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Wirtschaftspolitik/Soziale Marktwirtschaft | bpb.de

Wirtschaftspolitik/Soziale Marktwirtschaft

Uwe Andersen

Ausgangslage

Die totale militärische und politische Niederlage des Dritten Reiches im Zweiten Weltkrieg bedeutete für D auch eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Stichworte sind Flüchtlings-, Hungers-, Wohnungsnot. Die Siegermächte betrieben anfänglich eine Politik der Reparationen, der Demontagen und der Fertigungsverbote. Die Kriegsfinanzierung über die Notenpresse hatte einen gewaltigen Geldüberhang zur Folge (Währung).

Die bitteren Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger Jahre und die außerordentlich schwierige Wirtschaftslage begünstigten in der dt. Bevölkerung und den neugegründeten dt. Parteien Forderungen nach einer staatlichen Planung und Lenkung der Wirtschaft sowie einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel in zentralen Wirtschaftsbereichen. Die in mehreren Länderverfassungen (z. B. HE, NRW) enthaltenen Vergesellschaftungsgebote wurden aber von den westlichen Besatzungsmächten mit der sachlich stichhaltigen, aber auch politisch motivierten Begründung außer Kraft gesetzt, derartig weitreichende Festlegungen müssten gesamtstaatlichen Regelungen vorbehalten bleiben.

1947 wurde das anfänglich auf die amerikanische und britische Besatzungszone beschränkte „Vereinigte Wirtschaftsgebiet“ geschaffen und die Wirtschaftsverwaltung zunehmend auf dt. Stellen übertragen. 1948 kam es zu einer von den westlichen Alliierten verantworteten Währungsreform, mit der die DM eingeführt und der Geldüberhang zulasten der Besitzer von Geldvermögen beseitigt wurde. Die Sowjetunion, die u. a. mit weitgehenden Enteignungen in ihrer Besatzungszone bereits die Basis für ein Wirtschaftssystem nach ihrem Muster gelegt hatte, antwortete mit der Schaffung der Mark (Ost). Mit der Wirtschafts- und Währungsteilung wurde die staatliche Teilung Ds vorgeprägt, und beide Teile wurden exponierte Arenen und Akteure im politischen und ökonomischen „Wettkampf der Systeme“.

Grundlagen, Konzeption und Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft (SM) basiert auf Vorstellungen, die in durchaus unterschiedlicher Akzentuierung von einer Reihe von Wissenschaftlern schon in den 30er- und 40er-Jahren entwickelt und unter dem Begriff Neoliberalismus subsumiert worden sind. Innerhalb des Neoliberalismus spielte für Deutschland der „Ordoliberalismus“ der Freiburger Schule eine besondere Rolle, als dessen wichtigster Repräsentant der Freiburger Wirtschaftswissenschaftler W. Eucken gilt.

Für Eucken ist anders als bei Marx nicht die Eigentumsfrage, sondern das wirtschaftliche Lenkungssystem der entscheidende analytische Ansatzpunkt. Er unterscheidet idealtypisch zwei gegensätzliche Lenkungssysteme: zentrale staatliche Planung in Form der Zentralverwaltungswirtschaft und dezentrale Planung der Wirtschaftssubjekte in Form der Wettbewerbswirtschaft, in der die Einzelentscheidungen über den Markt koordiniert werden. Die notwendige Option fällt zugunsten der Wettbewerbswirtschaft und wird einerseits mit der ihr zugeschriebenen größeren Effizienz begründet, die auch die Lösung der sozialen Probleme erlaube. Andererseits wird als entscheidender Punkt die Interdependenz der Ordnungen angeführt, insbesondere die wechselseitige Abhängigkeit von Wirtschafts- und Staatsordnung. Unter dem zentralen Gesichtspunkt der Freiheit des Bürgers, die nur durch Machtstreuung zu sichern sei, seien freiheitliche, gewaltenteilende Demokratie und Wettbewerbswirtschaft aufeinander angewiesen.

