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Inklusive Seminare: "Politik lebt vom Mitmachen"
Dorothee Meyer
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Die Seminare "Gemeinsam Lernen" machen Mut, inklusive Angebote der politischen Bildung zu planen und umzusetzen. Das Lernen in einer inklusiven Gruppe ermöglicht inhaltliche Lernerfahrungen, regt zur Meinungsbildung an, bietet Erfahrungen von Gemeinsamkeit und einen veränderten, erweiterten Blickwinkel.
"Politik lebt vom Mitmachen." Dieses Zitat stellt das Fazit einer behinderten Teilnehmerin über die inklusiven Seminare dar, die seit 2012 an der Leibniz Universität Hannover stattfinden. Weiter ergänzt sie: "Und mitmachen tun alle Menschen die wenigstens eine eigene Meinung haben". Zielgruppe der Seminare sind Studierende im zweiten Semester Bachelor Sonderpädagogik und behinderte Menschen ohne Hochschulzugangsberechtigung. Die Seminare sollen allen Beteiligten ermöglichen, Erfahrungen in inklusiven Lerngruppen zu sammeln und diese Erfahrungen zu reflektieren (vgl. Meyer 2013, 2014). Die Rahmenthemen dieser Seminare stammen aus dem historisch-politischen Themenfeld und lauten "Menschen mit Behinderungen in der NS Zeit", "Selbstbestimmung" sowie "Demokratie und politische Mitbestimmung".
Eine Studentin fasst ihre Lernerfahrungen im Seminar folgendermaßen zusammen:
"Noch nie habe ich so viel Interesse an Politik entwickelt und noch nie 'nebenbei' so viel gelernt! Seit diesem Seminar haben sich meine Denkweisen und Verhaltensweisen hinsichtlich dessen verändert, dass ich Menschen mit Behinderung ernster nehme und ihnen mehr Mitbestimmung ermögliche!"
Die Konzeptionen der Seminare an der Leibniz Universität Hannover sind anschlussfähig an den in der Bundeszentrale für politische Bildung initiierten Diskurs über inklusive Politische Bildung (vgl. Hilpert 2015 und Dönges, Hilpert, Zurstrassen 2015). Die Ergebnisse dieses durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention angestoßenen Diskurses decken sich mit der Konzeption und der Praxis der Seminare: Der Inklusionsbegriff wird nicht allein auf den Schulbereich beschränkt. Er nimmt neben Behinderung ausdrücklich auch andere Differenzlinien wie Alter, Geschlecht, Bildungserschwernisse, Behinderung oder psychische Probleme der Studierenden explizit in den Blick (vgl. Lindmeier und Meyer 2016, Besand & Jungel 2015, 54f.). Inklusion wird entsprechend dem Modell integrativer Prozesse von Helmut Reiser (vgl. zusammenfassend Lindmeier & Lindmeier 2012, 170ff. und Klein et al. 1987, 41) dynamisch und prozesshaft gesehen und dient dazu, allen Beteiligten Lern- und Bildungserfahrungen zu bieten.
Im Folgenden wird ein Seminarkonzept "Gemeinsam Lernen" zum Thema Demokratie und politische Mitbestimmung mit seinen politischen Bezügen beleuchtet. Zitate der Seminarteilnehmenden konkretisieren oder reflektieren die theoretischen Ausführungen und stellen ihre Lernerfahrungen dar (vgl. dazu sowie zum Zusammenhang der Seminare zur politischen Bildung und politischen Teilhabe auch Meyer, Lücke 2016).
Konzeption der Seminare
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars sind zum einen Studierende des Bachelorstudiengangs Sonderpädagogik, für die das Seminar in die reguläre Studienstruktur eingebettet ist. Die Prüfungsleistungen werden im Anschluss an das Seminar angefertigt und bestehen aus der Reflexion des gemeinsamen Lernprozesses sowie aus einer wissenschaftlichen Hausarbeit zu einem Thema aus dem Bereich der Inklusion oder politischen Bildung.
