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Deutschlands Entwicklung und Perspektiven seit 1990 | bpb.de

Deutschlands Entwicklung und Perspektiven seit 1990

Dietrich Thränhardt

Die Wiedervereinigung

Im Rahmen der Entspannungspolitik hatte sich schrittweise ein eigenartiges Sonderverhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten entwickelt. Zwar blieb es bei Mauer, Stacheldraht und Schüssen an der Grenze. Die totalitäre Grausamkeit wurde aber milder. Statt in permanente Haft schob die DDR-Führung Oppositionelle nach Westen ab, was Protestaktionen weniger riskant machte. Sie strebte nach Respektabilität im Westen und immer mehr westdeutschen Transferzahlungen. Häftlingsfreikauf, Einreise- und Straßenbenutzungszahlungen, Finanzierung von Verkehrswegen nach Berlin, kirchliche Transfers, private Geschenke und westdeutsche Kredite stabilisierten das DDR-Regime, machten es aber gleichzeitig abhängiger. Die DDR-Bevölkerung lebte mit dem westlichen Fernsehen. In der westdeutschen Öffentlichkeit wurde der Unrechtscharakter des Regimes immer weniger thematisiert. Die Medien berichteten über wirtschaftliche Erfolge der →DDR, westdeutsche Ministerpräsidenten hatten Fototermine bei Erich Honecker, und 1987 erschien dieser zum Staatsbesuch in Bonn, Saarbrücken und München, womit die Anerkennung der DDR vollendet war.

Der Zusammenbruch der DDR 1989 traf die Westdeutschen unvorbereitet. Enthusiastisch wurde der Fall von Mauer und Stacheldraht begrüßt. Bundeskanzler Kohl inszenierte sich als Kanzler der Einheit. Er versprach „blühende Landschaften“ und es werde vielen besser, niemandem schlechter gehen. Der Wettbewerb der westdeutschen →Parteien überlagerte rasch die Politik im Osten. Im Frühjahr 1990 formierte die Ost-CDU, mit der Bauernpartei und dem „Demokratischen Aufbruch“ die „Union für Deutschland“ und gewann die Wahl. Auch die Bundestagswahl 1990 gewann die Regierung Kohl/Genscher im Zug der Euphorie über die Wiedervereinigung eindeutig, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme wurden erst anschließend sichtbar.

Ökonomisch war die DDR seit der Öffnung der Grenze auf die BRD angewiesen. Die desolaten ostdeutschen Unternehmen waren mit ihren Produkten nicht konkurrenzfähig. Im Vergleich der beiden Systeme und der skandalösen Verhältnisse in der DDR erstrahlte die BRD in hellem Licht. Das →Grundgesetz, einst als Provisorium konzipiert, war inzwischen zum Symbol des neuen demokratischen D geworden (Verfassungspatriotismus). Im Vertrag über den Beitritt der DDR, bei dessen Gestaltung Innenminister Schäuble dominierte, wurde die BRD in jeder Beziehung zum Modell. Hier veränderte sich nichts, in der DDR dagegen so gut wie alles.

In Hinsicht auf die ökonomische Neuordnung fiel die →Bundesregierung ihrer eigenen Propaganda zum Opfer. Während die Marktwirtschaft in der alten BRD von staatlichen, großindustriellen und korporatistischen Strukturen stabilisiert wurde, setzten Bundesregierung, →Sachverständigenrat und Wirtschaft nun auf die Selbstorganisationskraft des Marktes. Die →Treuhand verkaufte in kurzer Zeit viele Betriebe zu Spottpreisen oder legte sie still. Die Folge war eine weitgehende Entindustrialisierung Ostdeutschlands. Hohe Arbeitslosigkeit und Abwanderung wertvoller Arbeitskräfte waren die Folge, die Geburtenraten sanken auf einen historischen Tiefstand. Die meisten Bundesbehörden blieben im Westen. Berlin wuchs erst wieder, als die Bundesregierung 1999 mit einem Teil der Bundesbehörden umzog (Berlin-Bonn-Gesetz).

