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Kirchen/Religion | bpb.de

Kirchen/Religion

Ulrich Willems

Die religionspolitische Landschaft Ds

Die religiöse Landschaft Ds hat sich seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erheblich pluralisiert. Zählten 1950 in der BRD noch über 96 % der Bevölkerung zu den Mitgliedern der beiden großen christlichen Kirchen, waren es Ende 2018 nur noch 53,3 % – ca. 23 Mio. Mitglieder in der katholischen, ca. 21,1 Mio. in der evangelischen Kirche. (Die jeweils aktuellen Ausprägungen der meisten der im Beitrag genannten Zahlen finden sich auf den Homepages der beiden Kirchen sowie denen der kirchlichen Einrichtungen und Verbände). Allerdings gestaltet sich die Lage in verschiedenen Teilen Ds höchst unterschiedlich. Während in den mehrheitlich katholischen Bundesländern im Süden und Westen nach wie vor 70–80 % und in den mehrheitlich protestantischen Bundesländern im Norden nach wie vor 60–70 % der Einwohner*innen einer der beiden Kirchen angehören, sind es in den Stadtstaaten HH und B nur 40 % bzw. knapp 30 % und in den mehrheitlich protestantischen Bundesländern im Osten sogar nur 20 % bis 30 % – letzteres nicht zuletzt eine Folge der Religionspolitik der DDR. Zu den Mitgliedern der beiden großen christlichen Kirchen kamen Ende 2017 auf Seiten des Christentums noch einmal ca. 1,5 Mio. Mitglieder der orthodoxen Kirchen sowie ca. 900.000 Mitglieder und Anhänger der evangelischen Freikirchen und von anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften hinzu. Der religiös, ethnisch und organisatorisch ausgesprochen vielgestaltige Islam bildet neben den beiden christlichen Kirchen inzwischen die drittgrößte religiöse Tradition. Die Zahl der Einwohner*innen mit muslimischem Hintergrund wird nach einer Hochrechnung des Forschungszentrums des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahre 2015 auf 4,4–4,7 Mio. geschätzt. Die jüdischen Gemeinden in D zählen knapp 100.000 Mitglieder. Hinzu kommen die Mitglieder und Anhänger weiterer religiöser Traditionen wie Buddhismus, Hinduismus, Jesidismus und Sikhismus, deren genaue Zahlen sich nur schwer ermitteln lassen, die aber insgesamt kaum mehr als 1 % der Bevölkerung ausmachen. Zur religiösen Pluralisierung tragen darüber hinaus auch die vielfältigen Formen einer synkretistischen Amalgamierung von Elementen unterschiedlicher religiöser Traditionen sowie neue Formen von Spiritualität bei. Dem religiösen Feld im weitesten Sinne wird man schließlich auch die von der Verfassung den Religionsgemeinschaften gleichgestellten Weltanschauungsgemeinschaften wie die sich vielfach historisch, programmatisch und organisatorisch überlappenden Bewegungen und Organisationen von Freireligiösen, Freidenkern, Unitariern, Humanisten, Agnostikern und Atheisten zurechnen müssen. Der Bevölkerungsanteil, der keiner Religionsgemeinschaft angehört, ist inzwischen auf über 35 % angestiegen. Das Wissen über die religiösen und weltanschaulichen Orientierungen und Praktiken dieser großen Gruppe ist bisher jedoch höchst begrenzt.

