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Verteidigungspolitik | bpb.de

Verteidigungspolitik

Wichard Woyke

Definition

Verteidigungspolitik umfasst die Behandlung aller für die Öffentlichkeit relevanten Fragen und Probleme, die dadurch entstehen, dass ein Land, seine Sicherheit militärisch schützt. Das Ziel von Verteidigungspolitik ist traditionell der Schutz des Territoriums, der Bevölkerung und das Funktionieren des Staates. Hinzu tritt aber auch die Verantwortung für die Sicherheit anderer Staaten – etwa in Bündnissystemen wie der NATO. Die Verteidigungspolitik ist folglich Teil der Sicherheitspolitik.

Sicherheitspolitik umfasst die Behandlung aller für die Öffentlichkeit relevanten Fragen und Probleme, die dadurch entstehen, dass ein Land, seine Sicherheit herstellt. Welche Mittel dabei im Zentrum stehen, ist sehr unterschiedlich. Sicherheitspolitik ist deshalb sehr breit definiert und behandelt alle Bemühungen, um die Sicherheit eines Staates, seiner Strukturen und seiner Bevölkerung zu gewährleisten. Sicherheitspolitik geht über militärische Aspekte hinaus und umfasst auch zivile Mittel. Im engeren Sinne betrifft Sicherheitspolitifk Bereiche wie Friedenserhaltung, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Kriegsführung. Im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffes werden auch ökonomische, ökologische und kulturelle Aspekte der Sicherheit erfasst. Zudem geht es heute nicht mehr nur allein um die Sicherheit von Staaten, sondern auch von Gesellschaften oder Minderheiten.

Veränderung der klassischen Bedrohung

Die äußere Sicherheit(äS) der BRD, an der Nahtstelle beider antagonistischer Systeme gelegen, wurde durch die Bündnispolitik, vor allem NATO und WEU, aber auch durch die Mitgliedschaft in der UNO sowie den Europäischen Gemeinschaften gewährleistet. Die äS der BRD wurde insbesondere während des Ost-West-Konflikts als Sicherheit vor den Staaten des Warschauer Pakts verstanden. Die Bürger der BRD perzipierten mehrheitlich eine Bedrohung durch die Sowjetunion und die Warschauer Pakt-Staaten. Umgekehrt war die → DDR in das östliche Bündnissystem des Warschauer Pakts und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) integriert und befand sich ebenfalls an der Nahtstelle zum antagonistischen System, so dass äS für die DDR als Sicherheit vor den „imperialistischen NATO-Staaten“ verstanden wurde.

Mit der Überwindung des Ost-West-Konflikts, dem Zusammenbruch des Kommunismus als Ideologie und Praxis zur Lenkung gesellschaftlicher Großorganisationen sowie dem Zerfall der UdSSR und der Herstellung der deutschen Einheit haben sich auch die Rahmendaten für die äS Ds radikal geändert. Der KSE-Vertrag von 1990 mit seinen bedeutsamen Abrüstungsbestimmungen im konventionellen Bereich, der Rückzug der sowjetischen Truppen aus D sowie dem Territorium anderer früherer Verbündeter in Ost-/Mitteleuropa haben die frühere sowjetische Fähigkeit zu einem Überraschungsangriff auf Westeuropa beseitigt. Ein Krieg in Europa zwischen Ost und West – wie er zu Zeiten des Kalten Krieges immer möglich schien – gilt heute nahezu als ausgeschlossen. Eine Bedrohung der äS Ds kann heute nur in anderen Konstellationen erfolgen (vgl. 2.2). Die Sicherheit Ds wird militärisch weiterhin durch die NATO gewährleistet. Im Art. 6 des Zwei-Plus-Vier-Vertrages vom 12.09.1990 wird D das Recht zugestanden, „Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören“. Da die DDR der BRD gemäß Art. 23 GG beitrat, änderte sich somit auch an der NATO-Zugehörigkeit des um die DDR erweiterten Ds nichts. D hat in der militärischen Integration der NATO weiterhin einen Sonderstatus. Einmal hat es – im Gegensatz zu den anderen NATO-Staaten – fast alle Streitkräfte in die integrierte Kommandostruktur eingebracht. Zum anderen verfügt D auch über keinen eigenen Generalstab. Drittens hat D eine einseitige Begrenzung seiner Truppen auf 370.000 Mann vorgenommen, die aber mit einem Bestand von weniger als 180.000 Soldaten nicht wahrgenommen wird. Viertens hat D die von der BRD eingegangene Verpflichtung erneuert, auf die Produktion und den Erwerb von ABC-Waffen zu verzichten. Und schließlich hat D sich fünftens verpflichtet, nach dem im Herbst 1994 erfolgten erfolgreichen Abzug der sowjetischen/russischen Streitkräfte aus der ehemaligen DDR auf dem Territorium der neuen →Länder weder ausländische Streitkräfte und Atomwaffen noch deren Träger dort zu stationieren. Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag ermöglicht eine enge Bindung Ds an die Atlantische Gemeinschaft und erleichterte Ds Nachbarn die Zustimmung zur deutschen Einigung.

