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Verschaltungen im Gestrüpp: kindliche Hirnentwicklung

Gerald Hüther

/ 13 Minuten zu lesen

Einleitung

Kinder sind so neugierig, so begeisterungsfähig und so offen wie nie wieder im späteren Leben. Zum Zeitpunkt der Geburt hat das menschliche Gehirn zwar schon wichtige pränatale Erfahrungen verankert, aber es ist insgesamt noch sehr "unfertig". Nur die zum Überleben unbedingt erforderlichen Verschaltungen und Netzwerke in den älteren Regionen sind bereits gut ausgebildet. Sie steuern all das, was zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des Körpers notwendig ist, also auch all jene Reaktionen, die immer dann in Gang gesetzt werden, wenn es zu Störungen dieser inneren Ordnung kommt. Alles andere - und das ist so gut wie alles, worauf es im späteren Leben ankommt - muss erst noch hinzugelernt und als neue Erfahrung im Gehirn abgespeichert werden. Das Großhirn, genauer die Großhirnrinde, ist derjenige Hirnbereich, in dem dieses neue Wissen in Form bestimmter Beziehungsmuster zwischen den Nervenzellen verankert wird. Es verdreifacht sein Volumen im ersten Lebensjahr und dehnt sich auch später noch erheblich aus, aber nicht deshalb, weil dort noch weitere Nervenzellen gebildet werden, sondern weil diese zum Zeitpunkt der Geburt bereits vorhandenen Nervenzellen ein dichtes Gestrüpp von Fortsätzen ausbilden und sich mit den Enden ihrer Fortsätze auf vielfältige Weise miteinander verbinden. Dieser durch genetische Programme gesteuerte Prozess führt dazu, dass in den einzelnen Bereichen dieser Großhirnrinde ein riesiges Überangebot an Nervenzellverbindungen und -kontakten entsteht. Weil das kindliche Gehirn (oder das genetische Programm, das dessen Entwicklung steuert) nicht "wissen kann", worauf es später im Leben einmal ankommt und welche Verbindungen wirklich gebraucht werden, wird zunächst einmal ein großer Überschuss an Verschaltungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt und gebraucht werden. Der Rest wird einfach wieder abgebaut.

Ein Kind kann in der Entwicklungsphase, in der dieses riesige Angebot für später fest zu verknüpfende Verschaltungen der Nervenzellen bereitgestellt wird, so ziemlich alles lernen. Deshalb können Eltern, die das für wichtig und sinnvoll halten, ihrem dreijährigen Kind bereits das Lesen, Computerspiele oder eine Fremdsprache beibringen - falls sie der Meinung sind, dass es auf diese Fähigkeiten im späteren Leben ganz besonders ankommt.

Nicht nur die Fähigkeit, ständig Neues hinzuzulernen, sondern auch diese Lust, immer wieder Neues zu entdecken, bringen Kinder mit auf die Welt. Auch sie ergibt sich aus dem Umstand, dass das kindliche Gehirn für die nutzungsabhängige Herausformung bestimmter Verschaltungsmuster auf ein möglichst breites Spektrum unterschiedlichster Anregungen angewiesen ist. Die geeignetsten Anregungen für noch zu knüpfende bzw. zu stabilisierende Verschaltungen im Gehirn sind diejenigen, die das Kind aus sich selbst heraus entwickelt. Diese vom Kind selbst in Gang gesetzte Suche nach Neuem hat nämlich gegenüber allen von außen herangetragenen Anregungen einen entscheidenden Vorteil: Weil das Kind auf der Grundlage seiner bisher bereits erlernten und im Hirn verankerten Fähigkeiten und Fertigkeiten selbst darüber bestimmt, was es an Neuem sucht und was es interessiert, können die unter diesen Bedingungen gemachten Lernerfahrungen besonders gut an das bereits vorhandene Wissen angeknüpft, können also die im Hirn bereits entstandenen Verschaltungsmuster besonders gut erweitert und ergänzt werden.