Der scharfen Ablehnung der Zentralverwaltungswirtschaft wegen der ihr innewohnenden Effizienzmängel und Machtkonzentration entspricht eine ebenso entschiedene Verwerfung der altliberalen Laissez-faire-Position, da eine sich selbst überlassene Wirtschaft zur Aufhebung des unbequemen Wettbewerbs, zur Vermachtung der Wirtschaft, tendiere mit negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Eine Wettbewerbswirtschaft sei keine sich von selbst ergebende „natürliche“ Ordnung, sondern müsse vielmehr durch einen staatlich gesetzten Ordnungsrahmen ermöglicht und gesichert werden. Die erforderliche Ordnungspolitik bedürfe eines starken, durchsetzungsfähigen Staates, der sich aber auf diese Aufgabe beschränken könne und so wenig wie möglich in den Wirtschaftsprozess eingreifen solle.

Kritiker Euckens und des Ordoliberalismus wenden insbesondere ein, dass der Raster Zentralverwaltungswirtschaft – Wettbewerbswirtschaft zu grob, die behauptete Interdependenz von freiheitlicher Demokratie und Wettbewerbswirtschaft zumindest überzogen, die Orientierung an einem Modell des vollständigen Wettbewerbs realitätsfern und auch die Forderung eines freiheitlichen und im Hinblick auf die geforderte Bändigung wirtschaftlicher Macht zugleich starken Staates angesichts einer von Interessengruppen mitgeprägten pluralistischen Demokratie widersprüchlich und irreal sei.

Die SM geht von den Vorstellungen des Neoliberalismus aus, setzt aber u. a. mit größerem Pragmatismus, z. B. hinsichtlich prozesspolitischer Beeinflussung in der Konjunkturpolitik, und stärkerer Betonung der Sozialpolitik eigene Akzente. Der werbewirksame Begriff ist von A. Müller-Armack geprägt worden, der den dynamischen, offenen Charakter dieses Leitbildes betont hat – „ein der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke“ (1976, S. 12). Er sieht in der SM eine neuartige Synthese, „deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“ (1976, S. 249). Dabei wird der Wertbezug dieser „friedensstiftenden Formel“ betont, ihre Verankerung „jenseits von Angebot und Nachfrage“ (W. Röpke). Das Adjektiv „sozial“, von linken Kritikern nur als dekoratives Feigenblatt, von Liberalen als mögliches Einfallstor für Interventionismus angesehen, wird inhaltlich dreifach bestimmt: 1. die durch die Marktwirtschaft ermöglichte Steuerung der Produktion nach den Wünschen der Verbraucher sei ebenso eine soziale Leistung wie 2. die durch den Wettbewerb erzwungene Produktivitätssteigerung. 3. „Der marktwirtschaftliche Einkommensprozess bietet der Sozialpolitik ein tragfähiges Fundament für eine staatliche Einkommensumleitung, die in Form von Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Wohnungszuschüssen, Subventionen usw. die Einkommensverteilung korrigiert“ (Müller-Armack 1976, S. 246). Die sozialpolitisch orientierte Korrektur der Markteinkommen findet ihre Grenzen dort, wo die Funktionsfähigkeit einer Wettbewerbswirtschaft beeinträchtigt wird sowie Eigenverantwortung und Initiative der Bürger durch einen Versorgungsstaat gelähmt werden, wobei die konkrete Grenzziehung aber offen bleibt. Auch das für den Sonderfall prozesspolitischer Maßnahmen vorgeschlagene Kriterium der Marktkonformität bleibt im Einzelfall auslegungsbedürftig.