Allerdings dürfte die europäische Dimension in der Sicherheitspolitik eine immer größere Rolle erfahren. Einmal ist durch den Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts die NATO ihres perzipierten Bedrohungspotenzials beraubt und befindet sich in einer Phase der Umstrukturierung und zum anderen werden nicht-militärische Gefährdungen der industriellen →Gesellschaften zunehmen. So akzentuiert EU-Europa besonders die politische und ökonomische Dimension seiner Sicherheitspolitik, indem es den ost- und mitteleuropäischen Staaten weitreichende Unterstützungsmaßnahmen (PHARE-Programm/Europa-Abkommen, bilaterale Freundschaftsverträge, Beitrittsverhandlungen, Europäische Nachbarschaftspolitik u. a. m.) zukommen lässt und damit die östliche Hälfte Europas im eigenen Interesse zu stabilisieren trachtet. Auch die Vermittlungsbemühungen von EG/EU – wenn auch wenig erfolgreich – im Jugoslawien-Krieg in den 1990er-Jahren müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. So versucht die EU nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts eine stärkere internationale Rolle zu spielen. Daher hat sich die EU eine Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik gegeben, die ggfs. auch unabhängig von der NATO zum Einsatz kommen kann.

Stabilitätstransfer und internationales Krisenmanagement

Zwar hat sich nach Ende des Ost-West-Konflikts die Sicherheitslage für D grundlegend verbessert, da es nur noch von demokratischen und befreundeten Staaten umgeben ist und die meisten von ihnen in NATO und EU mitwirken; jedoch ist an Stelle des Risikos eines großen Krieges eine Vielzahl von Risiken anderer Art getreten. Im Verteidigungsweißbuch 2016 wird der internationale Terrorismus als zentrale Herausforderung benannt. Er bedroht Freiheit und Sicherheit überall in der Welt, wie die Anschläge vom 11.09.2001 auf das World Trade Center und das Pentagon deutlich gemacht haben. Andere Bedrohungen sind die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel, so dass sich die Proliferation zunehmend auch für D zu einer Bedrohung entwickelt. Sowohl staatliche als auch private Akteure versuchen, sich Hochtechnologiegüter zu kriminellen Zwecken zu beschaffen. Auch der Versuch einer – wenn auch bisher noch kleinen – Anzahl von Ländern, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen zu gelangen, kann eine Bedrohung auch für D darstellen. Die Folgen innerstaatlicher und regionaler Konflikte, der Destabilisierung und der innere Zerfall von Staaten und die damit einhergehende Entstaatlichung von Gewalt bedeutet nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Gefährdung von Sicherheit. Ungelöste politische Konflikte an der Peripherie des Stabilitätsraum EU berühren zunehmend auch die Sicherheit Ds. Die Erosion staatlicher Strukturen, der Zerfall ganzer Staaten und damit oft einhergehender Bürgerkrieg eröffnen Aktionsräume und Rückzugsgebiete für bewaffnete Gruppen und terroristische Organisationen. Dies fördert organisierte Kriminalität, Korruption, Menschenhandel und die Drogenökonomie ebenso wie das Entstehen von Gebieten, die sich außerhalb der internationalen Ordnung stellen. Neben dem internationalen Terrorismus benennt das Weißbuch 2016 als weitere Gefahr für die Sicherheit die Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum. Nicht nur die Quantität, vor allem die Qualität der Bedrohung hat sich gewandelt. Die technische Weiterentwicklung von einfachen Viren hin zu komplexen schwer erkennbaren Attacken stellt einen Qualitätssprung in der Bedrohungslage dar. In kaum einem anderen Politikfeld fallen innere und äußere Sicherheit so eng zusammen wie im Cyberraum, sodass die Bedrohungslage einen ganzheitlichen Ansatz zur Verteidigung erfordert:„Die Wahrung der Cybersicherheit und -verteidigung ist somit eine gesamtstaatliche Aufgabe, die gemeinsam zu bewältigen ist. Dazu gehört auch der gemeinsame Schutz der kritischen Infrastrukturen. Die Konkretisierung der Aufgabenwahrnehmung erfolgt im Rahmen der Cybersicherheitsstrategie, die unter Federführung des Bundesministeriums des Innern erarbeitet wird. Verteidigungsaspekte der gesamtstaatlichen Cybersicherheit sind originäre Aufgaben des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundeswehr, während die Gesamtverantwortung für die internationale Cybersicherheitspolitik beim Auswärtigen Amt liegt“ (Weissbuch 2016, S. 38).