Zum anderen wird das Seminar von behinderten Seminarteilnehmenden ohne Hochschulzugangsberechtigung als freiwilliges Angebot der Erwachsenenbildung besucht. Diese Teilnehmenden werden über Einrichtungen der Behindertenhilfe gewonnen. Werkstätten für behinderte Menschen, Wohneinrichtungen oder Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung werden von der Universität angesprochen und helfen, die Kontakte zwischen den Interessierten und den Verantwortlichen des Universitätsseminars herzustellen. Da das Seminar seit mehreren Jahren durchgeführt wird, kann inzwischen auf ein Netzwerk an Kooperationspartnern zurückgegriffen werden. So melden sich behinderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer wiederholt an oder geben Einladungen zur Anmeldung an Bekannte weiter. Der Aufbau von Vertrauen der Einrichtungen der Behindertenhilfe in die Seminararbeit an der Universität und die Bearbeitung der Frage nach der thematischen Relevanz des Seminars für die Zielgruppe hat einige Jahre gedauert. Dies zeigt, wie bedeutsam die Kontinuität eines solchen Bildungsangebots ist.
Vorbereitungskurs für die behinderten Seminarteilnehmenden
Für die behinderten Seminarteilnehmenden findet in der vorlesungsfreien Zeit ein Vorbereitungskurs statt. Die vier Termine dienen einerseits zum einen dazu, sich dem Thema der Seminare inhaltlich zu nähern. Nach einer Phase des Kennenlernens, werden politische Themen sowie Fragen zur Zusammenarbeit in Gruppen behandelt. Andererseits ist jedoch die entscheidende Funktion des Vorbereitungskurses, sich mit dem Lernort der Universität räumlich sowie dem Ablauf der Seminartage vertraut zu machen.
Mit dem Sommersemester beginnt das gemeinsame Seminar. Dazu werden zwei Seminare und ein Tutorium mit insgesamt 6 Semesterwochenstunden zusammengefasst, sodass die gemeinsamen Sitzungen immer freitags von 10-16 Uhr stattfinden können. In diesen Seminarsitzungen werden exemplarische Themen aus dem Kontext der politischen Bildung behandelt. Dabei wird zunächst der Politikbegriff in den Blick genommen. Politisches Handeln wird verstanden als das "soziale Handeln, welches auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit innerhalb einer sozialen Gruppe gerichtet ist" (Lange 2007, 110). Inhaltlich liegt ein besonderer Schwerpunkt darauf, dass Politik dazu da ist, "Interessenvielfalt in allgemein verbindliche Regelungen und Entscheidungen" (ebd.) zu transformieren. So wird bereits am Anfang der Seminare deutlich, dass politisches Handeln immer auch mit Interessensausgleich und Kompromissen zu tun hat. Alltagspolitische Bezüge werden im Seminar nach den Kriterien der folgenden Definition aufgenommen: "Soziales und alltägliches Handeln ist nur dann als politisch zu bezeichnen, wenn es auf den Prozess der Herstellung von allgemein bindenden Regelungen gerichtet ist" (ebd.).
Aus der Perspektive der SeminarteilnehmerInnen klingt das so:
"Politik meint, die Interessen aller zu vertreten. Dabei müssen aber viele Kompromisse eingegangen werden […] und da muss ich mir an die eigene Nase fassen die Kompromisse gefallen mir oft nicht aber die Politik versucht eben die Interessen aller zu vertreten und […] ich muss mit diesen Kompromissen leben"
Die Auswahl der Seminarthemen richtet sich nach den aktuell in der Politikdidaktik gebräuchlichen Basiskonzepten der Politik: Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl (Weißeno, Detjen, Juchler, Massing, Richter 2010) sowie an den drei Dimensionen des Politikbegriffs "Polity" (Institutionelle Dimension), "Politics" (Prozessuale Dimension) und "Policy" (normativ inhaltliche Dimension) (vgl. Richter 2008, 163). Hierzu werden Themen exemplarisch ausgewählt und mit aktuellen politischen Inhalten in Verbindung gebracht. In den Jahren 2015 und 2016 war zum Beispiel "Flucht und Asyl" Thema des Seminars, auch die Bundestagswahl 2017 wird im Seminar besprochen werden. Diese Themenbereiche können eine individuellen Auseinandersetzung und eine eigene Meinungsbildung anstoßen, aber auch Impulse zur Beurteilung und Beeinflussung im Sinne eines Bürgerbewusstseins aufzeigen (vgl. Lange 2008, 247). Bürgerbewusstsein meint die "mentalen Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit" (ebd.). Zur Veranschaulichung ist an dieser Stelle der Seminarplan aus dem Sommersemester 2016 dargestellt:
Der zweite thematische Schwerpunkt des Seminars ist die Zusammenarbeit in Gruppen. Grundannahme ist dabei, dass sich das Lernen in inklusiven Gruppen grundsätzlich nicht von dem Lernen in homogeneren Gruppen unterscheidet. Trotzdem ist die Zusammenarbeit in einer inklusiven Gruppe für die meisten Seminarteilnehmenden noch ungewohnt und von Unsicherheiten begleitet.