Die religionspolitische Ordnung Ds

Die religionspolitische Ordnung der BRD lässt sich als System einer entgegenkommenden Kooperation von Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften charakterisieren, das allerdings eine deutliche Schlagseite zugunsten von Religion, Christentum und christlichen Großkirchen aufweist. Diese Schlagseite ist eine Folge der spezifischen deutschen religionspolitischen Konstellation (vgl. zum Folgenden Willems 2001; gelegentlich greife ich ohne weiteren Verweis wörtlich auf diesen Beitrag zurück). In den Verhandlungen über die religionspolitische Ordnung vor und während der Gründung der BRD standen sich zwei gleich starke Fraktionen gegenüber. Die eine Fraktion bildeten vor allem SPD und KPD, die eine strikte Trennung von Staat und Kirche durchzusetzen trachteten; die andere Fraktion bildeten die katholische Zentrumspartei sowie die neu gegründeten interkonfessionellen christdemokratischen Parteien sowie die großen Kirchen. Die Mitglieder dieser zweiten Fraktion teilten eine Diagnose der Ursachen des Nationalsozialismus, nach der dieser die unvermeidliche Konsequenz der Säkularisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts war. Schutz vor dem Totalitarismus konnte aus dieser Perspektive nur eine „Wiederverchristlichung der Gesellschaft“ bieten. Dafür musste den christlichen Kirchen ein möglichst breiter Handlungs- und Einflussspielraum eingeräumt werden. Der letztlich ausgehandelte Kompromiss beider Fraktionen über die religionspolitische Ordnung verankerte die Religionsfreiheit und das Verbot religiöser Diskriminierung im Grundrechtsteil (Art. 4, Abs. 1 u. 2; Art. 3, Abs. 3 GG), garantierte den konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen nach den Maßgaben der Religionsgemeinschaften (Art. 7, Abs. 3 GG) und übernahm den Großteil der institutionellen religionspolitischen Regelungen der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz (Art. 140 GG in Verb. mit Art. 136–139 und 141 WRV). Zu diesen Regelungen zählte u. a. auch die weitere Gewährung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für die Kirchen (und für weitere, die spezifischen Zulassungsvoraussetzung erfüllende Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften), der mit der Möglichkeit der Erhebung von Kirchensteuern auf der Basis der staatlichen Steuerlisten sowie weiteren Privilegien verbunden ist. Das zentrale Element des Programms einer „Wiederverchristlichung der Gesellschaft“ jedoch, die konfessionell ausgerichtete Grund- und Volksschule, konnte in der Verfassung nicht verankert werden. Sie avancierte daher zu einem der zentralen religionspolitischen Streitgegenstände der 1950er-Jahre und wurde schließlich nur in den mehrheitlich katholischen Bundesländern im Süden und Westen der Republik etabliert, aber auch dort Ende der 1960er abgeschafft. Ein weiteres Element der asymmetrischen religionspolitischen Ordnung bilden die Inhalte der Konkordate und Kirchenverträge, die die westlichen Bundesländer in den 1950er- und 1960er-Jahren und die fünf neuen Bundesländer in den frühen 1990er-Jahren vornehmlich mit den beiden großen christlichen Kirchen geschlossen haben. In diesen Verträgen werden u. a. die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten garantiert und Materien wie die Höhe der Staatsleistungen an die Kirchen, der Kirchensteuereinzug, die Anstaltsseelsorge und die Ausgestaltung des Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen geregelt. Ein weiteres Element der besonderen Stellung der beiden christlichen Kirchen besteht darin, dass es ihnen Anfang der 60er-Jahre nach massiven Interventionen und mit Unterstützung namhafter Abgeordneter der CDU/CSU sowie des Ministeriums für Familien- und Jugendfragen gelang, im Bundessozialhilfe- und im Jugendwohlfahrtsgesetzes den Vorrang freier vor öffentlicher Trägerschaft durchzusetzen, was unter den damaligen konfessionsstatistischen Verhältnissen den Vorrang insbesondere kirchlicher vor kommunalen Trägern bedeutete. Nach dieser Regelung war die Schaffung staatlicher Einrichtungen nicht nur in dem Fall unzulässig, in dem entsprechende Kapazitäten freier Träger bereits existieren, sondern auch dann, wenn letztere ausgebaut oder sogar erst geschaffen werden könnten (§ 93, 1 BSHG, § 5, 3 JWG, damalige Fassungen). Für die Kommunen kam dies faktisch einem Betätigungsverbot gleich. Zu dem besonderen rechtlichen Status der Kirchen zählt auch das im Grundgesetz in Art. 140 GG, in Verb. m. Art 137, Abs. 3 WRV den Religionsgemeinschaften eingeräumte Recht der Verwaltung der eigenen Angelegenheiten und seine extensive Interpretation und Umsetzung. So sind die Kirchen etwa von den Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes ausgenommen, was es diesen nicht nur erlaubt, eigene Formen der Mitarbeiter*innenvertretung und des Interessenausgleichs zwischen Arbeitnehmer*innen und kirchlichen Arbeitgebern zu etablieren. Vielmehr sind kirchliche Arbeitnehmer*innen besonderen religiösen und weltanschaulichen Loyalitätsanforderungen ihrer kirchlichen Arbeitgeber ausgesetzt, die bis in die Bereiche politischer Ansichten und privater Lebensführung reichen. Diese in den 1950er- und 1960er-Jahren konstituierte religionspolitische Ordnung der BRD, die den Kirchen in der geschilderten Weise einen besonderen (rechtlichen) Status und eine besondere Stellung einräumte, war spätestens mit dem Godesberger Programm der SPD, indem diese vornehmlich aus wahlpolitischen Gründen ihren Frieden mit dieser Ordnung machte und ihre seit Ende des 19. Jahrhunderts erhobene Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirche aufgab, gegen politische Änderungen geschützt. Selbst im Zuge der Wiedervereinigung des mehrheitlich christlichen Westens Ds mit dem weitgehend säkularisierten Osten kam es zu keiner Revision der religionspolitischen Ordnung und der Stellung der Kirchen. Vielmehr wurde das religionspolitische Ordnungskonzept aus dem Westen auch in den fünf neuen Bundesländern implantiert. Allein das Bundesverfassungsgericht hat in der Geschichte der BRD gelegentlich allzu ambitionierten Versuchen der Umsetzung des Programms einer „Verchristlichung der Gesellschaft“ oder der religionspolitischen Privilegierung des Christentums in seinen Entscheidungen zu Sozialhilfe, Schulgebet, christlicher Gemeinschaftsschule, dem Kruzifix im Klassenzimmer, dem Körperschaftsstatus und dem islamischen Kopftuch Grenzen gesetzt. Die erheblichen religionspolitischen Herausforderungen der religiösen Pluralisierung wie etwa die (gleichberechtigte) Integration des Islam und von Muslim*innen in die religionspolitische Ordnung der BRD oder die Berücksichtigung der Bedarfe der wachsenden Zahl von Konfessionslosen sind bisher nur unzureichend politisch bearbeitet (vgl. Willems 2018).

