Viele der realen Geschehnisse im Nationalsozialismus sowie das Erleben der Opfer sind für die Nachgeborenen nur in ihrer Abstraktion nachvollziehbar. Die Nicht-Eindeutigkeit von Kunst sowie die Rezeption ihrer Entstehung bieten Chancen einer besonderen Form von empathischer Annäherung. Diese kann das Geschehene reflektieren, ohne einer vorschnellen Identifikation mit den Verfolgten und Gepeinigten zu erliegen und sie zu vereinnahmen.
Kunst als Zeugnis
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Kunstbezogene Methoden ermöglichen eine besondere Form von empathischer Annäherung an die Zeit des Nationalsozialismus. Die NS-Gedenkstätten haben daher in den vergangenen Jahren ein größeres Gewicht auf die künstlerische Vermittlung von Ereignisgeschichte gelegt.
Die in den Konzentrationslagern geschaffenen Bilder sind künstlerische Zeugnisse der Verfolgten. Sie erhalten ihre Autorität durch den primären Charakter der Darstellung. Die oft erzählende Struktur der in den Lagern entstandenen Bilder macht diese zu Zeugnissen, welche die Geschichte der jeweiligen Lagerrealitäten zu rekonstruieren vermögen. Die erzählende Struktur gibt zentral die Sicht der Häftlingsgruppen wieder.
Historische Bildung kann anbieten, in diesen Bildern zu lesen und sie zu übersetzen - etwa mithilfe von belegbaren Quellen wie der Biographie des Künstlers oder der Künstlerin. So kann eine Annäherung an die Ereignisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager mittels Kunst für Jugendliche möglich werden.
So eindrücklich das subjektive Erleben bei Führungen an den historischen Orten oder bei der Rezeption von Kunst auch sein mag, die Struktur der Häftlingsgesellschaft, die Funktionsweise des Lagersystems und die Macht der SS bedürfen der Erklärung. Kunst, die sich extremen menschlichen Erfahrungen im Kontext nationalsozialistischer Massenverbrechen widmet, macht in der historisch-politischen Bildung folgende Prämissen erforderlich: Man muss sie ihre eigene künstlerische Sprache entfalten lassen und gleichermaßen präzise das spezifische derjenigen historischen Orte erklären, über die in den Kunstwerken kommuniziert und reflektiert wird.
InfoMethodensteckbrief
Teilnehmerzahl: Kleingruppen
Altersstufe: ab 16 Jahren
Zeitbedarf: keine Angaben
Preis (ohne Fahrten): nicht ermittelbar
Benötigte Ausstattung: Reproduktionen von Kunstwerken, ggfs. Fotoapparat
Die hier skizzierten Konzepte und Methoden für die kunstpädagogische Arbeit zum Thema Holocaust in Gedenkstätten und Schulen richten sich an Jugendliche ab 15 Jahren und Erwachsene als Zielgruppe. Allerdings setzt das Konzept ein Grundwissen über Nationalsozialismus, Holocaust und andere Massenverbrechen in diesem Kontext voraus. Eine Vorbereitung, beispielsweise durch begleitende Lehrer, ist wünschenswert.
Kunstpädagogische Herangehensweisen
Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit mit Kunst sind Übungen, in denen sich die Teilnehmenden mit Bildern von Künstler/innen, die in den Konzentrationslagern inhaftiert waren, auseinandersetzen können. Kopien von Kunstwerken sollten dabei von den Teilnehmenden selbst ausgewählt werden auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und Erlebnisse aus dem vorangegangenen Gedenkstättenbesuch.
Führungen über historische Gelände können mit literarischen Ausführungen und Zeitzeugenberichten kontrastiert werden, indem Textpassagen zum Vorlesen an die Teilnehmenden verteilt und offene Fragen geklärt werden. Dabei sollten die Textformen und ihre Hintergründe erläutert werden - ob beispielsweise ein Zeitzeugenbericht oder eine literarische Figur benutzt werden.