Deshalb ist die Zusammenarbeit in Gruppen explizites Seminarthema. Besonders zu Beginn der Zusammenarbeit wird auf eine enge Begleitung und Struktur durch die Seminarleitung Wert gelegt, was allen Beteiligten Sicherheit vermitteln soll (vgl. Reiser et al. 1995, 142). Gearbeitet wird im Seminar mit dem Modell der soziodynamischen Rangstruktur nach Raoul Schindler sowie den Gruppenprozessmodellen aus der Gruppendynamik (vgl. Schindler 1971 sowie König & Schattenhofer 2012, 62ff).
Um das Kennenlernen innerhalb der Gruppe zu unterstützen und informelle Erfahrungen miteinander zu ermöglichen, umfasst das Seminarkonzept auch ein Kompaktseminar mit Übernachtung an einem außeruniversitären Ort. Dort steht der Beginn der Projektarbeit in Kleingruppen im Mittelpunkt, welche im Folgenden beschrieben wird.
Projektarbeit in Kleingruppen und öffentliche Präsentation der Ergebnisse
An vier Projekttagen arbeiten Kleingruppen, bestehend aus behinderten und nicht behinderten Menschen an selbst gewählten Themen aus dem Seminarzusammenhang. Die Ergebnisse dieser Projektarbeiten werden zum Ende des Semesters öffentlich präsentiert.
Bisher wurden beispielsweise diese Themen bearbeitet:
Apartheit am Beispiel von Nelson Mandela
Zivilcourage am Beispiel der Biografie von Martin Luther King
Wahlrecht von behinderten Menschen
Flucht und Asyl
Mitwirkung im Werkstattrat und in der Bewohnervertretung
Kommunalpolitik
Medien
Umwelt und Umweltschutz
Die Menschenrechte in einfacher Sprache
Die Grundrechte im Grundgesetz
Der Aufbau des Staates im Grundgesetz
Diese thematische Darstellung zeigt die vielfältigen Interessen der Seminargruppe auf und dokumentiert, warum das Thema "politische Bildung" für inklusives, gemeinsames Lernen gut geeignet ist: Teilweise nehmen die Projektgruppen Bezug zum Thema Behinderung. Der politische Themenkontext des Seminars ermöglicht eine solche Auseinandersetzung mit der in der Gruppe explizit vorhandenen Diversitätsdimension Behinderung, indem zum Beispiel das Thema "Wahlrecht" oder "Mitwirkung und Mitbestimmung" auf behinderte Menschen bezogen wird.
Genauso häufig stehen in den Projektgruppen aber auch andere Interessensschwerpunkte im Mittelpunkt, ohne dass "Behinderung" ein Thema des gemeinsamen Lernprozesses ist. In beiden Fällen wird interessengeleitet gelernt, was der Herangehensweise der Erwachsenenbildung entspricht.
Als Ergebnis einer solchen Zusammenarbeit zum Thema "Flucht und Asyl" ist beispielsweise in der Reihe einfach Politik der bpb in Zusammenarbeit mit dem Seminar "gemeinsam Lernen" eine Interner Link: Broschüre entstandenen.
Ein behinderter Seminarteilnehmer beschreibt folgende Erfahrungen mit der Broschüre, die den Bedarf nach verständlichen Information und Bildungsangeboten dokumentiert:
"Zu der Broschüre "Flucht und Asyl" muss ich sagen: Das Echo bei meinen Gruppenleitern zum Beispiel im Wohnheim ist ganz groß […] Wenn ich meine Kollegen höre, wie die über die Flüchtlinge reden, dann krieg ich das nackte Grauen, weil die sagen, die sollen aus unser Land raus, die sollte man verbrennen […] und so weiter. Ich sage Leute, so dürft ihr nicht reden! Es sind Menschen wie du und ich und ihr solltet euch alle hier glücklich schätzen, dass wir hier in Frieden leben können. Ihr habt aus der Vergangenheit nichts gelernt."
Gleichgewicht zwischen Vereinfachung und Vermittlung von Komplexität
Ein zentraler Leitsatz der politischen Bildung ist der Beutelsbacher Konsens. Er wurde schon im Jahr 1976 in einem Tagungsprotokoll einer politikdidaktischen Fachtagung im schwäbischen Beutelsbach von Hans Georg Wehling formuliert und ist nach wie vor aktuell (vgl. Sander 2014, 21). Der Beutelsbacher Konsens beendete einen über die späten 60er und frühen 70er Jahren andauernde fachliche Konfrontationen, in denen es darum ging, wie die Positionen der verschiedenen politischen Lager in der Politischen Bildung ihren Platz finden können.