Das auf neoliberalen Vorstellungen beruhende Leitbild der SM konkurrierte als Suche nach dem „Dritten Weg“ v. a. mit einem neosozialistischen Leitbild („demokratischer Sozialismus“), das sich zwar vom Sozialismus sowjetischen Typs scharf abgrenzte, in der positiven wirtschaftspolitischen Konturierung aber äußerst unscharf blieb. Die Durchsetzung der SM erfolgte unmittelbar nach der Währungsreform gegen den Zeitgeist, wobei der kurz vorher zum Direktor des Zweizonen-Wirtschaftsrates gewählte, noch parteilose L. Erhard eine Schlüsselrolle spielte. Er setzte auf der Basis des „Gesetzes über die Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ – weitgehend auf eigene Initiative, aber mit Tolerierung durch die amerikanische Besatzungsbehörde (General Clay) – in einem „Befreiungsschlag“ durch, dass Bewirtschaftungs- und Preiskontrollen in großem Umfang aufgehoben wurden und ein marktwirtschaftlicher Kurs eingeschlagen und durchgehalten wurde. Er trug wesentlich dazu bei, dass sich die SM innerhalb der CDU 1949 programmatisch durchsetzte („Düsseldorfer Leitsätze“) und wurde nach dem knappen Ausgang der Bundestagswahl 1949 zugunsten einer CDU-geführten, die SM propagierenden Koalition für fast 20 Jahre als Bundeswirtschaftsminister (und Bundeskanzler) zusammen mit seinem Staatssekretär Müller-Armack zum politischen Motor und personellen Symbol der SM. Die Erfolge („Wirtschaftswunder“) führten zu wachsender Akzeptanz, so dass sich trotz deutlicher Vorbehalte und anderer Akzente schließlich auch die SPD grundsätzlich auf den Boden der geschaffenen Wirtschaftsordnung stellte (Godesberger Programm 1959).

Der Ordnungsrahmen – Wirtschaftspolitik bis Mitte der 60er-Jahre

Ungeachtet der günstigen Ausgangsposition, dass mit Erhard und Müller-Armack „Väter“ der SM an den Schalthebeln der Wirtschaftspolitik saßen, führte der Filter des politischen Entscheidungsprozesses doch dazu, dass das Leitbild nicht ohne Abstriche umgesetzt wurde. Daher ist auch bei der Beurteilung der Ergebnisse zwischen Leitbild und Realtypus zu unterscheiden. Insgesamt waren die 50er-Jahre aber eine ordnungspolitisch besonders fruchtbare Zeit, in der durch eine Vielzahl grundlegender Gesetze das Leitbild SM ausgefüllt wurde ( u. a. 1957 Gesetz über die Deutsche Bundesbank und das als „ordnungspolitisches Grundgesetz“ bezeichnete Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit dem Bundeskartellamt als „Hüter des Wettbewerbs“). 1958 wurde der volle Übergang zur freien Konvertibilität der Währungen erklärt und im Außenwirtschaftsgesetz von 1961 der grundsätzlich freie Wirtschaftsverkehr auch mit dem Ausland festgeschrieben. In den außenwirtschaftlichen Kontext gehört auch der weitreichende regionale Integrationsansatz der 1957 gegründeten Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die die wirtschaftliche Interdependenz der beteiligten Länder stark erhöhte und auch zu wirtschaftspolitischen Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene führte (z. B. Zollpolitik, Agrarpolitik). Bei der Regelung des Arbeitslebens wurde den unabhängigen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eine starke Stellung gesichert, insbesondere durch die Tarifautonomie (Tarifvertragsgesetz 1949) sowie durch gesetzliche Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Besonderes Gewicht kam dem Aspekt „Sozialstaat“ zu, der gestützt auf die positive wirtschaftliche Entwicklung durch eine Vielzahl von Gesetzen ausgebaut wurde (insbesondere Lastenausgleich und 1957 das „Jahrhundertwerk“ der dynamischen Rente).

Ende der 50er-Jahre wurde Vollbeschäftigung erreicht, und insgesamt waren die wirtschaftspolitischen Ergebnisse der SM beeindruckend positiv, wenn auch nicht ohne Schwachpunkte (z. B. einseitige Vermögensverteilung, insbesondere beim Produktivvermögen). Die veränderten Bedingungen – verschärfter Verteilungskampf zwischen den Tarifparteien und offene außenwirtschaftliche Flanke mit der Gefahr „importierter Inflation“ – führten zusammen mit einer aufkommenden Diskussion um eine Zielerweiterung und staatliche Aufgabenexpansion – Stichworte: „Lebensqualität“, „öffentliche Armut“, „Umweltschutz“ – zu erhöhten Anforderungen an die staatliche Wirtschaftspolitik.