Eine zentrale Übung kann die Arbeit mit einem "Gedenkstättencluster" sein, das sich über die Zeit des Seminars mit Bildern der Teilnehmenden füllt und eine imaginäre Erinnerungslandschaft in Form eines reproduzierten Lageplans der Gedenkstätte abbildet. Die Teilnehmenden ergänzen je nach Fragestellung die Perspektive der Kunstwerke und ihre persönlichen Interpretationen auf dem Plan der vorliegenden Erinnerungslandschaft und stellen so den Prozess ihres Zugangs an das Gedenkstättengelände dar.
Photographische Erkundungen können die Teilnehmenden noch stärker in eine forschende Perspektive bringen. Indem sie selbst mit der Kamera über das Gelände gehen, wird ihr Blick geschärft für künstlich Geschaffenes und bewusste Inszenierungen von Gedenken. Reflektionen über die Emotionen der Teilnehmenden ermöglichen es den Jugendlichen, ihre Gefühle über ihre Wahrnehmung des historischen Ortes zur Sprache zu bringen. Dabei ist von großer Bedeutung, dass eine weite Bandbreite von Gefühlen legitim ist - von Betroffenheit und Trauer über Wut bis zum Gefühl einer emotionalen Distanz zum Geschehenen.
Bewährt haben sich außerdem kunstpädagogische Aktivitäten, in denen die Teilnehmer/innen sich selbst zum Ausdruck bringen können, z.B. Malen und Zeichnen, kreatives Schreiben, theaterpädagogische Elemente, Erinnerungscollagen oder Arbeit mit Ton. Es sollten mehrere Medien zur Auswahl gestellt werden, so dass die Teilnehmenden ein Medium wählen können, mit dem sie gerne arbeiten.
Grenzen der gedenkstättenpädagogischen Arbeit mit Kunst
Eine wichtige Frage ist die nach den Grenzen von Kunst in der gedenkstättenpädagogischen Arbeit. Die Kunst, das Lernen an historischen Orten in Bewegung zu bringen, besteht darin, einen Prozess des Perspektivenwechsel bei den Teilnehmenden anzustoßen. Dieser sollte sich die historische Quellenlage zunutze machen und zugleich neue Wege der Präsentation gehen. Künstlerische Umwege, die sich der Methode einer Spurensicherung bedienen, nehmen die Teilnehmenden mit auf eine Bildungsreise, wo ihnen Zeitzeugen/innen oder deren Biographien begegnen mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Leidensgeschichten.
Die pädagogische Herausforderung besteht darin, einen Bildungsprozess zu fördern, zu begleiten und kritisch zu kommentieren, in dem die Teilnehmenden eigene Ergebnisse erzeugen und präsentieren. Ästhetische Bildung in diesem Kontext versteht sich als prozesshaftes Lernen in kleinen Schritten, das sich ausdrücklich nicht außerhalb des Kontextes eines geschichtlichen Ortes bewegt und eigene Befindlichkeiten ausdrückt. Die Teilnehmenden werden dabei nicht selbst zu Kunstschaffenden. Stattdessen bekommen sie die Möglichkeit, sich über künstlerische Medien den Gedenkorten und den musealen Ausstellungen anzunähern.
Idealerweise werden so Erweiterungen und Erfahrungsräume erschlossen, die im Rahmen von Gedenkstättenfahrten und -besuchen meist nicht behandelt oder bestenfalls kurz angerissen werden können. In Bildern zu lesen ist eine Aufgabe, die auch mit bildungsfernen Gruppen gut umzusetzen ist. Die Verfasser haben die Erfahrung gemacht, dass Zeichnungen und Bilder einen emotionalen Zugang ermöglichen, ähnlich wie Begegnungen mit Zeitzeugen/innen.
Ein wesentliches Anliegen von kunstbezogenen Konzepten sollte darin bestehen, nicht bei Emotionalisierungen und Moralpädagogik zu verharren, da Gefühle für sich nicht zwangsläufig einen Lernprozess im Sinne historischen Verstehens evozieren.