Religiöse Akteure in Gesellschaft und Politik Ds

Die beiden christlichen Kirchen

Die beiden großen christlichen Kirchen zählen zusammen mit ihrem breiten Organisationsumfeld zu den bedeutendsten gesellschaftlichen und politischen Akteuren der Bundesrepublik (vgl. zu den folgenden Ausführungen Willems 2007; gelegentlich greife ich ohne weiteren Verweis wörtlich auf diesen Beitrag zurück). Zunächst einmal handelt es sich nach wie vor um zwei der größten gesellschaftlichen Gruppen mit einem ausgesprochen hohen Organisationsgrad. Denn neben den Einrichtungen der verfassten Kirche existieren eine Vielzahl von Organisationen in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Kirche, insbesondere im Bereich der Erbringung sozialer Dienstleistungen (Diakonie, Caritas). Hinzu kommt vor allem in der katholischen Kirche ein breites Vereins- und Verbändewesen. So zählen die 125 Mitgliedsverbände der Arbeitsgemeinschaft katholischer Organisationen Ds (AGKOD) etwa 6 Mio. Mitglieder. Zu den größten dieser Verbände gehören der Bund der Deutschen Katholischen Jugend mit etwa 660.000 Mitgliedern und die katholische Frauengemeinschaft Ds mit rund 450.000 Mitgliedern. Die Organisationsneigung und der Organisationsgrad der protestantischen Laien sind demgegenüber geringer ausgeprägt, die Zahl der Verbände und die ihrer Mitglieder sind deutlich niedriger.