Den neuen Herausforderungen begegnete Müller-Armack bereits 1960 mit der Forderung nach einer „zweiten Phase“ der SM, in der diese durch das „Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik“ (Müller-Armack 1976, S. 267) ergänzt werden sollte. Mit dem Gesetz über den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde 1963 versucht, den Sachverstand und die Autorität der Wissenschaft auch institutionell stärker für die Wirtschaftspolitik zu nutzen. Es hatte symbolische Bedeutung, dass der seit 1963 zum Bundeskanzler avancierte Ludwig Erhard 1966 über die durch wirtschaftspolitische Fehlsteuerung verursachte erste Rezession in der Geschichte der BRD mit einer Spitzenarbeitslosigkeit von 600.000 stürzte. Die Erfolge extremistischer Parteien bei Landtagswahlen belegten einmal mehr, dass wirtschaftliche Fehlentwicklungen, insbesondere verbreitete Arbeitslosigkeit, eine politische Radikalisierung begünstigen und im Extremfall das politische System gefährden können.

Globalsteuerung – Konzept und Erfahrungen

Die Regierungsübernahme durch die große Koalition aus CDU/CSU und SPD brachte mit dem neuen Bundeswirtschaftsminister K. Schiller auch personell eine wirtschaftspolitische Wende, die mit dem Anspruch einer rationalen Prozesspolitik in Form einer an J.M. Keynes orientierten systematischen Konjunktursteuerung und damit einer wirtschaftspolitischen Aufgabenerweiterung verbunden war. Schiller strebte nach einer „sinnvollen Synthese zwischen dem Freiburger Imperativ des Wettbewerbs und der Keynesianischen Botschaft der Steuerung der effektiven Gesamtnachfrage“. Bei der Umsetzung seiner Konzeption einer „aufgeklärten Marktwirtschaft“ konnte Schiller sich auf das 1967 verabschiedete „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (Stabilitätsgesetz) stützen. Das Gesetz entsprach durchaus dem wirtschaftswissenschaftlichen Zeitgeist und ist als „prozesspolitisches Grundgesetz“ (O. Schlecht) gefeiert worden. Als Ansatzpunkte für eine Globalsteuerung im Dienste der gesamtwirtschaftlichen Ziele bieten sich im Wesentlichen vier instrumentelle Bereiche an, wobei diese unterschiedlichen Entscheidungsträgern zugeordnet sind.

  • Die von Keynes besonders betonte Fiskalpolitik umfasst die Beeinflussung der Wirtschaft über die Einnahmen- und Ausgabenpolitik der staatlichen Haushalte. Die föderalistische Struktur der BRD bedingt, dass es „den“ Staat als einheitlichen Entscheidungsträger nicht gibt, die fiskalpolitischen Kompetenzen sich vielmehr auf Bund, Länder, Gemeinden (und zunehmend die Europäische Union) verteilen.

  • Die Geldpolitik liegt bei der unabhängigen Deutschen Bundesbank (inzwischen bei der Europäischen Zentralbank).

  • Die Außenwirtschaftspolitik liegt prinzipiell beim Bund, aber der nationale Handlungsspielraum ist teilweise durch internationale Verträge erheblich eingeschränkt, teilweise sind Kompetenzen und Instrumente ganz verlagert worden (z. B. Zollpolitik zur EU).

Die Einkommenspolitik wird mit Hilfe von Tarifverträgen von den Tarifparteien Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gestaltet und ist bei Tarifautonomie direkten staatlichen Weisungen entzogen.

Vor dem Hintergrund dieses komplexen Geflechtes wirtschaftspolitischer Akteure und der ihnen zugeordneten Instrumente liegt der Schwerpunkt des Stabilitätsgesetzes bei institutionellen Vorkehrungen für eine bessere Koordination der Fiskalpolitik durch die verschiedenen staatlichen Entscheidungsträger (z. B. Konjunkturrat für die öffentliche Hand) und eine Erweiterung des fiskalpolitischen Instrumentariums. Darüber hinaus wurde mit der „Konzertierten Aktion“ versucht, die wichtigsten Verbände in die Globalsteuerung einzubinden.