Allein kunst- oder theaterpädagogische Konzepte können der historischen Komplexität nicht gerecht werden. Ebenso wenig kann eine rein kognitive Wissensvermittlung angesichts des zunehmenden zeitlichen Abstands jungen Menschen einen empathischen Zugang eröffnen, beziehungsweise überbordende Emotionalisierungen und Opferidentifizierungen thematisieren. Aus diesem Wissen heraus sollten die unterschiedlichen pädagogischen Zugangsweisen kombiniert werden. Kunstpädagogisches Arbeiten ist kein Ersatz für die schulische Thematisierung des Nationalsozialismus, sondern vielmehr eine Möglichkeit, sie zu erweitern.
Beispiele aus der Praxis
Die hier geschilderten Praxisbeispiele und -erfahrungen beziehen sich auf das pädagogische Projekt "Kunst als Zeugnis" des Berliner Arbeitskreis Konfrontationen, das durch das Programm "entimon" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde.
Das Modul Externer Link: "Zeichnen im Rückblick" des Arbeitskreis Konfrontationen vertieft anhand der Werke von zwei Künstlerinnen und ehemaligen Ravensbrückerinnen die Perspektive der Häftlingsfrauen auf den Lageralltag und stellt ihre Biographien vor. Ausgewählt wurden die deutsche Künstlerin Helen Ernst und die Ungarin Edith Kiss. Beide Frauen stehen mit ihren Bildern für den Versuch, sich durch den künstlerischen Schaffensprozess vom Trauma der Haft zu befreien. Beiden gelingt dieser erhoffte Prozess der Erleichterung nicht. Helen Ernst stirbt im März 1948 geschwächt an den Folgen der Konzentrationslagerhaft. Edith Kiss, die im Jahre 1948 von Ungarn in den Westen übersiedelte, nahm sich 1966 in Paris das Leben.
Ähnlich, ja deckungsgleich, ist die Intention der beiden Frauen zu malen, gänzlich unterschiedlich ist ihr Stil und der Gegenstand ihrer Bilder. Helen Ernst konzentriert sich in den dunkel gehaltenen Tuschepinselzeichnungen, die durch ein pastellartiges blau ergänzt sind, ausschließlich auf die Körperhaltung der Häftlingsfrauen, die zumeist vornehmlich dargestellt in Zweier- und Dreiergruppen ohne jegliche Einbettung in einen Umgebungszusammenhang förmlich im Nichts stehen, von Leere umgeben sind.
Die in eigenwilligen pastellartigen Farben gehaltenen Gouachen von Edith Kiss hingegen stellen Szenen des Lageralltags dar. Ihr Blick richtet sich auf die Häftlingsfrauen im konkreten Zusammenhang mit dem äußeren Geschehen. Sie hält Momentaufnahmen fest, die endlos wirken und von Bild zu Bild einen katastrophalen Ablauf beschreiben, der ebenso endlos scheint.
Die Bilder der beiden Künstlerinnen eröffnen in ihrer Gegensätzlichkeit zwei Ebenen der Annäherung an den Lageralltag der Häftlingsfrauen. Mit den Zeichnungen von Helen Ernst kann über den dramatischen psychischen und physischen Zustand der Frauen gesprochen werden. Dies setzt Einfühlungsvermögen voraus, ohne sich im Pathos zu verlieren. Anhand der Bilder von Edith Kiss lassen sich die Lagerverhältnisse thematisieren, wie beispielweise die Ankunftssituation, das Verhalten der Aufseherinnen und die Zwangsarbeit.
Der zweite Schwerpunkt des Moduls beschäftigt sich mit den Biographien der beiden Künstlerinnen. Diese ziehen bewusst ihr Leben vor der Inhaftierung und nach der Befreiung mit ein und reduzieren den Lebenslauf nicht auf die Verfolgungs- und Haftzeit. Die Gesamtbiographien stellen die Persönlichkeiten der Frauen, ihren beruflichen und künstlerischen Werdegang heraus. Und sie verdeutlichen wie die nationalsozialistische Verfolgung und Haft einen unwiderruflichen Bruch im Leben der politisch und sozial engagierten Grafikerin und Künstlerin Helen Ernst und der erfolgreichen Malerin Edith Kiss in Ungarn markiert, der für beide Frauen nicht zu überwinden war.