Die beiden großen christlichen Kirchen verfügen zudem über eine erhebliche Finanzkraft. So betrug der Haushalt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Gliedkirchen im Jahre 2014 12.288 Mio. €. Davon stammten 5291 Mio. € aus Kirchensteuern und Mitgliedsbeiträgen, 3225 Mio. € aus (vornehmlich staatlichen) Fördermitteln und Zuschüssen, 1012 Mio. € aus Entgelten, 889 Mio. € aus Vermögenseinnahmen und 273 Mio. € aus Staatsleistungen – bei letzteren handelt es sich im Wesentlichen um laufende Kompensationsleistungen für das im Rahmen der Säkularisation 1803 enteignete Kircheneigentum. Bei der katholischen Kirche wird man von ähnlichen Zahlen ausgehen dürfen. Daten zu den Umsätzen der sozialen Dienstleistungseinrichtungen der beiden Kirchen werden von den Kirchen nicht vorgelegt, dürften aber deutlich über denen der verfassten Kirchen liegen. Hinzu kommen die vielfältigen wirtschaftlichen Aktivitäten von Organisationen und Unternehmen im Raum der Kirchen – darunter Medienunternehmen, Wohnungs- und Immobilienunternehmen, Getränkehersteller, Banken und Versicherungen – sowie der hohe Wald- und Grundbesitz. Der kirchenkritische Autor Carsten Frerck schätzte 2017 den Gesamtumsatz der beiden Kirchen, ihrer Sozialdienstleister sowie der Organisationen und Unternehmen in ihrem Umfeld auf 129 Mrd. €.

Beide Kirchen sind darüber hinaus auf beinahe allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen präsent. Dafür sorgen zunächst die Ortsgemeinden und die Vielzahl der sozialen Einrichtungen auf lokaler Ebene. So verfügte die evangelische Kirche Ende 2018 über knapp 14.000 Kirchengemeinden, die katholische Kirche über etwas mehr als 10.000 Pfarrgemeinden. Hinzu kommen die überwiegend lokal angesiedelten sozialen Einrichtungen von evangelischer Diakonie (31.600) und katholischer Caritas (24.780). Oberhalb der Ortgemeinden und der lokalen Angebote existiert ein dichtes organisatorisches Netz von Einrichtungen, Organisationen und Dachverbänden auf kommunaler, regionaler, Landes- und Bundesebene. Mit der hohen Organisationsdichte und der breiten gesellschaftlichen Präsenz geht auch eine erhebliche gesellschaftliche Reichweite einher. Über Gottesdienstbesuche und die Wahrnehmung kirchlicher Amtshandlungen hinaus besuchten etwa auf evangelischer Seite 2017 etwas mehr als 14 Mio. Menschen die unterschiedlichen Veranstaltungen und Angebote auf Gemeindeebene. Auf dem Feld der sozialen Dienstleistungen erreichten Diakonie und Caritas mit ihren sozialen Einrichtungen und Dienstleistungen im Jahr 2018 nach eigenen Angaben etwa 23 Mio. Menschen.

Auch die arbeitsmarktpolitische Relevanz der Kirchen ist hoch. Die evangelische Kirche verfügte 2018 über 241.000 Beschäftigte. Hinzu kamen die knapp 600.000 Beschäftigten in der Diakonie. Bei der katholischen Kirche wird man von ähnlichen Zahlen ausgehen dürfen. Damit zählen die beiden Kirchen neben der öffentlichen Hand zu den größten Arbeitgebern in D.

Die beiden Kirchen und ihre Einrichtungen stellen zudem umfangreiche soziale Dienstleistungen bereit. Nach wie vor befindet sich heute – mit großer regionaler Varianz, die die oben geschilderten unterschiedlichen konfessionsstatistischen Verhältnisse widerspiegelt – ein Großteil, in manchen Feldern sogar der überwiegende Teil sozialer Einrichtungen wie Krankenhäuser, Senioreneinrichtungen, Kindergärten sowie Angebote in der Kinder- Jugend- und Familienhilfe – in kirchlicher Trägerschaft, finanziert überwiegend aus Mitteln der gesetzlichen Versicherungen, der öffentlichen Hand und der Nutzer*innen.

Die Organisationsstrukturen der beiden Kirchen gestalten sich unterschiedlich. Die katholische Kirche in D ist (wie die katholische Kirche weltweit) hierarchisch organisiert. An der Spitze der katholischen Kirche steht der Papst, ausgestattet mit der höchsten Rechtsgewalt und Lehrautorität. Die lokalen Kirchen werden von Ortsbischöfen geleitet, ebenfalls ausgestattet mit weitreichenden rechtlichen und lehrbezogenen Kompetenzen. Die unterste Ebene der katholischen Organisationsstruktur wird durch die Pfarrgemeinden gebildet. Auch hier setzt sich das hierarchische Prinzip in Form der geistlichen Leitung durch die Kleriker fort. Im zweiten vatikanischen Konzil wurde das hierarchische Leitungsprinzip zwar durch das Element der gemeinschaftlichen Leitung der Kirche durch regionale, nationale oder kontinentale Bischofsversammlungen ergänzt, aber nicht spannungsfrei mit letzterem verbunden. Auch die Rolle der Laien in der katholischen Kirche wurde mit Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Aufgaben der Kirche gestärkt, ist aber nach wie vor Gegenstand von Diskussionen und Konflikten.

