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Wohlfahrtsverbände | bpb.de

Wohlfahrtsverbände

Josef Schmid

Im Allgemeinen werden die Arbeiterwohlfahrt, der Caritasverband, das Diakonische Werk, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden unter dem Sammelbegriff „Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege“ subsumiert. Als wesentliche Eigenschaft dieser Kategorie von → Interessengruppen gilt es, dass sich ihre Tätigkeit auf das ganze Bundesgebiet sowie auf das gesamte Gebiet der Wohlfahrtspflege erstreckt. Dabei müssen sie soziale Hilfen selber leisten und nicht nur fordern und fördern; ferner sind sie in der Regel gemeinnützig, also nicht auf Gewinn hin orientiert. Die verbandlichen Aufgaben und Zielvorstellungen, der institutionell ausdifferenzierte sozialstaatliche Handlungskontext sowie die aktuellen → sozialpolitischen Kürzungsmaßnahmen, aber auch die deutsche Einheit und die europäische Integration wirken auf die Struktur der Wohlfahrtsverbände ein und machen diese zu äußerst komplexen Organisationen, was sich in ihren heterogenen, teils widersprüchlichen Strukturen, Verhaltensmustern und Problemen niederschlägt. So konkurrieren Anforderungen eines auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Vereinigung mit den Imperativen einer sozialpolitischen Einbindung und den Funktionen eines Dienstleistungsbetriebes.

Die starke Stellung und das bemerkenswert große politische Gewicht der Wohlfahrtsverbände basieren auf spezifischen historischen Entwicklungen und → Gesellschaftsstrukturen; sie sind für den deutschen → Sozialstaat charakteristisch und in Europa allenfalls noch in den Niederlanden anzutreffen. Prägend für diesen historischen Entwicklungspfad sind die aus dem Staat-Kirche-Konflikt des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen politisch-organisationalen Konfigurationen und die Betonung des → Subsidiaritätsprinzips.

Zusammen beschäftigen sie derzeit beispielsweise 1,7 Mio. hauptamtliche MitarbeiterInnen, haben ca. 2,5 bis 3 Mio. ehrenamtliche HelferInnen und betreiben über 105.000 Einrichtungen mit mehr als 3,7 Mio. Betten bzw. Plätzen im Sozial- und Gesundheitswesen. Wohlfahrtsverbände sind somit gemeinnützige Träger von rund einem Drittel aller sozialer Dienstleistungseinrichtungen; sie entfalten ihre Aktivitäten im Bereich der Fürsorge, der ambulanten und teilstationären Einrichtungen, dem Gesundheitswesen sowie der Auslandshilfe. Ihre Arbeit wird mit ca. 90 Prozent aus den Sozialversicherungen bzw. aus staatlichen Zuschüssen finanziert.

Allerdings weisen dabei die einzelnen Verbände unterschiedliche Schwerpunkte auf, wie beispielsweise das Rote Kreuz im Rettungswesen oder die konkrete Substanz und das Ausmaß an Wertbindung der Hilfeleistungen, v. a. der kirchlichen Verbände.

Bei den Wohlfahrtsverbänden sticht damit als erstes wesentliches Merkmal die dominante Funktion als sog. „Freie Träger“ sozialer Einrichtungen und Dienste hervor, weshalb sie auch als „Sozialleistungsverbände“ (U. von Alemann) klassifiziert werden können. Das heißt, sie vertreten nicht nur advokatorisch die Interessen sozial Schwacher, sondern sie stellen soziale Dienstleistungen und Hilfen zur Verfügung. Zweitens nehmen Wohlfahrtsverbände eine zweideutige Rolle wahr, indem sie einerseits nach ihrem Selbstverständnis, ihrer historischen Entwicklung und dem rechtlichen Status private Institutionen darstellen, andererseits nehmen sie aber umfangreiche öffentliche Aufgaben wahr, sind hochgradig staatlich alimentiert und eng in Entscheidungen für das Sozial- und Gesundheitswesen eingebunden. Für die kirchlichen Verbände (Caritas und Diakonisches Werk) existieren darüber hinaus besondere arbeitsrechtliche Bedingungen. Drittens zeigt sich hier ein sehr hohes Maß an Kooperation, das die Beziehungen der Wohlfahrtsverbände untereinander und zum Staat prägt. Als zentrale politische Koordinierungsstellen fungieren dabei die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (2018) und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge; ferner existiert ein breites interorganisatorisches Netz an Fachverbänden sowie regionalen Gliederungsformen.