Die Einführung der D-Mark im Beitrittsgebiet 1990 löste einen kurzfristigen Wirtschaftsboom aus, westdeutsche Produkte flossen in den Osten und verdrängten die dortigen Erzeugnisse. Wegen der hohen zusätzlichen Ausgaben wurde 1991–1993 ein „Solidaritätszuschlag“ eingeführt und seit 1995 erneut erhoben. Die Schulden des Bundes stiegen sprunghaft. Die Hauptlast der Wiedervereinigung trugen die Arbeitnehmer über ihre Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung, in die die Ostdeutschen aufgenommen wurden. Die hohen Arbeitslosenzahlen und die Wirtschaftskrise im Osten führten zu Frustration und enttäuschten Erwartungen. „Politikverdrossenheit“ wurde 1992 „Wort des Jahres“.

Außenpolitisch wurde D von den USA unterstützt, denen Ds Einfügung in die NATO wichtig war. Sie halfen, die Skepsis der britischen und anfänglich auch der französischen Regierung zu überwinden. Mit der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie war D zum ersten Mal seit 1914 wieder ein Land ohne Grenzprobleme. Die Furcht vor einem neuen großen D in einigen Nachbarländern ebenso wie bei einigen Intellektuellen erwies sich als unsinnig.

Eingebunden im Westen und neue Eigenständigkeit

D nahm nicht an der Intervention der USA und ihrer Verbündeten im Irak 1991 teil, zahlte diesen stattdessen aber 17,9 Mrd. Dollar. Auch nach dem Abzug der letzten russischen Truppen 1994 änderte sich nichts an der militärischen Zurückhaltung. Der Bosnien-Konflikt wurde nicht durch Europäer, sondern durch eine US-Intervention beendet. 1998 wurden der neugewählte Kanzler Schröder und Außenminister Fischer von US-Präsident Clinton mit der Forderung nach NATO-Luftschlägen gegen Serbien konfrontiert, um die Repression im Kosovo zu beenden. D beteiligte sich. Angesichts der Anschläge in New York und Washington am 11.09.2001 sicherte Schröder den USA „uneingeschränkte Solidarität“ zu, D engagierte sich militärisch in Afghanistan und unterhält seitdem dort Truppen, die ihr Gebiet aber nicht stabilisieren konnten.

Als die USA und ihre Verbündeten 2003 zum zweiten Mal im Irak intervenierten, lehnte Kanzler Schröder den völkerrechtswidrigen Einmarsch als „Abenteuer“ ab und stellte sich offen gegen den Hauptverbündeten. Er punktete damit im Wahlkampf 2002 gegen den CSU-Kanzlerkandidaten Stoiber und erreichte eine knappe Mehrheit. Da die Begründung des Irak-Kriegs sich als unseriös erwies und die Besetzung zu einem Desaster führte, behielt er Recht. Schröder knüpfte enge Beziehungen zu Frankreich und Russland und intensivierte auch die Beziehung zu China.

2005 wurde die →CDU/CSU wieder zur stärksten →Fraktion im →Bundestag. Sie stellt seitdem mit Angela Merkel die Kanzlerin – zunächst in einer Großen Koalition, 2009–2013 in einer →Koalition mit der →FDP und seit 2013 und 2018 wieder in einer Großen Koalition. Außenpolitisch existiert ein weitreichender Konsens. D hält sich militärisch zurück und beschränkt sich auf UN- und NATO-Stabilisierungsmissionen. An der Intervention Frankreichs und Großbritanniens zum Sturz des libyschen Diktators Gaddafi 2011 beteiligte es sich nicht, im UN-Sicherheitsrat enthielt es sich sogar der Stimme. Die Verteidigungsausgaben sanken. 2011 wurde auf Initiative von Verteidigungsminister Guttenberg die Wehrpflicht ausgesetzt, ohne dass ein neues Konzept vorlag. Die →Bundeswehr gilt als nur beschränkt einsatzfähig, ohne dass dies in der Öffentlichkeit zu größerer Besorgnis führt. Faktisch dominieren die USA mit ihren überlegenen militärischen Fähigkeiten die strategische Situation, sie nutzen ihre Basen in Süddeutschland nach Belieben für Aktionen im Nahen Osten. Das Afrikakommando der US-Streitkräfte befindet sich seit 2007 in Stuttgart. Das Bestreben des FDP-Vorsitzenden Westerwelle und anderer Politiker, die restlichen amerikanischen Atombomben aus D zu entfernen, wurde von der Bundesregierung nicht aufgegriffen.