Misst man den Erfolg der mit viel Vorschusslorbeeren bedachten Globalsteuerung an den Zielen des „magischen Vielecks“, so ist festzustellen, dass die erste Nachkriegsrezession 1967/68 zwar schnell überwunden wurde, es bereits dabei aber nicht gelang, eine Verstetigung der Konjunktur zu erreichen. Dem Rücktritt von Wirtschaftsminister Schiller im finanz- und haushaltspolitischen Konflikt mit der Kabinettsmehrheit 1972 kam insofern symbolische Bedeutung zu, als damit der engagierteste Steuermann der Globalsteuerung frühzeitig von Bord ging. In den nächsten zehn Jahren kam es infolge internationaler Fehlentwicklungen – u. a. Ölpreisschocks 1974 und 1979 – und nationaler Fehlsteuerung zu den zwei stärksten Wirtschaftseinbrüchen seit der Weltwirtschaftskrise 1929, die insbesondere die Arbeitslosigkeit auf über 2 Mio. hochtrieben und in Einzeljahren mit hohen Preissteigerungsraten (fast 7 %) und Schrumpfen des BIP verbunden waren. Die Überforderung der staatlichen Wirtschaftspolitik und speziell der Globalsteuerung zeigte sich nicht zuletzt in einer Anspruchsinflation, die mit einem wachsenden Anteil des Staates am BiP einherging, und einer de facto vom Staat erwarteten Vollbeschäftigungsgarantie. In der Praxis erwies sich z. B. das symmetrisch angelegte Instrument einer antizyklischen Fiskalpolitik als asymmetrisch und führte zu einem starken Anstieg der Staatsverschuldung. Obwohl die BRD im internationalen Vergleich noch relativ gut abschnitt und systemkritische politische Reaktionen begrenzt blieben, nahm auch hier die Ernüchterung und die Skepsis gegenüber der „Machbarkeit“ der Globalsteuerung schnell zu.

Die Diskussion um ein neues Paradigma

Das praktische Versagen der Globalsteuerung und der Krisendruck führten zu einer intensiven wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die Notwendigkeit und Richtung einer neuen wirtschaftspolitischen Wende, bei der die Abgrenzung zwischen staatlichem Steuerungsanspruch und Selbststeuerung der Wirtschaft im Mittelpunkt stand. Vereinfacht sind die drei möglichen Grundpositionen – 1. Beibehaltung, 2. Erweiterung und 3. Reduzierung des mit der Globalsteuerung gesetzten staatlichen Steuerungsanspruchs – auch vertreten worden. Für die vor allem von Keynesianern behauptete erste Position gilt die Devise: keine prinzipielle Veränderung des Steuerungsniveaus, aber bessere Steuerung als in der Vergangenheit. Eine Minderheitsposition diagnostiziert als Krisenursache „Marktversagen“ und fordert dementsprechend eine Politisierung des Produktions- und Akkumulationsprozesses, wobei die Maßnahmenpalette bunt ausfällt (von aktiver Strukturpolitik über direkte Investitionslenkung bis zur Vergesellschaftung). Demgegenüber ortet die dritte Position als zentralen Krisenherd „Politikversagen“, da staatliche Fehlsteuerung generell zu Inflexibilität und Wachstumsschwäche geführt und die Dynamik des marktwirtschaftlichen Lenkungssystems blockiert habe. Sie hält dementsprechend eine „Entstaatlichung“ im Sinne einer Reduzierung und veränderten Ausrichtung der staatlichen Maßnahmen für geboten. Die „Monetaristen“ fordern eine Gewichtsverlagerung von der Fiskal- zu einer mittelfristig orientierten, stetigen Geldpolitik („von Keynes zu Friedman“). Andere wollen anstelle der Nachfragesteuerung eine angebotsorientierte Politik in den Mittelpunkt stellen. Der Staat solle sich auf die Setzung von Rahmenbedingungen für die Wirtschaft beschränken und z. B. das Steuersystem so gestalten, dass wiederum mehr Spielraum für die optimistisch eingeschätzte marktwirtschaftliche Eigendynamik entstehe. Neben der Renaissance der Ordnungspolitik wird zur Stabilisierung der Erwartungen bei den privaten Wirtschaftsakteuren auch verlangt, Euckens Postulat der Konstanz der Wirtschaftspolitik verstärkt zu beachten. Auch wenn sich nicht ein neues Paradigma unangefochten etabliert hat, lässt sich eine wirtschaftspolitische Wende konstatieren. Dies gilt auch im politischen Bereich, verstärkt seit die SPD-FDP-Koalition 1982 nicht zuletzt an internen Spannungen in der Wirtschaftspolitik scheiterte und bis 1998 durch eine CDU/CSU-FDP-Koalition abgelöst wurde.

