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Das Mosaik der Interessenvermittlung im Mehrebenensystem Europas

Hans-Jörg Schmedes

/ 14 Minuten zu lesen

Die komplexe Entscheidungsstruktur des europäischen Mehrebenensystems wirkt einer einseitigen Einflussdominanz bestimmter Interessen entgegen. Als zunehmend problematisch erweist sich jedoch die mangelnde Transparenz bei der Interessenvertretung.

Einleitung

Gemessen an den Überschriften zahlreicher Veröffentlichungen, scheint sich auf europäischer Ebene eine besondere, gleichzeitig aber auch eine besonders dominante Form der Vertretung von Interessen entwickelt zu haben. Berichtet wird beispielsweise von der "Herrschaft der Lobbyisten in der Europäischen Union?", von Brüssel als "Champions League des Lobbying", von der "Gestaltungsmacht organisierter Interessen" oder gar von "Machiavelli in Brüssel". In der Tat sind am Sitz zentraler Organe der Europäischen Union (EU) höchst unterschiedliche Interessenvertreter aktiv, deren Anzahl mit zunehmenden Kompetenzen der EU stetig zugenommen hat und die auf verschiedenen Wegen versuchen, Zugang zu den EU-Institutionen zu finden. Zu ihnen gehören Verbände, Großunternehmen, Rechtsanwaltskanzleien, Beratungsagenturen, Lobbyingunternehmen und Denkfabriken. Auch die Ständigen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten und einzelner ihrer Regionen repräsentieren die Interessen ihres Landes oder ihrer Region in Brüssel, wenngleich sie gewöhnlich nicht als "Lobbyisten" im klassischen Sinne angesehen werden. Allerdings ist fraglich, ob man alleine aus der Vielzahl der in Brüssel aktiven Interessenorganisationen Rückschlüsse auf deren tatsächlichen Einfluss auf politische Entscheidungen ziehen kann.

Dass sich auf europäischer Ebene ein derart ausdifferenziertes System der Interessenvertretung mit einer Vielzahl unterschiedlicher Organisationen etablieren würde, galt in den frühen Jahren des Integrationsprozesses keinesfalls als ausgemacht. Auch war lange Zeit nicht abzusehen, welche Struktur das europäische System der Interessenvermittlung annehmen würde. Die Herausbildung des Regierungssystems der EU als eine komplexe und dynamische Mehrebenenstruktur hat die Entstehung eines vielschichtigen und uneinheitlichen Systems der Interessenvermittlung mit vielfältigen Wechselwirkungen zu seinen mitgliedstaatlichen Pendants nach sich gezogen. In diesem System blieben nationale Strukturmuster und Besonderheiten erhalten, und auch auf europäischer Ebene existieren unterschiedliche Arrangements nebeneinander. Metaphorisch kann man von einem "Mosaik der Interessenvermittlung im Mehrebenensystem der EU" sprechen, in dem verschiedene Struktureigenschaften sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene parallel zueinander existieren.

Politische Gelegenheitsstrukturen organisierter Interessen

Das wechselseitige Verhältnis zwischen staatlichen und privaten Akteuren hängt in seiner Komplexität immer von den Gegebenheiten des jeweiligen politischen Systems ab. Bei der EU handelt es sich um ein politisch-institutionelles Gebilde, das extrem komplex und von einer hohen Entwicklungsdynamik gekennzeichnet ist. Zudem ist das Institutionengefüge der EU sowohl vertikal in unterschiedliche staatliche Ebenen mit geteilten, hochgradig verflochtenen Verantwortlichkeiten als auch horizontal in seiner politischen Entscheidungsstruktur auf europäischer Ebene stark ausdifferenziert. Dies ist das Ergebnis einer kontinuierlichen Verlagerung staatlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene sowie einer parallelen Herausbildung von Institutionen und Entscheidungsprozessen der EU.

Charakteristisch für das europäische System ist die Aufteilung politischer Autorität auf mehrere staatliche Ebenen mit geteilten Verantwortlichkeiten, ohne dass einer dieser Ebenen eine übergeordnete Entscheidungskompetenz zufällt. Zur Verabschiedung von Gesetzgebungsakten auf EU-Ebene ist die Zustimmung des Rates erforderlich, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind. Gleichzeitig sind die Mitgliedstaaten bei Entscheidungen in vergemeinschafteten Politikfeldern an unterschiedlich detailliert gefasste Vorgaben europäischer Richtlinien und Entscheidungen gebunden.