Auf die neuen Spannungen mit Russland und den bewaffneten Konflikt in der Ukraine reagierte D nicht militärisch, sondern diplomatisch. Mit dem „Minsk-Prozess“ versucht D gemeinsam mit Frankreich zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Der Konflikt konnte damit nicht gelöst, aber teilweise stillgestellt werden. Bei den Wirtschaftssanktionen gegen Russland wirkt D mit. Mit dem Bau der zweiten Röhre der Gaspipeline durch die Ostsee wird gleichwohl ein wichtiges deutsch-russisches Projekt fortgesetzt. Bei den Verhandlungen mit dem Iran über ein Nuklearabkommen beteiligte sich D aktiv, nach dem Ausstieg von Präsident Trump hält es zusammen mit Frankreich, Großbritannien, Russland und China das Abkommen aufrecht.

In der Staatenwelt tritt D als pragmatischer Partner auf. Eingedenk seiner historischen Erfahrungen ist es gewaltsamen Konflikten abgeneigt, eine pazifistische Grundstimmung ist allgemein verbreitet. Aktiv ist D bei den weltpolitischen Bemühungen zum Umweltschutz geworden, die rot-grüne Koalition leitete den Übergang zu Windkraft- und Sonnenenergie ein. Allerdings gibt es dabei Konflikte mit eigenen wirtschaftlichen Interessen, etwa in der Landwirtschaft und der Autoindustrie, einem der bedeutendsten Wirtschaftszweige. Zugleich waren ökologische Entscheidungen immer wieder durch situativen Opportunismus geprägt, so als die Regierung Merkel den Atomausstieg 2009 erst rückgängig machte und nach der Katastrophe von Fukushima 2011 wieder forcierte. 2019 ist nicht abzusehen, wie D seine Klimaziele erreichen kann.

Von der EU-Erweiterung zu neuen europäischen Kontroversen

Zentrale Ziele der deutschen →Außenpolitik waren die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union nach dem Ende des Ostblocks. Der deutsche EU-Kommissar Verheugen führte die Beitritts-Verhandlungen mit den zehn Staaten, die 2004 gleichzeitig der EU beitraten. 2007 folgten Rumänien und Bulgarien, 2013 Kroatien. Die Öffnung der Grenzen und der Beitritt zum Schengen-System führten zu intensiven Verflechtungen, ostwärts durch deutsche Investitionen und westwärts durch zuwandernde Arbeitskräfte. Die Vertiefung der Europäischen Union war in D unkontrovers, der →Bundestag ratifizierte 2005 die Europäische Verfassung. Umstritten war dagegen der Übergang von der DM zum Euro, der 1999 als Buchgeld und 2002 als Münzgeld eingeführt wurde.