Die innerdeutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion

In ökonomischer Perspektive stellt die deutsche Vereinigung das welthistorisch neue Experiment einer Integration zweier gegensätzlicher Wirtschaftssysteme in extrem kurzer Zeit dar.

Das „realsozialistische“ Wirtschaftssystem des zweiten deutschen Staates DDR war mit den Schlüsselelementen Zentralplanung und „Volkseigentum“ an Produktionsmitteln das Gegenbild zur SM der BRD. Ungeachtet bestehender Startnachteile (größere teilungsbedingte Adaptionsprobleme, höhere Reparationen, fehlende Mar- shallplan-Hilfe), war die DDR-Wirtschaft aufgrund systembedingter Effizienzmängel im „Wettkampf der Systeme“ hoffnungslos unterlegen, obwohl sie innerhalb des Ostblocks eine Spitzenstellung einnahm. Systemimmanente Reformansätze mit Marktelementen in den 70er-Jahren (Neues Ökonomisches System) wurden abgebrochen, als sie die totale Wirtschaftskontrolle der SED zu gefährden schienen, und in den letzten Jahren lebte die DDR zunehmend aus ihrer Substanz (Stichworte: zerfallene Innenstädte, vernachlässigte Infrastruktur, extreme Umweltbelastung, veraltete Industrieanlagen, Überschuldung).

Das von Bundeskanzler Kohl im Februar 1990 unterbreitete Angebot einer schnellen Währungs- und Wirtschaftsunion noch vor der staatlichen Einheit war Ausdruck des Primats der Politik, da die ökonomisch geprägten Akteure (z. B. Bundesbank, Sachverständigenrat) Stufenpläne präferierten. Unter dem doppelten Druck außenpolitischer Unsicherheit über den Kurs der UdSSR und anschwellender Übersiedlerzahlen mit der Gefahr sozialen Sprengstoffs in der BRD und ökonomischer Ausblutung der DDR erscheint es aber auch im Rückblick als eine Politik ohne realistische Alternative. Unter dem Gesichtspunkt der Belastungsfähigkeit der BRD war der Zeitpunkt äußerst günstig, da sich die Wirtschaft ebenso wie die Staatsfinanzen insgesamt in hervorragender Verfassung befanden. Mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, der als vierter Pfeiler auch eine Umweltunion vorsah, übernahm die DDR 1990 das Leitbild SM und verpflichtete sich zu den notwendigen Anpassungen. Mit der schnell folgenden staatlichen Vereinigung wurde der rechtliche Ordnungsrahmen der BRD im Wesentlichen übernommen.

Die unter dem Erwartungsdruck der ostdt. Bevölkerung politisch entschiedenen Umstellungskurse kamen für die DDR-Betriebe einer extremen Aufwertung gleich. Schlagartig wurden sie dem innerdt. und internationalen Wettbewerb ausgesetzt und damit ihre allgemein geringe Konkurrenzfähigkeit und die hohe verdeckte Arbeitslosigkeit schonungslos offenbart. Verstärkt wurde der Zusammenbruch bzw. die Krise vieler DDR-Betriebe durch den abrupten Ausfall ihres traditionellen osteuropäischen Marktes.