Eine Besonderheit ist zudem, dass die legislativen und exekutiven Kompetenzen nicht von jeweils einem der EU-Organe exklusiv, sondern von der Europäischen Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament gemeinsam wahrgenommen werden. Infolge der allmählichen Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf die Gesetzgebungsaktivitäten unterschiedlicher Politikbereiche hat sich das Parlament mehr und mehr zu einem dem Rat gleichberechtigten Legislativorgan entwickelt. Die Vermittlung unterschiedlicher Interessen vollzieht sich demnach nicht nur zwischen den EU-Organen einerseits und den unterschiedlichen Akteuren der Interessenvertretung andererseits, sondern Interessen müssen auch im Verhandlungsprozess zwischen den EU-Organen abgewogen werden. Keinem der drei EU-Organe fällt hierbei eine Dominanz oder gar die ausschließliche Kontrolle über die Entscheidungsprozesse zu. Parlament, Rat und Kommission sind deshalb angehalten, schon frühzeitig in Gesetzgebungsverfahren den Kontakt zu potentiellen Bündnispartnern zu suchen, gesellschaftliche Akteure zu konsultieren und mit möglichen Unterstützern Koalitionen zu bilden.

Entsprechend offen sind alle drei Organe für die Belange organisierter Interessen unterschiedlichster Couleur. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments erhoffen sich vom Kontakt zu Interessenvertretern nicht nur den Zugang zu Spezialwissen, sondern auch eine Rückbindung an die Unionsbürger und ihre Belange. Dies befördert intensive Kontakte zu den Repräsentanten unterschiedlichster Interessen, darunter in überproportional hohem Maße auch zu Vertretern allgemeiner Interessen wie etwa Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen. Auch die Kommission verspricht sich vom Kontakt zu Interessenvertretern eine Verbesserung der Qualität ihrer Vorschläge und eine größere Bürgernähe. Interaktionen zwischen organisierten Interessen und dem Rat vollziehen sich hingegen vorwiegend indirekt über die Ständigen Vertretungen der 27 Mitgliedsländer bei der EU oder aber über die "nationale Route", das heißt über die Regierungen der jeweiligen Mitgliedsländer, wobei die jeweiligen Zugangsmöglichkeiten zu einzelnen Regierungen variieren. Vertretern unterschiedlicher Interessen wird in Deutschland mit seiner vornehmlich korporatistischen Struktur ein routinemäßig guter Zugang zu den staatlichen Institutionen nachgesagt. In Großbritannien mit seinen eher pluralistischen Strukturen würden Interessenvertreter von ihrer Regierung zwar ebenfalls konsultiert, könnten aus dem Entscheidungsprozess jedoch auch ausgeschlossen werden.

Akteure und ihre Strategien

Analog zum europäischen Regierungssystem ist auch das Interessenvermittlungssystem der EU durch eine hohe Komplexität und Vielfältigkeit sowie eine dynamische Entwicklung gekennzeichnet, wobei ein enger historischer Zusammenhang zwischen den Meilensteinen des europäischen Integrationsprozesses sowie der Entstehung und Ausdifferenzierung der Interessenvertretung auf europäischer Ebene unterstellt werden kann. Insbesondere mit der 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäische Akte und der damit in Gang gesetzten Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes wird eine quantitative Zunahme organisierter Interessen auf europäischer Ebene in Verbindung gebracht, die mit einer auch qualitativen Veränderung der Interessenrepräsentation und einer Etablierung neuer Akteure einherging. Da der europäische Integrationsprozess zunächst in erster Linie ein wirtschaftlicher war, waren Wirtschaftsverbände die ersten Lobbygruppen auf europäischer Ebene. Parallel zur Vertiefung und Ausdehnung des Integrationsprozesses auf zusätzliche Politikfelder zogen weitere Verbandsarten, aber auch neue Akteure wie Beratungsfirmen, Denkfabriken, Anwaltskanzleien und einzelne Großunternehmen nach, was für eine "Zunahme der Formenvielfalt des Lobbying" verantwortlich gemacht wurde.

Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf den Charakter der europäischen Interessenvertretung hat, kann auch auf Basis bisheriger empirischer Untersuchungen bestenfalls spekulativ beantwortet werden. Zwar spricht vieles dafür, dass die Rolle von Verbänden gegenüber anderen Interessenorganisationen auf europäischer Ebene im vergangenen Jahrzehnt an Wichtigkeit eingebüßt hat. Andererseits wird in vielen Untersuchungen hervorgehoben, dass das Verhältnis zwischen verbandlicher und außerverbandlicher Interessenrepräsentanz als ein überwiegend komplementäres beschrieben werden kann, das von individuellen Spezialisierungsvorteilen profitiert, und dass europäische Muster der Interessenvermittlung von rein individualistischen Strategien weit entfernt sind.

Eine Übersicht über die Bandbreite der auf EU-Ebene aktiven Interessenorganisationen und über die Anzahl der für diese Organisationen tätigen Lobbyistinnen und Lobbyisten ist auf Schätzungen angewiesen. Zwar existieren unterschiedliche Nachschlagewerke, doch fokussieren diese immer nur auf einen Ausschnitt der Interessenvertretungslandschaft. Auch das freiwillige Register der Interessenvertreter der Europäischen Kommission, das im Juni 2008 die ebenfalls freiwillige Vorgängerdatenbank mit dem etwas sperrigen Namen "Konsultation, die Europäische Kommission und die Zivilgesellschaft" abgelöst hat, kann aufgrund seiner Freiwilligkeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern vermittelt allenfalls einen vorsichtigen Eindruck von der Brüsseler Interessenvertretungslandschaft. Gleichermaßen stellt die Übersicht der vom Europäischen Parlament ausgegebenen Hausausweise an Vertreter von Interessenorganisationen keine repräsentative Übersicht über die europäische Lobbyingszene dar, sondern kann bestenfalls als ein Indikator angesehen werden.

Schätzungen der Anzahl der in Brüssel ansässigen Interessenorganisationen variieren erheblich, zuverlässige Taxierungen sind rar. Simon Hix zufolge gab es 2001 auf EU-Ebene insgesamt 2309 derartige Organisationen, darunter 1450 Verbände unterschiedlicher Art, 250 Großunternehmen mit eigenen Vertretungsbüros, 171 regionale Vertretungsbüros individueller EU-Mitgliedstaaten, 170 nationale Interessengruppen, 143 kommerzielle Beratungsunternehmen und 125 Rechtsanwaltskanzleien. Eine aktuellere Schätzung der in Brüssel in den Jahren 2007 und 2008 aktiven Interessengruppen nehmen Arndt Wonka, Frank R. Baumgartner, Christine Mahoney und Joost Berkhout in einer im September 2010 erscheinenden Veröffentlichung vor. Die Autoren taxieren darin die Anzahl aller wichtigen, regulär auf EU-Ebene aktiven Lobbyakteure auf 3700 Organisationen - betonen allerdings, in dieser Zahl nicht die ausschließlich auf nationaler Ebene aktiven Organisationen zu berücksichtigen, die über die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten auf europäische Politikformulierungsprozesse Einfluss zu nehmen versuchen.

Den im europäischen Mehrebenensystem aktiven Interessenorganisationen stehen mit den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten und deren Ständigen Vertretungen in Brüssel sowie dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission zwei unterschiedliche staatliche Zugangsebenen für die Einflussnahme auf europäische Politikformulierungsprozesse zur Verfügung. Neben einer entweder rein nationalen oder einer rein europäischen Vorgehensweise erfreuen sich Mehrebenenstrategien - also das parallele Tätigwerden auf beiden Ebenen gegenüber Parlament, Ministerrat und Kommission - einer großen Beliebtheit. Dabei sind auch indirekte Vorgehensweisen weit verbreitet, wie etwa der Zugang europäischer Interessenverbände zu nationalen Regierungen über ihre nationalen Mitgliedsverbände oder der Kontakt zwischen nationalen Interessenorganisationen und EU-Organen über deren europäische Pendants.

