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15. März 1989 | Magazin #2019 | bpb.de

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15. März 1989

György Dragomán

/ 4 Minuten zu lesen

Alles wird anders kommen, ganz anders, doch wusste ich das dort und damals, vor dreißig Jahren, am 15. März 1989 noch nicht.

Damals war es ein Moment der völligen und vollkommenen Freiheit. Der Befreiung. Das Gefühl ist so stark wie es nur das eines Fünfzehnjährigen sein kann, das des ungestümen, idealistischen, verrückten, verliebten Jungen, der ich war. Ich stehe auf diesem Platz, neben mir die, die ich liebe, was ich ihr aber noch nicht gestanden habe, und ich weiß noch nicht, dass sie in gar nicht so ferner Zukunft meine Frau sein wird, da stehen wir also, in Erwartung der ersten freien Feier zum 15. März.

Dieser Feiertag, der Jahrestag der ungarischen Revolution von 1848, war auch in Ungarn vierzig Jahre lang verboten und dort, woher wir kommen, aus Siebenbürgen, Rumänien war er noch mehr verboten. Völlig und vollkommen.

Doch das hat nun ein Ende, wir sind schon seit sieben Monaten in Ungarn, noch dazu im westlichen Teil des Landes, in Szombathely, neben der österreichischen Grenze. Der Eiserne Vorhang steht noch, die Grenze steht noch, und wie, bei einem Ausflug erschreckt sie uns sogar zu Tode, als wir nach einem mehrstündigen Picknick feststellen, dass wir uns aus Versehen auf den Grenzstreifen verirrt haben. Informiert werden wir durch ein zuvor unbemerktes Schild, das uns vor Schüssen warnt, die hier ohne Vorwarnung abgefeuert werden dürfen. Wir wissen noch nicht, dass der Eiserne Vorhang in einem halben Jahr zerrissen wird, wissen noch nicht, dass wir uns bald als Erinnerung kleine Stacheldrahtstücke aus ihm herausschneiden werden. Wir sind uns noch nicht ganz sicher, dass das System zusammenbrechen wird, doch spüren wir schon, dass es wankt, schließlich stehen auch wir hier auf dem Platz.

Wir stehen da, in Erwartung der Feier, trauen uns noch nicht, uns an der Hand zu fassen, unseren Handrücken berühren sich trotzdem mehrmals beinah, die Wärme dieser Beinahberühung lässt die Haut angenehm kribbeln, Schaudern, freudige Erregung durchfahren Unterarm, Oberarm, Schulter, bahnen sich ihren Weg bis zum hämmernden Herzen.

Wir stehen in der Menschenmenge, die immer dichter wird, beobachten, wie sich viele nicht trauen, den Platz zu betreten, sie halten sich zunächst voller Angst in den Hauseingängen und Nebenstraßen, sammeln Mut. Mir kribbeln Arme, kribbelt der Rücken, ich blicke zu der, die ich Liebe, zu ihrer weißen Bluse, ihrem schönen Hals, dem feinen Flaum an ihrem Hals und denke dabei daran, was mein Vater vom Generaldirektor des Fleischverarbeitungsbetriebes, einem Mitglied der Arbeiterwache erzählt hat. Sie waren sich zwei Tage zuvor begegnet, und da sagte der Mann zu meinem Vater: "Wenn die irgendetwas versuchen, erteilen wir den Schießbefehl". Die, denke ich. Das sind jetzt wir. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich aus freien Stücken bei einer Massenveranstaltung, bin von allein gekommen, nicht hergetrieben worden, um zusammen mit anderen die jubelnde Masse zu bilden, niemand der um mich herum Stehenden muss verlogene Parolen rufen, niemand muss so tun, als liebte er das und den, was und wen er eigentlich voller Hass fürchtet.

Sie werden keinen Schießbefehl erteilen, ich weiß, dass sie es nicht tun werden, denke ich, und mir fällt die Munition ein, die ich gemeinsam mit meinen Freunden Jahre zuvor aus der Mauer des Schießstandes der Armee gepult hatte und auch die Patronen von Maschinengewehren, die wir damals wie Schätze untereinander tauschten. Spitze, scharfe Patronen mit Messinghülsen, ich habe mir oft vorgestellt, wie sie menschliches Fleisch durchdringen, wie sie Knochen zertrümmern.

Wir stehen da, in Erwartung der Rede und dessen, die Hymne endlich einmal frei singen zu dürfen.

Es ist Frühling, die Freiheit ist so süß und geheimnisvoll wie bald die Liebe sein wird, ich spüre ihren Geschmack auf den Lippen, der Zunge, dem Gaumen.

Frei zum Himmel blicken, frei die Luft einatmen, frei verliebt sein, den Mut sammeln, den es für Freiheit und Liebe braucht. Für die Liebe in Freiheit.

Er steht er in der Zeit still, dieser Moment, voller Versprechen und Möglichkeiten, und ich glaube, ja, bin mir ganz sicher, dass jeder genauso empfindet wie ich. Unsere Hände berühren sich beinah und die, die ich Liebe, sieht mich an, lächelt. Wir haben das Leben vor uns. Ein Leben in Freiheit.

Ich bin fünfzehn Jahre alt, hoffnungsvoll und naiv, ich habe keine Ahnung von Ungarn, von den verschwiegenen Geheimnissen der Vergangenheit, von Angst und Verrat, den Selbsterhaltungslügen der Macht, auch davon nicht, dass alles anders kommen wird, ganz anders.

Ich beschließe, diesen Moment nie zu vergessen, den Moment der bewusst erlebten Freiheit, den Beginn meines Erwachsenenlebens. Ewig ist er, rein und unvergesslich. Ich spüre, dass ich zu ihm, egal, was später kommen mag, immer werde zurückkehren können, um aus ihm Kraft zu schöpfen.

Aus dem Ungarischen von Timea Tankó

Fussnoten

György Dragomán, geb. 1973 in Târgu Mureş/Rumänien, siedelte 1988 nach Ungarn über, studierte Englisch und Philosophie und promovierte zu Samuel Becketts Roman "Watt". Er arbeitet als Webdesigner, Filmkritiker und Übersetzer. Sein Roman "Der weiße König" wurde in 30 Sprachen übersetzt. 2019 erscheint sein Buch "Löwenchor“".