Der Konsens besteht aus drei Leitsätzen:
Überwältigungsverbot: Dieses Verbot soll vor Indoktrination durch die Lehrkraft schützen und den Lernenden die politische Meinungsbildung überlassen.
Das Kontroversitätsgebot ist mit dem Überwältigungsverbot eng verknüpft. Es verlangt, dass verschiedenen Optionen, Alternativen und Sichtweisen im Lernprozess sichtbar werden: "Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen" (Wehling 1977, 179).
Der dritte Leitsatz bezieht sich auf die Zielsetzung der politischen Bildung. Der Lernende soll in die Lage versetzt werden, "eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen" (Wehling 1977, 179.)
Kontroversen an Lernende zu vermitteln und die eigene Meinungsbildung zu unterstützen ist didaktisch anspruchsvoll. Dies gilt besonders angesichts der Zielgruppe von Menschen mit geistiger Behinderung. Da Inhalte deutlich vereinfacht werden müssen, eine verständliche Sprache benötigt wird, handlungsorientierte Zugänge notwendig sind oder Teilnehmende mit Behinderung über mangelnde Bildungserfahrungen verfügen, ist die Gefahr, Kontroversen aus dem Blick zu verlieren und sich nicht an das Überwältigungsverbot zu halten, besonders hoch.
Einen gemeinsamen "Suchprozess von Lernenden und Lehrenden" nennt Jan Marcus Köhler das Streben nach einem passenden Gleichgewicht zwischen Vereinfachung und Vermittlung von Komplexität (Köhler 2014, 177). Gerade dieser gelingt nach den Erfahrungen in den gemeinsamen Seminaren in einer inklusiven Gruppe besonders gut, denn sie umfasst verschiedene Milieus und Bildungszugänge. Die "gemeinsamen Suchbewegungen" kommen meist zu einem Ergebnis, welches für die gesamte Gruppe das richtige Maß an Vereinfachung und Komplexität beinhaltet und gleichzeitig unterschiedliche Perspektiven im Blick behält. Dies gilt sowohl für die gesamte Seminargruppe als auch für die Arbeit in Kleingruppen. Die Seminargruppe diskutierte beispielsweise angeregt über den Gebrauch des Wahlrechts, indem die vermeintliche Erfahrung, dass eine einzelne Stimme nichts bewirken kann mit den Grundsätzen einer Demokratie in Verbindung gebracht wurde. In dieser Diskussion wurde weiterhin deutlich, dass ein Teil der Seminargruppe das Wahlrecht selbstverständlich ausübte und ein anderer Teil dieses ähnlich selbstverständlich noch nie in Anspruch genommen hatte. Auch hier regte die Heterogenität der Gruppe auf beiden Seiten Reflexionsprozesse an.
Stimmen der SeminarteilnehmerInnen
Wie schätzen die Teilnehmenden mit Behinderung selbst, aber auch die beteiligten Studierenden ihre Lernerfahrungen ein? Antworten geben die im Folgenden wiedergegebenen Zitate. Sie stammen, genau wie die anderen Zitate dieses Artikels, aus Gruppendiskussionen zur Seminarauswertung im Sommer 2015 und 2016.
Lernen in inklusiven Gruppen
Das gemeinsame Lernen wird als ein Prozess beschrieben, in dem es nicht von Anfang an optimal läuft, dann aber tragfähige Lösungen erarbeitet werden:
"Wir haben einfach ganz viel ausprobiert in der Gruppe, wie wir zum Beispiel am besten zusammenarbeiten können, vielleicht ist das auch nochmal wichtig das man ein bisschen über den Tellerrand hinausschaut und einfach erstmal ausprobiert und ähm vielleicht gibt es von Anfang an nicht die Lösung oder das Ziel."
Auch inhaltliche Schwierigkeiten treten auf:
"Bei mir in der Gruppe war es anfangs schwierig mit dem Artikel eins zurechtzukommen, aber wir haben uns zusammengerauft und ich habe natürlich mir das Grundgesetz gründlich durchgelesen und (…) im Internet angeschaut, aber der eine sagt so und der andere sagt so, da kommt man schon durcheinander und das war eben auch anfangs das Problem."