Für die Auswahl der jeweiligen Lobbyingstrategien können unterschiedliche Faktoren verantwortlich gemacht werden. Hierbei ist anzunehmen, dass neben Effizienzüberlegungen auch territoriale und funktionale Kriterien sowie, zumindest für nationale Verbände, auch deren Einbettung in nationale Muster der Interessenvermittlung eine Rolle spielen. Darüber hinaus dürften auch institutionelle Kriterien des politischen Systems der EU von Bedeutung sein, beispielsweise die Mehrheitserfordernisse unterschiedlicher Entscheidungen des Rats der EU. Zudem wird es mit fortschreitenden Verhandlungen eines Legislativvorhabens zwischen den EU-Organen immer schwieriger, eigene Positionen wirkungsvoll zu platzieren, was möglichst frühzeitige Einflussversuche bereits im Entstehungsstadium nahelegt.

In zahlreichen Artikeln zum Lobbyismus auf europäischer Ebene wird allein aus der quantitativen Dominanz von Wirtschaftsinteressen sowie einer stark ungleichgewichtig verteilten Ressourcenausstattung unterschiedlicher Interessearten häufig implizit, gelegentlich auch explizit auf eine auch inhaltliche Einflussdominanz geschlossen. Diese Gleichsetzung ist allerdings äußerst fraglich, zumal der tatsächliche Einfluss organisierter Interessen auf politische Entscheidungsträger und die Ergebnisse politischer Verhandlungsprozesse nicht messbar sind. Häufig stützen sich deshalb Bewertungen des politischen Einflusses auf Anekdoten, wie Cornelia Woll betont, oder Spekulationen. Populäre Thesen, die etwa die Übermacht organisierter Interessen als "(heimliche) fünfte Gewalt in Deutschland und Europa" anprangern, entbehren für gewöhnlich der empirischen Untermauerung oder der Beweise für spektakuläre Durchsetzungserfolge oder illegitime Machenschaften, die den Prozess der politischen Willensbildung dauerhaft und systematisch verzerren könnten. Zudem ist es wissenschaftlich nicht statthaft, alleine die Teilnahme an demokratischen Willensbildungsprozessen und den Zugang zu politischen Entscheidungsträgern mit tatsächlichem Einfluss gleichzusetzen.

Sicherlich kann nicht geleugnet werden, dass eine bessere Ressourcenausstattung intensivere Aktivitäten und die Bereitstellung gezielterer Dienstleistungen für Entscheidungsträger ermöglicht, etwa in Form von Gesetzesentwürfen, Gutachten oder gezielt aufbereiteten Hintergrundinformationen. Zweifellos kann dies die Wirkung von Lobbyarbeit gegenüber politischen Entscheidungsträgern vergrößern und bedarf der kritischen Auseinandersetzung. Andererseits wirkt die Architektur des europäischen Institutionengefüges einer einseitigen Einflussdominanz bestimmter Interessearten in der EU entgegen. Zwar erleichtert insbesondere die horizontale wie vertikale Fragmentierung politischer Macht im europäischen Mehrebenensystem mit seiner besonderen Form der Gewaltenteilung organisierten Interessen unterschiedlicher Natur den Zugang zu den EU-Institutionen. Gleichzeitig limitiert diese Fragmentierung jedoch auch den Einfluss organisierter Interessen auf politische Entscheidungsverfahren, da Parlament, Rat und Kommission in ihren Verhandlungen zu europäischen Gesetzgebungsverfahren häufig Kompromisse schließen müssen. Bei der Suche nach politischen Mehrheiten zwischen den EU-Organen werden Positionen potentieller Bündnispartner antizipiert und in die eigenen Überlegungen integriert, was zur Nivellierung partikularer Einflussnahmen beiträgt.

Mark A. Pollack betont, dass sich insbesondere für ressourcenschwächere Interessenvertreter wie etwa Verbraucherschutz-, Umweltschutz- oder Menschenrechtsverbände im europäischen Mehrebenensystem einerseits zusätzliche Chancen, andererseits aber auch einschränkende Risiken ergeben können. Vielfalt, Komplexität und Dynamik der europäischen Interessenvermittlung sowie deren Abhängigkeit von sektor- und situationsspezifischen Umständen machen eine generalisierende, allgemeingültige Bewertung der Rolle und des Einflusses organisierter Interessen geradezu unmöglich, doch wirkt die Verteilung politischer Autorität innerhalb des Institutionengefüges der EU einer einseitigen Dominanz bestimmter Interessearten entgegen.