Die katholische Kirche in D setzt sich aus 20 Diözesen und sieben Erzdiözesen zusammen. Die Deutsche Bischofskonferenz ist ein Zusammenschluss der Bischöfe der Teilkirchen mit vornehmlich koordinierenden und beratenden Funktionen und hat sich zum wichtigsten Akteur des Katholizismus in der politischen Öffentlichkeit Ds entwickelt. Das Amt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz verfügt zwar über eine von der jeweiligen Person und dem Führungsstil abhängiges mehr oder weniger großes innerkirchliches wie öffentliches Ansehen, hat aber keinen besonderen kirchenrechtlichen Status. Auch die katholischen Laien aus den Diözesen und den Vereinen und Verbänden verfügen über eine Repräsentanz auf Bundesebene, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), das die Anliegen der katholischen Leichen sowohl innerkirchlich als auch in der politischen Öffentlichkeit vertritt.

Im Gegensatz zur katholischen Kirche hat der Protestantismus weder ein hierarchisches Kirchenverständnis noch kennt er ein Lehramt. Das Prinzip der protestantischen Kirchenleitung ist synodal, besteht also in der Leitung durch Kirchenparlamente, in denen Laien und Amtsträger zusammenwirken. Diese Struktur findet sich von der Ebene der Ortsgemeinden über die Landeskirchen bis hin zur EKD. Allerdings weisen eine Reihe von Landeskirchen auch dem jeweiligen Bischof eine besondere Stellung zu. Zudem verfügen die landeskirchlichen Verwaltungsapparate über erhebliche Kompetenzen. Die Wirklichkeit der Kirchenleitung besteht daher in einer komplexen Verknüpfung von synodalen, episkopalen und konsistorialen Elementen.

Die evangelische Kirche in D setzt sich aus 20 konfessionell unterschiedlich ausgerichteten Landeskirchen zusammen (lutherisch, reformiert, uniert). Oberhalb der Landeskirchen existieren zwei Formen von Zusammenschlüssen, die „Evangelische Kirche in Deutschland“ (EKD) und die konfessionellen Kirchenbünde. Die EKD wurde 1948 als Zusammenschluss autonomer lutherischer, reformierter und unierter Landeskirchen gegründet, um den Protestantismus auf nationaler Ebene zu repräsentieren. Zu den Aufgaben der EKD, die selbst keine Kirchenqualität hat, zählt neben der Organisation und Koordination gesamtkirchlicher Aufgaben die Wahrnehmung der Interessen des Protestantismus gegenüber der Politik und Gesellschaft. Neben der EKD existieren zwei konfessionelle Kirchenbünde, die „Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands“ (VELKD) als Zusammenschluss der sieben lutherischen Landeskirchen und die „Union der Evangelischen Kirchen in der EKD“ (UEK) als Zusammenschluss von 12 unierten, reformierten und lutherischen Landeskirchen sowie drei weiteren Gastkirchen. Zu den Zielen der konfessionellen Kirchenbünde zählen vornehmlich die Organisation und Koordination gesamtkirchlichen Aufgaben und die Klärung theologischer Fragen.

Nimmt man die Kirchen in ihrer Rolle als politische Akteure in den Blick, so stellt sich zunächst die Frage, welche Anliegen bzw. Interessen die Kirchen vertreten bzw. geltend machen (vgl. zum Folgenden Willems 2007, S. 321–322).