Der Euro gibt dem innereuropäischen Handel Planungssicherheit, die praktischen Vorteile der Gemeinschaftswährung sind evident. Er führte zu einer Angleichung der Zinssätze im Euro-Raum und in den ersten Jahren zu einer Verlagerung von Investitionen nach Süd- und Osteuropa, mit der Folge erhöhter konsumtiver und infrastruktureller Ausgaben in den Mittelmeerländern. In D verlangsamte sich zunächst das Wachstum. Von der 2008 in den USA ausgebrochenen weltweiten Bankenkrise war D wenig betroffen, da es keine Spekulationsblasen gab. Allerdings mussten einige Banken gestützt werden. Die Eurostaaten konnten Spanien, Portugal und Irland mit Stützungsmaßnahmen stabilisieren. Griechenland wurde insgesamt mit 260 Mrd. Euro gestützt, der Stabilisierungsprozess zog sich lange hin und konnte erst 2018 formal abgeschlossen werden. Die gemeinsame Währung löste statt der erhofften Stabilisierung der EU kritische Konfrontationen aus, die die Öffentlichkeit verunsicherten. Die Stützung Griechenlands war auch das erste große Thema der 2013 gegründeten →Alternative für Deutschland (AfD), die darauf hinweisen konnte, dass die Verträge eine Beistandspflicht ausschlossen. Verantwortliche wie der ehemalige Finanzstaatssekretär und spätere Bundespräsident Köhler hatten immer wieder versichert, es werde nie zu einer solchen Situation kommen.

Auf die europäische Finanzkrise folgte direkt die Flüchtlingskrise. Viele Syrer waren seit 2011 vor dem Bürgerkrieg in die Nachbarländer geflüchtet, suchten aber auf Grund des langandauernden Krieges weitere Auswege. Griechenland hinderte sie seit 2015 nicht mehr an der Flucht über die Ägäis, registrierte und versorgte sie aber trotz EU-Unterstützung nicht. Der griechische Verteidigungsminister drohte, sie „nach Berlin“ weiterzuschicken. Die Flüchtlinge öffneten sich daraufhin die „Balkanroute“ nach Mitteleuropa. Die Bilder der chaotischen Flucht erreichten 2015 Tag für Tag die Fernsehzuschauer und erweckten tiefes Mitgefühl, zugleich aber auch Ängste. Nachdem Ungarn sich im August 2015 für eine repressive Linie entschied, erklärte sich Kanzlerin Merkel zusammen mit dem österreichischen Kanzler bereit, die Flüchtlinge aus Budapest aufzunehmen. Als Reaktion auf die negativen Bilder aus Ungarn begrüßte die Bevölkerung in München und anderen Städten die Flüchtlinge mit Hilfe und Applaus. Die Bilder gingen um die Welt und riefen Bewunderung und auch Kritik hervor. Die Hoffnung der Kanzlerin, mit ihrer großzügigen Haltung ein Beispiel in der EU zu setzen, erfüllte sich nur begrenzt. Ein EU-Mehrheitsbeschluss für eine quotierte Aufnahme von Flüchtlingen in der EU wurde von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn abgelehnt und erwies sich als nicht durchsetzbar. Die polnische und die ungarische Regierung nutzten den Konflikt zur Festigung ihres autoritär-nationalistischen Kurses. In der deutschen Öffentlichkeit entstand andererseits Unverständnis über Länder, die von Finanztransfers profitierten und sich andererseits unsolidarisch verhielten.

Nach wie vor gibt es breite Unterstützung für die europäische Integration, mit der AfD existiert aber seit 2013 eine EU-kritische Partei. Dagegen ist die Unterstützung bei den →Grünen und auch in der Linkspartei(→Die Linke) gewachsen. Die →CSU hat ihre EU-Skepsis wieder aufgegeben, nachdem sie damit bei den Wählern erfolglos blieb.