Erfahrungen aus der Praxis
Im Seminargeschehen zeigt sich häufiger die Problematik des emotionalen Nachempfindens, welches vor allem Jugendliche im Identitätsfindungsprozess zu überwältigen droht und den Weg zu einer kritischen Annäherung an Geschichte verbaut.
Während eines Seminars an der Gedenkstätte Ravensbrück wurde dieses Problem beispielhaft deutlich. In der Schulklasse waren zwei Teilnehmerinnen, die sich der Gothic- und Dark Wave-Subkultur zugehörig fühlten. Die Situation in der Gedenkstätte – die Nähe zum ehemaligen Konzentrationslager und die Unterbringung in den früheren Wohnhäusern der Aufseherinnen – beeindruckte vor allem diese beiden Teilnehmerinnen. Hinzu kam, dass sie sich durch ihre subkulturelle Identifizierung als Außenseiterinnen fühlten und real bereits Bedrohungen durch Neo-Nazis ausgesetzt waren.
Die auf der künstlichen Halbinsel des Schwedtsees stehende Skulptur "Tragende" (1959) von Will Lammert wurde für die beiden Jugendlichen zu einem zentralen Bezugspunkt. Sie entzündeten in den frühen Abendstunden Kerzen am Fuß der Skulptur und verbrachten ihre Zeit dort. In Gesprächen wurde deutlich, dass die jungen Frauen von dem Schicksal der Gefangenen sehr berührt waren und deren hoffnungslose Situation mit der eigenen verglichen. Diese hohe Emotionalisierung und Opferidentifizierung war für die beiden Teilnehmerinnen auch der Anlass, sich im Seminarrahmen besonders intensiv mit der Geschichte der Skulptur auseinander zu setzen.
Die produktorientierte Arbeit mit eigenen Fotografien, die Auseinandersetzung mit Künstlerbiographien sowie die Kontextualisierung des Ortes in den unterschiedlichen geschichtlichen Epochen von Nationalsozialismus und DDR ermöglichten der Seminargruppe Reflexion und Distanzierung. Die Gruppenmitglieder stellten außerdem auf dem Gelände befindliche Statuen, unter anderem "Die Tragende", mit ihren eigenen Körpern nach. Intensiver, als es eine Erklärung alleine vermocht hätte, konnte durch die physische Unmöglichkeit der Figurenhaltung aufgezeigt werden, wie Geschichtsbilder durch Formen des Gedenkens konstruiert werden und wie wenig sie sich der realen Situation in den Konzentrationslagern annähern.
Wie sehr Sichtweisen auf Bilder divergieren können und welchen subjektiven Spielraum auch Häftlingszeichnungen bieten, zeigte sich an einer Diskussion mit einer Gruppe von Teilnehmerinnen des diesjährigen 3. Ravensbrücker Generationenforums um das Bild "In der Strohschuhflechterei" von Nina Jirsiková.
Die Zeichnung aus dem Jahr 1942 illustriert die Ausstellung im ehemaligen Industriehof von Ravensbrück und zeigt eine Gruppe von Frauen bei der Zwangsarbeit. Sie müssen Strohschuhe herstellen, die als Wärmeisolierung für Wehrmachtssoldaten dienten. Eine Besonderheit der Buntstiftzeichnung liegt in der individuellen Skizzierung der Gesichter und Köpfe. Die Kleidung, bestehend aus blau-weiß gestreiften Kitteln und Galoschen, entspricht dem Bild, welches allgemein von weiblichen Häftlingen der Konzentrationslager besteht. Diese Darstellung bricht das allgemein bestehende Bild von Frauen im Konzentrationslager, indem die geschminkt wirkenden Augen und überzeichneten Gesichtskonturen grotesk wirken.
Die Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe sahen in der Darstellung nahezu unisono vor allem das Elend der Frauen dargestellt und in der Überzeichnung einen Ausdruck der Bewahrung von Individualität. Eine karikierende Absicht konnten sie aus der Zeichnung nicht heraus lesen. In der Lesart der Interpretierenden fand sich in der Zeichnung weder Überspitzung, noch eine charakteristische Verzerrung der Personen.
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