(Eigen-)Interessen vertreten die Kirchen etwa dort, wo sie sich für den Erhalt ihres besonderen, privilegierten Status in D und die damit verbundenen Rechte und Vorteile einsetzen. Wertorientierungen, also Auffassungen über die richtige Führung des individuellen kollektiven Lebens sowie die Vorzüglichkeit von Lebensformen, verfechten die Kirchen mit ihren Positionen zu Ehe, Familie und sexuellen Orientierungen oder zu Inhalten einer Werteerziehung an Schulen. Moralische Forderungen, also die (interessenfreie) an moralischen Prinzipien orientierte Lösung sozialer Probleme, verfolgen die Kirchen dort, wo sie sich advokatorisch für die Belange großer Bevölkerungsgruppen in der sogenannten Dritten Welt, für Arme und sozial Schwache, für Flüchtlinge oder Immigranten in der Bundesrepublik einsetzen oder wo sie sich für umwelt-, friedens- oder menschenrechtspolitische Anliegen engagieren.

Das Spektrum der von den Kirchen gesellschaftlich und politisch verfochtenen Forderungen und Anliegen ist ungemein breit. Sie verfolgen ihre organisatorischen (Eigen-)Interessen, etwa mit Blick auf den Erhalt ihres besonderen, privilegierten Status in D und die damit verbundenen Rechte und Vorteile, verfechten jedoch auch spezifische Positionen zu Fragen wie Ehe, Familie und die Anerkennung sexueller Orientierungen, setzen sich advokatorisch für die Belange benachteiligter Bevölkerungsgruppen ein und engagieren sich für umwelt-, friedens- oder menschenrechtspolitische Anliegen.

Gemessen an Mitgliederstärke, Organisationsgrad, Finanzkraft und rechtlich-politischer Stellung ist die Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit der Kirchen in D allerdings eher begrenzt. Weder können sie mit dem Entzug wichtiger systemrelevanter Leistungen drohen noch verfügen sie länger wie ehemals insbesondere die katholische Kirche über die Fähigkeit zur (wahl-)politischen Mobilisierung der Mitglieder. Eine wesentliche Beschränkung der politischen Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit stellt auch die innerkirchliche Pluralität und Heterogenität dar. Aufgrund der nach wie vor großen Mitgliederzahl sind beinahe alle gesellschaftlichen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Interessen, Wertorientierungen und moralischen Forderungen in den Kirchen repräsentiert. Positionieren sich die Kirchen in gesellschaftlichen und politischen Streifragen, können die in der Regel damit einhergehenden Konflikte jederzeit auch innerhalb der Kirchen aufbrechen und zur Bedrohung für die ideelle und organisatorische Einheit und den Zusammenhalt werden.

Andererseits verfügen die Kirchen über erhebliche Ressourcen für die politische Einflussnahme. Dazu zählt zunächst und vor allem ihr nach wie vor sehr guter Zugang zur Politik. Immer noch ist ein großer, wenn auch inzwischen abnehmender Teil der politischen Eliten in Bundestag und Landesparlamenten Mitglied einer der beiden Kirchen. Die besonders enge Verbindung von katholischer Kirche und CDU/CSU wird nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf der Führungsebene des ZdK deutlich, zählen doch viele der Funktionäre des ZdK gleichzeitig zur Führungsebene dieser beiden Parteien auf Bundes- oder auf Landesebene (Liedhegener 2003, S. 251). Neben den personellen Verflechtungen ergibt sich der gute Zugang zur Politik auch aus ihrer Inkorporierung durch die Politik. So haben die Kirchen Sitz und Stimme in vielen Beratung- und Entscheidungsgremien wie etwa den Rundfunkräten, im Spruchgremium der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien oder im Deutschen Ethikrat. Der gute Zugang der Kirchen zur Politik wird auch deutlich in der regelmäßigen Beteiligung der Kirchen bzw. ihrer Lobbybüros sowie von Diakonie und Caritas bei der Beratung und Formulierung von Gesetzesvorhaben auf Bundes- wie Landesebene.