Für die Eingliederung der vormals staatlichen DDR-Betriebe in die SM wurde als eigenständige Institution die Treuhandanstalt geschaffen, die bewusst als Puffer gegen politische Einzelfallentscheidungen bei jedem Betrieb konzipiert war, gleichwohl aber in der personellen Selektion der Leitung und ihren Zielen politisch gesteuert wurde. Sie stand vor der gigantischen Aufgabe, ihr unterstellte etwa 8500 DDR-Betriebe zu privatisieren oder, sofern dies nicht möglich war, über die weiteren Optionen Sanierung oder Liquidierung zu entscheiden und hat diese Aufgabe bis zu ihrer eigenen Auflösung Ende 1994 weitestgehend erfüllt. Die Bewertung der Treuhandtätigkeit fällt sehr kontrovers aus – in Ostdeutschland z. B. übernahm sie die Rolle des geborenen Sündenbocks –, was schon deshalb nicht überraschen kann, weil der ordnungspolitische Streit über die angemessene Rolle des Staates bei der ökonomischen Integration weitgehend auf die Treuhandanstalt projiziert wurde.

Der Umbau des Produktionsapparates in Ostdeutschland ist mit Hilfe erheblicher staatlicher Investitionsanreize und massivem staatlichen Mitteleinsatz in der Infrastruktur inzwischen weit vorangekommen. Die innerdt. Transferleistungen von West nach Ost (Nettojahrestransfer 128–160 Mrd. DM = 4,5–5,5 % des westdt. BIP) stellen auch im internationalen Vergleich eine beeindruckende Leistung dar. Im Kontext des neu geregelten Finanzausgleichs sind Ende 2001 im Solidarpakt II Sonderhilfen für die ostdt. Länder bis 2019 festgeschrieben worden, allerdings mit sinkender Tendenz. Kritisch diskutiert worden sind insbesondere die Folgen für die staatlichen Finanzen (u. a. zu einseitige Belastung des Bundes) sowie die Verwendung der Mittel (u. a. zu wenig investiv orientiert).

Die „Jahrhundertaufgabe“ der innerdt. Integration erweist sich auch im ökonomischen Bereich als schwieriger, als viele Beobachter erwartet haben. Erheblich unterschätzt worden sind in Politik und Wissenschaft insbesondere die Zerrüttung der DDR-Wirtschaft, der Zeitbedarf der Integration, der notwendige Mitteltransfer und die mentalen Anpassungsprobleme in Ostdeutschland. Hoffnungen, die Herausforderung der dt. Wirtschaftsintegration könne auch für eine Revitalisierung der westdt. Wirtschaftsordnung genutzt werden, sind enttäuscht worden. Der inzwischen erreichte Integrationsstand wird sehr kontrovers beurteilt, im Ausland tendenziell positiver als in D.

Probleme und Perspektiven

Unabhängig von der Herausforderung der dt. Einheit ist in D in den letzten Jahrzehnten eine ganze Palette von Problemen – von Massenarbeitslosigkeit über die längerfristige Konkurrenzfähigkeit (Standort D) bis Umweltzerstörung – im Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung diskutiert worden, wobei Konsens über Lösungsansätze die Ausnahme gewesen ist. Einen besonderen Stellenwert besitzt die Diskussion um das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, was einige Autoren auch zu der begrifflichen Erweiterung „öko-soziale Marktwirtschaft“ veranlasst hat.

Die Zunahme der Massenarbeitslosigkeit in D – Ende 2002 lag die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen über 4 Mio. – vor dem Hintergrund veränderter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen – verschärfter globaler Wettbewerb und auf den Weltmarkt drängende Niedriglohnländer in unmittelbarer osteuropäischer Nachbarschaft Ds – hat die Diskussion über Defizite des Standortes D und einen damit verbunden Reformstau angeheizt. Einschlägige Stichworte in diesem Zusammenhang sind staatliche Aufgabenüberprüfung (u. a. stärkere Privatisierung) und Entbürokratisierung (u. a. lean administration), Reform des Steuersystems und niedrigere Steuersätze, Subventionsabbau und Rückführung der staatlichen Neuverschuldung, Anpassung der sozialen Sicherungssysteme einschließlich der in D besonders hohen Lohnnebenkosten, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Tarifpolitik sowie allgemein eine stärkere Förderung von Innovation und mentaler Anpassungsbereitschaft an veränderte Bedingungen einschließlich einer Reform des Bildungssystems. Die genannten Punkte weisen mehr oder minder enge Bezüge zur Wirtschaftskonzeption auf. Besonders umstritten war und ist die Notwendigkeit einer Neuinterpretation der sozialen Komponente der SM, zugespitzt „Umbau“ oder „Abbau“ des Sozialstaates.