Die fest verwurzelte Wahlverwandtschaft zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden ist zugleich für die Verbands- und Wohlfahrtsstaatsforschung relevant. Die Vielfalt des Angebots und die gesellschaftliche Verankerung der „Freien Träger“ ist indes weniger im Rahmen des → Pluralismuskonzepts, sondern nach dem → Subsidiaritätsprinzip analysiert und legitimiert worden. Die zunehmende Einbindung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in die staatliche Sozialpolitikproduktion ist ferner als → Neokorporatismus interpretiert worden. Verhandlungen, Kooperation und Tausch sind wesentliche Merkmale dieses Governancemusters. Dieser Sachverhalt bildet zugleich ein zentrales Element des „christdemokratischen“ Typus des Sozialstaates, der sich gerade durch die Arbeitsteilung mit Wohlfahrtsverbänden bzw. durch den geringen Umfang staatlicher und kommunaler Sozialdienste von anderen westeuropäischen Modellen abhebt und als Sonderfall des konservativen Falls betrachtet werden kann. Trotz aller kritischen Debatten über die Probleme der Wohlfahrtsverbände und den Abbau des Sozialstaates hat sich daran in den vergangenen Dekaden nichts geändert. Im Gegenteil, das Personal und die Dienstleistungskapazitäten der „Freien Wohlfahrt“ sind kontinuierlich gewachsen. Schließlich betonen weitere Ansätze die Zugehörigkeit der Wohlfahrtsverbände zum sog. Dritten Sektor, als dem Feld aus Non Profit Organisationen, Gemeinschaften, Vereinen und Verbänden, ehrenamtlichem Engagement, Philantropie jenseits von Staat und Markt.

Allerdings zeichnen sich bei den Wohlfahrtsverbänden ebenfalls wichtige Veränderungen ab, die auf Individualisierung, Wertewandel und veränderte politisch-ökonomische Rahmenbedingen – v. a. eine stärkere Wettbewerbsorientierung zur Leistungssteigerung des Sozialstaats und der sozialen Dienste – zurückzuführen sind. Diese werden als Wandel von der Wertegemeinschaft zur Dienstleistungsorganisation, als Entstaatlichung und Ökonomisierung bzw. als Entwicklung neuer Governancestrukturen beschrieben und mit Sorge von den Akteuren diskutiert. Die starken sozialstrukturellen Verschiebungen durch Zuwanderung und Migration haben zudem die muslimische Wohlfahrt als neuen Akteur ins Leben gerufen, über dessen sozialpolitische Einbindung und Finanzierung analog zu den etablierten Wohlfahrtsverbänden diskutiert wird. Darüber hinaus verschieben sich im Diskurs um bürgerschaftliches Engagement die Gewichte von der Organisation zum Individuum, was ebenfalls Rückwirkungen auf die Wohlfahrtsverbände haben wird. Andererseits schaffen der demografische Wandel zusätzliche Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen.

Ob die Wohlfahrtsverbände weiterhin ihre Größe und sozialpolitische Vorrangstellung als Anbieter wahren können, ob sie sich erfolgreich modernisieren, oder ob sie durch for-profit Träger starke Konkurrenz erhalten bzw. durch das „Aussterben der Stammkunden“ (Steeck) an Bedeutung verlieren, ist derzeit nicht sicher. Jedenfalls ist und bleibt das Feld weiterhin durch eine hohe Heterogenität und Komplexität gekennzeichnet.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Josef Schmid

Fussnoten