Eine Teilnehmerin beschreibt ihre Erfahrungen in der Seminargruppe zusammenfassend so:
"Ich habe erlebt, dass hier in der gesamten Seminargruppe alle mitgenommen wurden das war völlig egal ähm ob man ne Behinderung hat ob man keine hat oder was für Bedürfnisse man hat (…) wir sind eine Gruppe und das ist eigentlich das was ich mir insgesamt für die Gesellschaft eben auch wünschen würde. Dass das aufm Arbeitsmarkt jeder nen Job machen kann, der zu ihm passt den er ausführen kann. (…) die gesamte Gesellschaft ist dafür zuständig alle irgendwie mitzunehmen und so haben wir es halt hier im Kleinen schon erlebt im Seminar."
Verständlichkeit
Ein behinderter Teilnehmer erlebt die Inhalte als auf ihn persönlich abgestimmt und damit verständlich:
"Ich habe auch eh festgestellt, dass Seminar (…) auf jeden genau abgestimmt ist halt. (.) so dass man das auch versteht halt."
Die Sprache im Seminar wurde als gemeinsame Annäherung beschrieben, wie die folgenden Zitate dokumentieren, dabei spielt zum einen das Konzept der "Leichten Sprache" eine Rolle, aber auch notwendige differenzierte Umgangsweise mit diesem Konzept (vgl. Zurstrassen 2015 und Rüstow 2015).
"Ich habe hier zum ersten Mal über Leichte Sprache gehört, da habe ich vorher noch nichts drüber gewusst, da habe ich mich noch nicht mit beschäftigt. Das habe ich dazu gelernt."
Eine Studentin beschreibt einen Wandel der sprachlichen Gewohnheiten:
"Ich glaube auch, dass die Sprache sich bei den gemeinsamen Treffen im Laufe des Semesters gewandelt hat. Am Anfang hat Eva das mal in einer Auswertungsrunde gesagt, dass sie sich wünschen würde, wir würden nicht so unserer Studentensprache nutzen. (…) Dann haben wir angefangen darüber nachzudenken, wie drücke ich das denn aus. (…) Das fand ich auch eine gute Sache, dass man sich das bewusster machen muss."
Es wird jedoch auch deutlich, dass nicht pauschal behinderten Menschen die Fähigkeit zur Nutzung von Fachbegriffen abgesprochen werden darf:
"Das war bei uns in der Gruppe so, dass wir den Flyer in einfacher Sprache machen wollten. Da hat dann Eva ((behinderte Seminarteilnehmerin)) immer die Fachwörter gesagt und dann haben wir gesagt: Nein, das können wir nicht nehmen, das ist zu schwer. Das war dann gegensätzlich."
Beschrieben wird auch ein Lernprozess im Seminar, der die aktive Nutzung von Fachbegriffen zur Folge hat:
"Was ich auch gut fand: Wo ihr so mit eurem Studentendeutsch angefangen habt, Wörter benutzt habt, die wir eben halt nicht benutzen. Da kann man eben halt aus der Sprache die man eben so hat. Alles klar, das hast du in der leichten Sprache gesagt ne? Und dann hast du neue Fremdwörter drinne und zum Schluss nimmst du dann halt diese Fremdwörter mit dazu und nimmt immer andere Ausdruck- Ausdrucksweise und das war genial!"
Inhaltliches Lernen
Die obigen Zitate zeigen, dass der eigene Politikbegriff und politische Kommunikation Lerninhalt ist. Aber es werden auch weitere, vor allem an die Projektarbeit gebundene inhaltliche Lernerfahrungen beschrieben:
"Über die gemeinsame Arbeit mit Menschen mit Behinderung war ich sehr positiv überrascht, da ich zuvor nicht erwartet hatte, dass wir so tief in die Materie eintauchen würden und ich so viel über Martin Luther King und Zivilcourage lernen würde."
Auch über ein erweitertes Verständnis von Wahlen, politischen Grundbegriffen oder Kommunalpolitik wird berichtet. Besonders bei den Themen rund um Selbstvertretung, Mitwirkung und Mitbestimmung zum Beispiel im Werkstattrat und der Bewohnervertretung werden die behinderten Seminarteilnehmenden auch als Expertinnen und Experten in eigener Sache wahrgenommen. Sie verfügen über exklusives Wissen, welches den Studierenden nicht zugänglich ist. Im folgenden Zitat beschreibt eine Studentin eine Erfahrung, von einem behinderten Teilnehmer etwas erklärt zu bekommen:
"Es ging mir halt auch oft dann so, dass (…) ich eigentlich gar keine Ahnung hatte und dann kam dann irgendwie Simon und hat mir etwas über die Panama Papers (…) ganz genau erzählt und ich dachte oh (.) ja du hast keine Ahnung (…) also es war so, dass ich viel lernen konnte."