Transparenz bei der Vertretung von Interessen

Nichtsdestotrotz wächst das öffentliche Unbehagen gegenüber dem Miteinander von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Nicht die Vielfalt organisierter Interessen sei ursächlich hierfür, sondern deren unregulierte und intransparente Mitwirkung an der Gestaltung von Politik, wie ein Ausschussbericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarats jüngst vermerkte.

Um Forderungen unterschiedlicher Interessenvertreter verorten, wägen und in Perspektive setzen zu können, ist es sowohl für die Öffentlichkeit wie auch die politischen Entscheidungsträger wichtig, das Verhältnis zwischen Vertretern organisierter Interessen und staatlichen Institutionen möglichst nachvollziehbar zu gestalten und den Hintergrund organisierter Interessenvertretung zu beleuchten. Zudem setzt das öffentliche Vertrauen in die Legitimität staatlicher Entscheidungen Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit voraus, doch ist diese Transparenz bei der Vertretung von Interessen auf europäischer Ebene, aber auch auf Ebene der Mitgliedstaaten bislang nicht gegeben. Insbesondere der organisatorische wie finanzielle Hintergrund der Tätigkeit organisierter Interessen bleibt im Dunkeln.

Bereits 1989 begann das Europäische Parlament sich mit den Auswirkungen von Lobbyismus kritisch auseinanderzusetzen. Ihm folgte 1992 die Europäische Kommission. Beide Organe problematisierten Aspekte der Offenheit, Transparenz und Verantwortlichkeit des europäischen Entscheidungsprozesses mit dem Ziel, die Akzeptanz ihrer Politik unter den Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen. Aufsehen erregte insbesondere das von der Kommission im Juli 2001 verabschiedete Weißbuch "Europäisches Regieren", das die Grundsätze der Offenheit, der Partizipation, der Verantwortlichkeit, der Effektivität und der Kohärenz zu Orientierungspunkten von gutem Regieren erklärte. Die Bilanz der bisherigen Bemühungen beider Organe ist jedoch enttäuschend, denn auch nach einem mittlerweile über 20-jährigen Diskussionsprozess sind sie im Ergebnis von wirklicher Transparenz noch immer weit entfernt. Dies liegt vornehmlich daran, dass Parlament und Kommission sich bislang lediglich zu freiwilligen Registrierungsmechanismen ohne nennenswertes Sanktionspotential durchringen konnten.

Hoffnungen auf eine Verbesserung der Situation gründeten sich auf die im November 2005 vollmundig gestartete Europäische Transparenzinitiative der Kommission, zu der auch das am 23. Juni 2008 im Internet eingerichtete Register der Interessenvertreter gehört. Dieses Register richtet sich neben Verbänden ganz allgemein an Interessenorganisationen unterschiedlicher Kategorien auf EU-Ebene, darunter an Anwaltskanzleien, Denkfabriken, Beratungsunternehmen und Gewerkschaften. Kritiker bemängeln allerdings den weiterhin bloß freiwilligen Charakter des Kommissionsregisters, die nur vage definierten Vorgaben zur Offenlegung insbesondere finanzieller Angaben der Interessenvertreter sowie den unklaren Sanktionsmechanismus im Falle falscher oder unvollständiger Angaben. Das Ergebnis sei bestenfalls "eine Illusion von Transparenz", die eine wirkliche Transparenz verhindere und damit die Glaubwürdigkeit der Initiative beschädige. Zur Abhilfe müsste das Register zu einem verpflichtenden Mechanismus mit eindeutig definierten Kriterien zur Offenlegung insbesondere finanzieller Rahmendaten der Interessenvertretung sowie einem strafbewehrten Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen die Registrierungspflicht weiterentwickelt werden.

