, die Erfolge in der Pflanzenzüchtung und die Verteilungsprogramme in Indien und Bangladesch haben hierfür wahrscheinlich die Ausgangsbasis gebildet. Interner Link: Die Kinder in den beiden Ländern leiden insbesondere an verborgenem Hunger, das heißt an einem Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen. Sowohl Indien als auch Bangladesch konnten besonders stark von den Züchtungserfolgen seit den 1970er Jahren profitieren, die jedoch vor allem stärkehaltige Hochertragssorten hervorbrachten. Grundnahrungsmittel wie Weizen und Reis wurden deshalb im Vergleich zu mikronährstoffreichen Nahrungsmitteln wie Obst und Gemüse immer günstiger. Umfangreiche Verteilungsprogramme in beiden Ländern konzentrierten sich zudem auf Getreide, das nur geringe Mengen an Mikronährstoffen wie Vitamin A enthält. Das hat dazu geführt, dass sich viele Kinder zu einseitig ernähren. Hinzu kommt: Wegen der oft schlechten sanitären Bedingungen leiden viele Kinder an Durchfallerkrankungen, dadurch verlieren sie zusätzlich viele Nährstoffe. Wenn den Kindern die notwendigen Mikronährstoffe fehlen, kann das nicht nur das Wachstum hemmen, sondern auch ihr Immunsystem schwächen.

Matthias Klein: Für eine Reihe von Ländern liegen keine Daten zur Ernährungssituation vor. Was sind die Gründe dafür?

Christian Kuhlgatz: Es gibt verschiedene Gründe. Meistens sind es politisch umkämpfte Regionen, in denen nur schwer Messungen durchzuführen sind. Dies gilt zum Beispiel für Somalia und Äthiopien oder für Eritrea im Zeitraum 1990 bis 1992. Hinzu kommt: Autokratisch regierte Länder wie Myanmar erlauben keine umfangreichen Datenerhebungen.

Matthias Klein: Auch für die Industrieländer sind keine Zahlen ausgewiesen – ist der Hunger dort komplett überwunden?

Christian Kuhlgatz: Nein, das nicht. Allerdings hungert nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung. Dieser Anteil ist dann nicht mehr ohne weiteres mit der global genutzten Messmethode erfassbar. Für die Industrieländer insgesamt gibt es jedoch Schätzungen: Hier waren im Zeitraum 2012 bis 2014 rund 15 Millionen Menschen unterernährt, das entspricht etwa jedem 70. Einwohner.

Fussnoten

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Christian Kuhlglatz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thünen-Institut für Marktanalyse in Braunschweig. Er studierte Agrarwissenschaften und promovierte in Kiel über Politiken zur Ernährungssicherung. Am Thünen-Institut berät er das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Bereich Welternährung und forscht zusammen mit Wissenschaftlern in Entwicklungsländern zu aktuellen Themen der Ernährungssicherung.

Matthias Klein ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet in der Online-Redaktion der Bundeszentrale für politische Bildung.