Veränderung des Blickwinkels auf und des Begriffs von Behinderung
Ein Student beschreibt folgende Lernerfahrung in Bezug auf das Bewusstsein für Barrieren:
"Ich hab auch gelernt, dass (…) vieles einfach Barrieren sind, die bestimmte Dinge erschweren. Also zum Beispiel, dass jemand, der die Rollstuhlrampe braucht, einen superweiten Weg hat bis zur Mensa. Das sind so Dinge, auf die ich vorher gar nicht geachtet habe, weil ich vorher gar nicht mit Leuten die im Rollstuhl sind mich auseinandergesetzt habe. Das fällt einem halt dann erst auf."
Eine Studentin beschreibt auch eine Veränderung ihres Behinderungsbegriffs, der auch zur Folge hat, eigene Unterstützungsbedarfe nicht zu verschweigen (vgl. dazu auch Lindmeier und Meyer 2016).
"Mir ist dann irgendwie auch irgendwann bewusst geworden, dass ich (…) vorher gedacht habe: ja okay, das sind Menschen mit einer Behinderung, die brauchen Hilfe. (…) Und jetzt (…) dachte ich: Ja okay aber ich hab ja auch manchmal Probleme, und dann brauch ich auch Hilfe. Wir sind ja eigentlich alles ganz normale Menschen die Hilfe brauchen; das hab ich so aus diesem Seminar im Laufe der Zeit mitgenommen."
Dass im Seminar eine Verknüpfung von praktischer Umsetzung von inklusivem Lernen und theoretischen Inhalten zu Inklusion gelingen kann, zeigt das folgende Zitat:
"Wir haben jetzt einfach mal gemacht im Seminar. Das war ein Prozess der ist automatisch passiert und am Ende kam jetzt die Theorie zu Inklusion. Und man hat dann nochmal geguckt wie war das eigentlich bei uns. (…) Ich glaub wenn wir vorher die ganze Zeit geredet hätten, dann hätten wir ein viel größeres Problem gehabt einfach mal zu machen, weil man dann ja auch denkt, das muss alles so und so klappen, weil das ja in der Theorie gesagt wird. Dadurch, dass wir einfach angefangen haben hatten wir diesen Druck nicht."
Die mehrjährige erfolgreiche Durchführung des Seminars "Gemeinsam Lernen" zur politischen Bildung zeigt, dass Lernen in einer inklusiven Gruppe für alle gewinnbringend sein kann. Die inklusive Gruppe ermöglicht inhaltliche Lernerfahrungen, regt zur Meinungsbildung an und bietet Erfahrungen von Gemeinsamkeit, der Umsetzung von Inklusion und einen veränderten, erweiterten Blickwinkel. Die Ausführungen zeigen, dass nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Gleiche zur selben Zeit lernen und auch nicht alles von Anfang an reibungslos funktioniert. Trotzdem kann in dem Seminar jeder bestimmte, individuell bedeutsame Lernerfahrungen machen, die zum Weiterdenken anregen.
Haben Sie den Mut, inklusive Angebote der politischen Bildung zu planen und umzusetzen! Vielleicht wurden Sie durch die Ausführungen angeregt, dies zu tun. Oder das abschließende Zitat gibt Ihnen den Anstoß:
"Man sollte nicht immer nur über Inklusion reden […] da hält man sich mit auf und diskutiert immer wieder über denselben Inhalt. […] Irgendwie muss man mehr machen und das funktioniert glaube ich indem man Seminare anbietet wie dieses Seminar."
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Dorothee Meyer
ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Leibniz Universität Hannover, Institut für Sonderpädagogik, Abteilung Allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie. Nach ihrem Studium des Lehramtes für Sonderpädagogik (Pädagogik bei körperlichen Beeinträchtigungen und bei Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung) und dem Erwerb des 2. Staatsexamens für Sonderpädagogik war Frau Meyer in Niedersachsen als Förderschullehrerin tätig. Frau Meyer leitet seit 2012 "Gemeinsam lernen", Universitätsseminare für behinderte Menschen und Studierende, an der Leibniz Universität Hannover.