Zu einem solchen Schritt, der in seiner Umsetzung und vor allem Durchsetzung unter der Vielzahl von Interessenvertretern auf europäischer Ebene zweifellos nicht einfach wäre, scheint der Kommission jedoch bislang der Mut und die politische Entschlusskraft zu fehlen. Zwar bekräftigte das Europäische Parlament in einer weit beachteten Entschließung im Mai 2008 nicht nur sein Interesse an einem gemeinsamen Lobbyregister der EU-Institutionen, sondern auch die Notwendigkeit seiner verpflichtenden Ausgestaltung sowie die Einbeziehung finanzieller Offenlegungspflichten. Dennoch hält die Kommission trotz einer ursprünglich selbst erwogenen Registrierungspflicht bislang an der freiwilligen Ausgestaltung und somit der Variante mit deutlich geringeren Widerständen fest, obgleich binnen Jahresfrist bestenfalls ein Viertel der in Brüssel ansässigen Interessenvertreter registriert war und Anwaltskanzleien sowie Denkfabriken im Register fast vollständig fehlten.

Es bleibt abzuwarten, ob sich mit der im Februar 2010 neu ins Amt gekommenen EU-Kommission ein Umdenken in dieser Frage einstellt. Zweifelsohne würde eine verbesserte Transparenz des Mosaiks europäischer Interessenvertretung nicht nur die Legitimität des Miteinanders von organisierten Interessen und den EU-Institutionen in den Augen der Öffentlichkeit steigern, sondern über die damit verbundene Zunahme der demokratischen Qualität des europäischen Regierungssystems auch dazu beitragen, die Akzeptanz europäischer Politik unter den Bürgerinnen und Bürgern Europas zu erhöhen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Cornelia Woll, Herrschaft der Lobbyisten in der Europäischen Union?, in: APuZ, (2006) 15-16, S. 33-38.

  2. Rinus van Schendelen, Brüssel: Die Champions League des Lobbying, in: Thomas Leif/Rudolf Speth (Hrsg.), Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland, Bonn 2006, S. 132-162.

  3. Beate Kohler-Koch, Die Gestaltungsmacht organisierter Interessen, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 193-222.

  4. Rinus van Schendelen, Machiavelli in Brussels. The Art of Lobbying the EU, Amsterdam 2005.

  5. Hans-Jörg Schmedes, Wirtschafts- und Verbraucherschutzverbände im Mehrebenensystem. Lobbyingaktivitäten britischer, deutscher und europäischer Verbände, Wiesbaden 2008, S. 369.

  6. Vgl. Rainer Eising/Beate Kohler-Koch, Interessenpolitik im europäischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden 2005, S. 11-75, hier: S. 22.

  7. Vgl. Arthur Benz, Multilevel Governance - Governance in Mehrebenensystemen, in: ders. (Hrsg.), Governance - Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 125-146.

  8. Vgl. Tilman Hoppe, Die Europäisierung der Gesetzgebung: Der 80-Prozent-Mythos lebt, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 20 (2009) 6, S. 168-169.

  9. Vgl. Arndt Wonka, Die Europäische Kommission. Supranationale Bürokratie oder Agent der Mitgliedstaaten?, Baden-Baden 2008, S. 29-33.

  10. Vgl. Rainer Eising, Interessenvermittlung in der Europäischen Union, in: Werner Reutter/Peter Rütters (Hrsg.), Verbände und Verbandssysteme in Westeuropa, Opladen 2001, S. 453-476, hier: S. 462.

  11. Vgl. Arndt Wonka, Lobbying des Europäischen Parlaments, in: Andreas Maurer/Dietmar Nickel (Hrsg.), Das Europäische Parlament. Supranationalität, Repräsentation und Legitimation, Baden-Baden 2005, S. 165-172, hier: S. 171f.

  12. Vgl. Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Governance in der Europäischen Union, in: A. Benz (Anm. 7), S. 77-101, hier: S. 89.

  13. Vgl. Rainer Eising, Der Zugang von Interessengruppen zu den Organen der Europäischen Union: Eine organisationstheoretische Analyse, in: Politische Vierteljahresschrift, 45 (2004) 4, S. 494-518, hier: S. 505.

  14. Volker Schneider, Großfirmen in Politiknetzwerken: Zum Bedeutungsgewinn des "Corporate Lobbying" im Kontext von Europäisierung und Internationalisierung, in: Christian H.C.A. Henning/Christian Melbeck (Hrsg.), Interdisziplinäre Sozialforschung. Theorie und empirische Anwendung, Frankfurt/M. 2004, S. 225-244, hier: S. 234.