Nach dem Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl 1998 und der Bildung einer sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung scheiterte die vom ersten Kabinett Schröder als strategischer Ansatzpunkt gewählte, revitalisierte Konzertierte Aktion in der neuen Form des „Bündnisses für Arbeit“ (Stabilitätsgesetz/Konzertierte Aktion/Bündnis für Arbeit) jedoch, und die von Bundeskanzler Schröder ab 2003 propagierte „Agenda 2010“ (unterschiedlich weit reichende Reformmaßnahmen insbesondere im Arbeits- und Sozialbereich) konnte nur gegen heftigen Widerstand in der eigenen Partei und vor allem der Gewerkschaften durchgesetzt werden.

Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 landete die mit einem weitergehenden Reformprogramm angetretene Kanzlerkandidatin Angela Merkel mit ihrer Union nur knapp vor der SPD und wurde angesichts schwieriger Mehrheitsverhältnisse Kanzlerin einer Großen Koalition mit einem wiederum notwendig begrenzten Reformprogramm. Die vom hochintegrierten Finanzsektor als Speersspitze der privatwirtschaftlichen globalen Integration ausgehende Weltwirtschaftskrise 2008 ist dank national insgesamt überzeugenden, international im Gegensatz zur Weltwirtschaftskrise 1929 abgestimmten Krisenbekämpfungsmaßnahmen gerade in D kurzfristig relativ gut bewältigt worden, allerdings um den Preis eines Niveausprungs in der Staatsverschuldung. Die Bundestagswahl 2009 ermöglichte eine Koalition aus Union und FDP, deren Reformprogramm aber v. a. durch interne Konflikte blockiert wurde, was bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 nach schwierigen Verhandlungen erneut eine Große Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel mit wechselnden Wirtschaftsministern ins Amt brachte. Zu den wichtigsten Erfolgen zählt, dass die Arbeitslosigkeit – kurzfristig begünstigt durch die langfristig problematische demografische Entwicklung – stark abgebaut und ein im internationalen Vergleich beachtlicher finanzpolitischer Konsolidierungskurs eingeschlagen worden ist. Im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise hat aber eine Überschuldungskrise mehrerer Euroländer deutlich gemacht, dass die „hinkende“ Integrationsstrategie mit der Währung als Integrationsmotor krisenträchtig ist und einer nachholenden verstärkten wirtschafts- und haushaltspolitischen Integration bedarf. D hat im Verein mit Frankreich beim Steuern gegen die Krise die Führung, aber auch haushaltspolitische Risiken ganz neuer Größenordnung übernommen (v. a. In Form von Bürgschaften). Gleichwohl haben die Krisen der letzten Jahre untermauert, dass der Handlungsspielraum für eine national begrenzte Wirtschaftspolitik angesichts verstärkter Europäisierung und Globalisierung stark geschrumpft ist.

Aktuell (2020) steht die dt. Wirtschaft und Wirtschafts-politik ungeachtet einer relativ guten Ausgangsposition angesichts grundlegend veränderter Rahmenbedingungen (insbesondere verstärkte Globalisierung einschließlich globaler Migration, Klimawandel, vierte industrielle Revolution mit umfassender Digitalisierung und Vernetzung) und konkreter Krisenmomente (wie Renationalisierungstendenzen mit drohenden Handelskonflikten z. B. zwischen den USA und China, Brexit) vor neuen Herausforderungen. Ob dafür eine Weiterentwicklung der Konzeption (Soziale Marktwirtschaft 2.0) erforderlich ist und der Staat eine stärkere Rolle spielen soll (Stichworte: höhere staatliche Investitionen und Anreize in Forschung, Innovation, Start-ups, Wohnungsmarkt; Umbau des Steuer- und Rentensystems; „Klimaschutzprogramm 2030“ und „Industriestrategie 2030“; schärfere Kontrolle und Verhinderung gezielter Übernahmen dt. Unternehmen in Schlüsselbereichen von außerhalb der EU) bleibt – überwiegend auch innerhalb der Großen Koalition – umstritten.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Uwe Andersen

Fussnoten