Da darüber hinaus bei einigen Staaten noch intra- und inter-ethnisch-kulturelle Konflikte bestehen, können diese internen Auseinandersetzungen in zwischenstaatliche Konflikte übergehen, die Ausstrahlungseffekte auf Westeuropa haben und somit wiederum auch zu einer Bedrohung für Westeuropa werden könnten. Der Testfall erfolgte im Frühjahr 1999, als aufgrund der „ethnischen Säuberungen“ durch Serbien im Kosovo die NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einen Luftkrieg führte. Dieser Krieg wurde zwar ohne Mandat der UNO geführt, doch machte die NATO die massive Verletzung der Menschenrechte durch Serbien für die humanitäre Intervention geltend. Auf diese Weise wurden erstmals deutsche Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn auch lediglich in Form von wenigem Luftwaffenpersonal, in Kampfeinsätze einbezogen.

Weiter dürften wachsende Armut und politisches Chaos in vielen Ländern der Dritten Welt Flüchtlingswellen hervorrufen und Migrationsströme nach Europa beschleunigen. Im Spätsommer 2015 wurde die Herausforderung durch Flüchtlinge für liberale Gesellschaften deutlich erkennbar. Im Jahr 2015 strömten allein über 1 Mio. Flüchtlinge allein nach D, was natürlich zu großen Problemen innerhalb der Gesellschaft führte und auch heute noch große politische und gesellschaftliche Folgewirkungen hat. Finanzielle Ressourcen für die Flüchtlinge standen nicht mehr für Einheimische zur Verfügung, sodass innerhalb der Gesellschaft es zu Auseinandersetzungen über die Migrationspolitik kam. Auch vier Jahre nach Aufnahme dieser neuen Flüchtlingspolitik führt diese Politik zu großen politischen Auseinandersetzungen. Nicht zuletzt profitierte die →AfD von der Migrationspolitik der Bundeskanzlerin. Viele Bürger sehen vor allem die innere Sicherheit durch Migranten bedroht, da im Herbst 2015 durch die „Invasion“ von Tausenden von Flüchtlingen allein an bestimmten Tagen keine ausreichende Kontrolle darüber vorgenommen werden konnte, wer in D Einlass und Schutz begehrte.

Die zunehmende Belastung der Umwelt stellt inzwischen ebenso eine globale Herausforderung wie die Ausbreitung von Pandemien und Seuchen (z. B. Aids, Vogelgrippe) dar. Die Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen für deutsche Sicherheit hat auch zu einer vollkommenen Veränderung der Parameter deutscher Sicherheitspolitik geführt. Zwar wird die aktive Bündnispolitik in NATO und EU weiterhin praktiziert, aber D engagierte sich sehr stark für die Erweiterung dieser Bündnissysteme nach Osten. Die Einbindung der östlichen Nachbarn in NATO und EU wurde als wichtiges Mittel zur Steigerung von gegenseitiger Erwartungsverlässlichkeit und langfristiger Friedenssicherung verstanden. Jedoch geht deutsche Sicherheitspolitik heute weit über die europäische Dimension hinaus. D sieht seine Sicherheit heute nicht mehr nur an seiner Peripherie gefährdet, sondern durch weltpolitische Bedrohungen, so dass seine Verteidigung am Hindukusch beginne (Ex-Verteidigungsminister Struck). So beteiligt sich D an den internationalen Missionen der UNO auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent(→Bundeswehr). War D zu den Zeiten des Ost-West-Konflikts Importeur von Sicherheit, so hat sich D inzwischen zu einem Exporteur von Sicherheit entwickelt. Diese globale Erweiterung des sicherheitspolitischen Gestaltungsanspruchs suchte besonders die Regierung Schröder durch das Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zum Ausdruck zu bringen. Doch scheiterte dieser Versuch, da D sowohl im Sicherheitsrat als auch in der UN-Generalversammlung nicht die notwendige Unterstützung erhielt. Deutsche Sicherheitspolitik beruht heute auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Aufkommenden Gefahren muss mit einem abgestimmten Instrumentarium von diplomatischen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen, polizeilichen und militärischen Mitteln begegnet werden. Die weltpolitischen Herausforderungen sind, wenn überhaupt, nur politisch, d. h. mit friedlichen Mitteln zu lösen. Die Existenz von Streitkräften in Bündnissystemen kann dabei nur eine Rückversicherungsagentur sein.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Wichard Woyke

Fussnoten