Konflikte um Einwanderung und Asyl

Mit der Öffnung der Grenzen 1989 nahm die Einwanderung aus dem Osten zu. 1990 reiste der Großteil der Deutschen aus Rumänien nach D aus, weil sie in der chaotischen Situation dort keine Zukunft mehr sahen. Angesichts der großen Aussiedlerzahlen schränkte D seit 1991 schrittweise den Zustrom ein – durch Kontingentierung, Kürzung von Renten- und Sozialleistungen und die Pflicht zur Antragstellung im Ausgangsland. Gleichzeitig war die Zahl der Asylbewerber stark gestiegen. Die Regierung Kohl startete eine Kampagne und machte die SPD verantwortlich, Bundeskanzler Kohl sprach von einer Staatskrise und es kam zu Übergriffen und Morden gegen Flüchtlinge, Ausländer und auch Behinderte. Dagegen stellten sich die „Lichterketten“ in München und in vielen anderen Städten mit Millionen von Teilnehmern. Schließlich einigten sich CDUCSU, SPD und FDP am 06.12.1992 auf eine Grundgesetzänderung zur Einschränkung des Asylrechts, der Beschränkung der Aussiedlerzahlen und im Gegenzug auf einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Danach ebbte die Gewaltwelle ab. Die Regierung Kohl hielt an der Doktrin fest, D sei „kein Einwanderungsland“. Gleichwohl verdoppelte sich in Kohls Regierungszeit die Zahl der Ausländer und ihr Aufenthaltsstaus verfestigte sich.

Nach ihrem deutlichen Wahlsieg kündigte die rot-grüne Mehrheit 1998 eine Reform der Einbürgerung mit Akzeptanz der Mehrstaatlichkeit an. Die hessische CDU mobilisierte im Landtagswahlkampf 1999 erfolgreich gegen den „Doppelpass“ und kippte damit die Mehrheit im →Bundesrat. Mit Hilfe der FDP wurde gleichwohl das Staatangehörigkeitsrecht reformiert. Kinder mit einem Elternteil, der mindestens acht Jahre in D leben, erhalten seitdem die deutsche Staatsangehörigkeit von Geburt an. Nachdem der CDU-Ehrenvorsitzende Kohl sich im Jahr 2000 durch eine Spendenaffäre diskreditiert hatte und der CDU-Vorsitzende Schäuble wegen einer Parteispende zurückgetreten war, gewann Kanzler Schröder politischen Spielraum zurück. Er setzte ein Anwerbeprogramm für IT-Spezialisten durch und brach damit die jahrzehntelange Blockade einer arbeitsmarktorientierten Einwanderungspolitik. Innenminister Schily berief eine unabhängige Kommission unter Vorsitz der ehemaligen Parlamentspräsidentin Süssmuth, die CDU-Vorsitzende Merkel zog mit einer eigenen Kommission nach. Beide Kommissionen betonten die Notwendigkeit kontrollierter Zuwanderung und gezielter staatlicher Integrationspolitik. Auf dieser Grundlage gelang es 2005, ein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden, das Zuwanderung, Aufenthalt und Integrationsmaßnahmen neu regelte. Nach dem Regierungswechsel 2005 berief Kanzlerin Merkel Integrationsgipfel ein und erklärte „Integration“ zu einer nationalen Aufgabe. Innenminister Schäuble führte parallel dazu eine „Islamkonferenz“ ein, mit der das Verhältnis zum Islam geklärt werden sollte. Sein Satz, der Islam gehöre zu D, wurde von Bundespräsident Wulff und Kanzlerin Merkel aufgenommen und seitdem immer wieder kontrovers diskutiert.