  15. Vgl. ebd.

  16. Vgl. Justin Greenwood, Interest Representation in the European Union, Houndmills 2007, S. 10.

  17. Vgl. H.-J. Schmedes (Anm. 5), S. 157.

  18. Vgl. J. Greenwood (Anm. 16), S. 11.

  19. Vgl. Simon Hix, The Political System of the European Union, Houndmills 2005, S. 212.

  20. Vgl. Arndt Wonka/Frank R. Baumgartner/Christine Mahoney/Joost Berkhout, Measuring the Size and Scope of the EU Interest Group Population, in: European Union Politics (EUP), 11 (2010) 3 (i.E.).

  21. Vgl. J. Greenwood (Anm. 16), S. 23-48.

  22. Vgl. Arndt Wonka, Europeanized Convergence? British and German Business Associations' European Lobbying Strategies in the Formulation of REACH, in: Jürgen R. Grote/Achim Lang/Volker Schneider (eds.), Organised Business Interests in Changing Environments. The Complexity of Adaptation, Houndmills 2008, S. 179-199, hier: S. 181.

  23. Vgl. H.-J. Schmedes (Anm. 5), S. 178-198.

  24. Vgl. ders., Mehr Transparenz wagen? Zur Diskussion um ein gesetzliches Lobbyregister beim Deutschen Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 40 (2009) 3, S. 543-560, hier: S. 548; Andreas Dür, Measuring Interest Group Influence in the EU: A Note on Methodology, in: EUP, 9 (2008) 4, S. 585-602.

  25. Vgl. C. Woll (Anm. 1), S. 36.

  26. Thomas Leif/Rudolf Speth, Anatomie des Lobbyismus. Einführung in eine unbekannte Sphäre der Macht, in: dies. (Hrsg.), Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden 2003, S. 7-32, hier: S. 16.

  27. Dies kritisiert auch Thomas von Winter am Beispiel des wohl gerade aufgrund seiner populären Mutmaßungen häufig zitierten Sammelbands von Thomas Leif und Rudolf Speth (Anm. 26). Vgl. Thomas von Winter, Lobbyismus in Deutschland: Keine heimliche fünfte Gewalt, in: ZParl, 35 (2004) 4, S. 796-798.

  28. Vgl. Pieter Bouwen, Corporate Lobbying in the European Union: The Logic of Access, in: Journal of European Public Policy (JEPP), 9 (2002) 3, S. 365-390, hier: S. 366.

  29. Vgl. Richard L. Hall/Alan V. Deardorff, Lobbying as Legislative Subsidy, in: American Political Science Review, 100 (2006) 1, S. 69-84.

  30. Vgl. Peter Friedrich, Meldepflicht für Lobbyisten, in: Financial Times Deutschland vom 24.2.2010, S. 24.

  31. Vgl. Mark A. Pollack, Representing Diffuse Interests in EC Policy-Making, in: JEPP, 4 (1997) 4, S. 572-590, hier: S. 575.

  32. Vgl. R.v. Schendelen (Anm. 2), S. 153.

  33. Vgl. Council of Europe, Parliamentary Assembly, Lobbying in a Democratic Society (European Code of Conduct on Lobbying), Committee on Economic Affairs and Development, 5.6.2009, S. 2, online: http://assembly.coe.int/Main.asp?link=/Documents/WorkingDocs/Doc09/
    EDOC11937.pdf (6.3.2010).

  34. Vgl. H.-J. Schmedes (Anm. 24).

  35. Vgl. Heiko Kretschmer/Hans-Jörg Schmedes, Enhancing Transparency in EU Lobbying? How the European Commission's Lack of Courage and Determination Impedes Substantial Progress, in: International Politics and Society, (2010) 1, S. 112-122; R. Eising (Anm. 10), S. 455-456.

  36. Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation (ALTER-EU), The Commission's Lobby Register One Year On: Success Or Failure?, 4.6.2009, S. 8, online: www.alter-eu.org/sites/default/files/documents/register-assessment-after-one-year.pdf (6.3.2010) (eigene Übersetzung).

  37. Vgl. H. Kretschmer/H.-J. Schmedes (Anm. 35).

  38. Vgl. ebd.

Dr. rer. soc., geb. 1977; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin; Deutscher Bundestag, Platz der Republik 1, 11011 Berlin.
E-Mail Link: hans-joerg.schmedes@uni-konstanz.de