Weitere Akteure des religiösen Feldes

Der Islam in D ist mit Blick auf Glaubensrichtungen, regionale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit äußerst vielgestaltig. Laut BMI zählt nach einer Hochrechnung des Forschungszentrums des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahre 2015 größte Teil der Muslim*innen in D zu den Anhänger*innen des sunnitischen Islam (ca. 75 %), danach folgen Alevit*innen (11 %) und Schiit*innen (7 %). Die dominierende Herkunftsregion ist – wenn auch in abnehmendem Maße – die Türkei (50,6 %). Die Zahl der Moscheevereine in D wird laut einer Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2019 zur Finanzierung von Moscheegemeinden auf 2350–2750 geschätzt, in denen sich etwa 15–30 % der Muslim*innen in D zusammengeschlossen haben sollen. Ein Teil dieser Moscheegemeinden hat sich in Dachverbänden zusammengeschlossen. Dazu zählen auf Seiten des sunnitischen Islam etwa die Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), der Islamrat für die BRD, der Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. und der Zentralrat der Muslime in D, die sich 2007 im Koordinierungsrat der Muslime in D zusammengeschlossen haben. Hinzu kommen Dachverbände von Alevit*innen und Schiit*innen wie die Alevitische Gemeinde Ds und die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in D sowie die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ). Rechtlich strittig ist derzeit, ob diese Verbände den Status von Religionsgemeinschaften reklamieren können. Insgesamt ist die Datenlage zum religiösen Leben und der organisatorischen Infrastruktur der Muslim*innen allerdings höchst begrenzt. So ist bereits unklar, wie viele der Einwohner*innen mit muslimischem Migrationshintergrund zu den praktizierenden Muslim*innen zu rechnen sind. Diese Datenprobleme sind auch eine Folge der sich vom Christentum unterscheidenden Organisationsweise des Islam, der keine klaren Mitgliedschaftsregeln und -riten (wie die christliche Taufe) kennt und eine Mitgliedschaft in Moscheegemeinden nicht zu einer notwendigen Voraussetzung für die religiöse Praxis oder die Erfüllung religiöser Verpflichtungen macht. Hinzu kommt, dass es ebenfalls anders als im Christentum keine Instanzen einer verbindlichen Festlegung oder Auslegung von zentralen Glaubensinhalten gibt. Beides führt dazu, dass sich die Integration des Islam in die religionspolitische Ordnung Ds ausgesprochen schwierig gestaltet. Denn der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts setzt ebenso wie der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen eine mitgliedschaftliche Organisation der Religionsgemeinschaften voraus, der Religionsunterricht ebenso wie die Berufung von Professor*innen an islamisch-theologische Fakultäten zudem die verbindliche Bestimmung der wesentlichen Glaubensinhalte von Seiten der Religionsgemeinschaften. So ist bisher die AMJ die einzige islamische Religionsgemeinschaft, die in Hessen und Hamburg als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist. Die religionsrechtlichen Voraussetzungen von islamischen Religionsunterricht und islamisch-theologischen Fakultäten werden derzeit durch Hilfslösungen wie Beiräte und Stiftungen geschaffen, in denen einzelne islamische Verbände und muslimische Einzelpersönlichkeiten die Funktion der Religionsgemeinschaften übernehmen.

Auch das Feld der Weltanschauungsgemeinschaften ist religiös-weltanschaulich und politisch vielgestaltig. Zu den Akteuren dieses Feldes zählen etwa der Humanistische Verband Ds (HVD), der Bund freireligiöser Gemeinschaften Ds, der Deutsche Freidenker Verband und der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten. Eine Reihe dieser Organisationen haben sich im Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften und im Koordinierungsrat säkularer Organisationen zusammengeschlossen. Religionspolitisch treten diese Organisationen entweder für eine striktere Trennung von Staat, Religion und Weltanschauung oder für den Abbau der existierenden Asymmetrien in der religionspolitischen Ordnung, also die faktische Gleichbehandlung der Weltanschauungsgemeinschaften, ein. Gelegentlich reklamieren sie auch eine religionspolitische Repräsentationsfunktion für die Konfessionslosen in D – angesichts der Größe und Heterogenität dieser Gruppe zu Recht wohl nur für einen kleineren Teil. Viele dieser Weltanschauungsgemeinschaften bieten zudem weltanschauliche Bildungs-, Beratungs- und Hilfsangebote an, einige operieren darüber hinaus als freie Träger der Wohlfahrtspflege und organisieren Werteerziehung an öffentlichen Schulen. Einige dieser Organisationen wie etwa der Bund freireligiöser Gemeinschaften Ds oder eine Reihe von Landesverbänden des HVD sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Ulrich Willems

Fussnoten