Seit 2011 steigt die Netto-Einwanderung nach D, vor allem aus den EU-Beitrittsländern Polen und Rumänien. Dadurch wird das Schrumpfen der einheimischen Arbeitsbevölkerung ausgeglichen. In der öffentlichen Diskussion wird diese Arbeitseinwanderung von der Flüchtlingskrise überlagert. Obwohl die Asylbewerberzahlen seit 2011 Jahr für Jahr stiegen, hatte das Innenministerium das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht ausreichend mit Personal ausgestattet. Schon vor Beginn des großen Zustroms war ein Bearbeitungsstau entstanden. Auf die Bilder der toten Kinder in der Ägäis und der abweisenden Behandlung der Flüchtlinge in Ungarn im Sommer 2015 reagierten die Medien und viele Menschen in D solidarisch. Die Bundeskanzlerin wurde mit ihrem Ausspruch „Wir schaffen das“ national und international als Repräsentantin der „Willkommenskultur“ wahrgenommen, Millionen Menschen engagierten sich, Länder und Kommunen organisierten die Unterbringung. Gleichzeitig funktionierte die Bearbeitung der Asylanträge immer schlechter, Ende 2015 waren 500.000 Flüchtlinge nicht registriert. Der Bearbeitungstau behinderte die Integration der Flüchtlinge und machte viele Bemühungen von Ehrenamtlichen nutzlos. Attentate demonstrierten den Kontrollverlust. Während alle anderen →Parteien die Aufnahme der Flüchtlinge unterstützten, kritisierte der CSU-Vorsitzende Seehofer eine „Herrschaft des Unrechts“, lud den ungarischen Ministerpräsidenten Orban ein und verstärkte über ein Jahr lang den Eindruck einer Krise. Der Vertrauensverlust schlug sich in den Wahlergebnissen 2017 nieder. Die AfD, die zwischenzeitlich an Bedeutung verloren hatte, zog in alle →Landtage und in den →Bundestag ein.

Globalisierung und soziale Spaltung

Nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kommunismus intensivierte sich die Globalisierung. Die internationalen Wertschöpfungsketten wurden dichter und komplexer, die deutschen Exporte versiebenfachten sich zwischen 1980 und 2017. Traditionelle Produktionen wurden aufgegeben, neue entwickelt.

D folgte dem neoliberalen Trend, Unternehmen und Wohlhabende steuerlich zu entlasten, Staatseigentum zu privatisieren und auf privatwirtschaftliche Lösungen zu setzen. Die Vermögensteuer wurde 1996 abgeschafft, die Einkommenssteuer radikal gesenkt. Stattdessen wurde die Mehrwertsteuer schrittweise bis auf 19 % angehoben, was die unteren Einkommen besonders belastet. Der Anteil des obersten Prozents am Gesamteinkommen erhöhte sich 1995–2013 von 8 auf 13 %, der Anteil der unteren Einkommenshälfte sank von 26 auf 17 %. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert. Vor allem im Baubereich wurden immer mehr Subunternehmen tätig und die Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechterten sich. Die Mitgliederzahlen der →Gewerkschaften sanken, die Tarifbindungen wurden schwächer. Die hohe Arbeitslosigkeit, die seit der Wiedervereinigung bestand, ließ sich durch diese neoliberale Politik aber nicht reduzieren. Am Ende der Ära Kohl 1998 betrug sie 11,4 Prozent.

Die rot-grüne →Koalition wollte mit einem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ die Konkurrenzfähigkeit Ds verbessern. Als 2002 bekannt wurde, dass die Bundesanstalt für Arbeit skandalös uneffektiv war, setzte Bundeskanzler Schröder mit der „Agenda 2010“ ein großangelegtes Reformprogramm durch, um falsche Anreize zu beseitigen und die Wirtschaft zu dynamisieren. Sozial- und Arbeitslosenhilfe wurden zusammengelegt und das Arbeitslosengeld auf 12 Monate begrenzt, für Ältere auf 18 Monate. Hinzu kamen Beitragssenkungen bei den Sozialabgaben, Steuersenkungen, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und Mehrausgaben für Bildung und Ausbildung. Die Arbeitslosenzahlen sanken jedoch nicht, sondern stiegen auf über 5 Mio, weil nun auch Sozialhilfeempfänger mitgezählt wurden. Obwohl CDU/CSU und FDP die soziale Schieflage der Agenda-Reformen im Vermittlungsausschuss verschärft hatten, wurden die Reformen mit Bundeskanzler Schröder verbunden. Das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften geriet in eine Krise. Gewerkschaftsmitglieder gründeten eine „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die sich mit der postkommunistischen PDS zusammenschloss und 2005 8,7 % der Stimmen erreichte. 2007 benannte sie sich in Die Linke um. Die SPD verlor in den Augen breiter Bevölkerungsschichten ihre sozialpolitische Kernkompetenz. 2005 unterlag sie in den Landtagswahlen in SH und in NW, das sie seit 1966 regiert hatte. Bundeskanzler Schröder stellte daraufhin die Vertrauensfrage mit dem Ziel von Neuwahlen.

Die CDU unter Führung von Angela Merkel stellte im Wahlkampf eine radikale Reform der Krankenversicherung vor, nach der alle Menschen den gleichen Beitrag zahlen sollten („Kopfpauschale“). Das hätte die niedrigeren Einkommen noch stärker belastet und kostete viel Zustimmung. Die CDU landete schließlich nur knapp vor der SPD. Mit dem Wahlausgang 2005 und der 2007 einsetzenden Finanzkrise endete der Zauber des neoliberalen Diskurses. Die Veränderungen aber blieben, SPD und CDU/CSU hatten viel sozialpolitisches Vertrauen verloren, insbesondere in die Sicherheit der Renten. Mit der „Riester-Rente“ wird seit 2002 ein privates System mit staatlichen Zuschüssen gefördert, das mit hohen Verwaltungskosten belastet ist. 2007 wurde das Renteneintrittsalter erhöht, was erneut als Verschlechterung empfunden wurde.

Trotz des neoliberalen Diskurses sind die Sozialausgaben in D weiter gestiegen, sowohl die direkten Staatsausgaben wie die Sozialversicherungsleistungen. Angesichts der demografischen Krise waren kinderbezogene Leistungen ein Schwerpunkt. Nicht profitieren konnten dabei allerdings Kinder aus Hartz-IV-Familien, da alle Leistungen angerechnet werden und vor allem kleine Kinder nach wie vor sehr geringe Beträge erhalten. Neue Programme wie das Baukindergeld tragen eher zu sozialer Ungleichheit bei, da sie für einkommensschwache Familien nicht zugänglich sind. Hinzu kommt eine steigende Komplexität vieler Programme, die wenig zielführend ist.

Von daher ist der Sozialstaat nur eingeschränkt in der Lage, die wachsende Ungleichheit in der →Gesellschaft auszugleichen. Zunehmend trägt auch der angespannte Wohnungsmarkt zu den Ungleichheitsproblemen bei. Nachdem die Politik lange den Niedriglohnsektor gefördert hat, um Menschen in Arbeit zu bringen, ist mit dem Mindestlohn seit 2014 eine Anhebung der niedrigsten Löhne gelungen.

Die untersten sozialen Schichten sind zunehmend vom →politischen System abgekoppelt, sei es dass sie angesichts wachsender Ungleichheit und einer wachsenden Distanz zur Politik nicht mehr wählen, sei es dass sie als Ausländer kein Wahlrecht haben. Proteststimmen kommen seit der Asylkrise zunehmend nicht mehr der Linkspartei, sondern der AfD zugute.

Das →Parteiensystem splittert sich zunehmend auf. Während 1998 noch eine klare Alternative bestand und eine rot-grüne statt einer schwarz-gelben →Bundesregierung gebildet wurde, ging es im Bund seit 2005 immer nur darum, welcher Koalitionspartner mit Angela Merkels CDU regierte. Das hat einen Spannungsverlust hervorgerufen, der politische Apathie oder die Wahl von Protestparteien weiter begünstigt. Hinzu kommt der Eindruck, dass die Politik wenig lösungsorientiert agiert. Auf der Landesebene hat es aber auch in den letzten Jahren auch immer wieder klare Alternativen und überraschend deutliche Wahlergebnisse gegeben, wenn Politiker ein klares Profil gezeigt haben, wie etwa Winfried Kretschmann und Malu Dreyer in der Flüchtlingskrise 2016. Die Parteienkonstellation ist von steigender Komplexität geprägt, die überraschende Ergebnisse zeitigen kann. Auch in D manifestiert sich die „Politikverdrossenheit“ in der Wahl einer wenig konstruktiven Protestpartei.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Dietrich Thränhardt

Fussnoten