Immer dann, wenn sich ein Kind auf die Suche macht und dabei etwas findet, das ein kleines bisschen mehr ist als das, was vorher schon da war, so geht es ihm genau so, wie jedem Erwachsenen - es freut sich. So lange ein Kind oder auch ein Erwachsener noch mit der Suche nach etwas beschäftigt ist, herrscht in seinem Gehirn eine gewisse Unruhe, eine Erregung und Spannung. Die wird durch das Erfolgserlebnis plötzlich aufgelöst, und immer dann, wenn im Hirn aus Durcheinander Ordnung, aus Erregung Beruhigung wird, entsteht ein Gefühl von Wohlbehagen und Zufriedenheit. Je größer die anfängliche Aufregung war, desto größer wird die Freude, wenn nun wieder alles "passt". Dann bekommt es umso größere Lust, sich erneut auf die Suche zu machen. Unter diesen Bedingungen wird im Gehirn immer auch eine Gruppe von Nervenzellen erregt und setzt an den Enden ihrer langen Fortsätze bestimmte Botenstoffe frei, die zum Beispiel auch dann abgegeben werden, wenn Drogensüchtige Kokain oder Heroin einnehmen. Das lässt erahnen, wie groß dieses Lustgefühl werden kann, das Kinder empfinden, wenn sie sich immer wieder erfolgreich auf den Weg machen, um die Welt zu entdecken. Da es für kleine Kinder in der für sie noch sehr fremden Welt unendlich viel Neues zu entdecken und in ihren Erfahrungsschatz einzuordnen gibt, wird ihre Lernlust normalerweise nur durch die Phasen der Erschöpfung unterbrochen, die sich zwangsläufig immer wieder einstellen und auch einstellen müssen, damit all das, was sie in der Wachphase gelernt und entdeckt haben, nun, im Traumschlaf, noch einmal durchgearbeitet, stabilisiert und mit all den anderen bereits vorhandenen inneren Mustern im Hirn verbunden werden kann.

Frontalhirn - ein soziales Produkt

Wie lässt sich nun eine Verbesserung all jener Kompetenzen erreichen, die neben dem später in der Schule erworbenen Wissen entscheidend dafür sind, ob und wie junge Menschen die Herausforderungen annehmen und meistern können, die sich in ihrer weiteren Ausbildung und im späteren Berufsleben stellen? Das Fatale daran ist: Diese Kompetenzen lassen sich nicht unterrichten. Das gilt insbesondere für die sogenannten komplexen Fähigkeiten wie vorausschauend zu denken und zu handeln (strategische Kompetenz), komplexe Probleme zu durchschauen (Problemlösungskompetenz) und die Folgen des eigenen Handelns abzuschätzen (Handlungskompetenz, Umsicht), die Aufmerksamkeit auf die Lösung eines bestimmten Problems zu fokussieren und sich dabei entsprechend zu konzentrieren (Motivation, Konzentrationsfähigkeit), Fehler und Fehlentwicklungen bei der Suche nach einer Lösung rechtzeitig erkennen und korrigieren zu können (Einsichtsfähigkeit, Flexibilität) und sich bei der Lösung von Aufgaben nicht von aufkommenden anderen Bedürfnissen überwältigen zu lassen (Frustrationstoleranz, Impulskontrolle). "Exekutive Frontalhirnfunktionen" nennen die Hirnforscher diese Metakompetenzen, deren Herausbildung bisher eher dem Zufall überlassen worden ist und auf die es in Zukunft mehr als auf all das in der Schulzeit auswendig gelernte Wissen ankommt.

Verankert werden diese Metakompetenzen in Form komplexer Verschaltungsmuster in einer Hirnregion, die sich im vorderen Großhirnbereich befindet: im Stirnlappen, dem präfrontalen Kortex. Die in anderen Hirnregionen gespeicherten Gedächtnisinhalte werden in diesen Netzwerken des präfrontalen Kortex zu einem Gesamtbild zusammengefügt und mit den in tiefer liegenden subkortikalen Hirnbereichen generierten Signalmustern verglichen. Die so erhaltenen Informationen werden für alle bewussten Entscheidungsprozesse und zur Modifikation bestimmter Verhaltensweisen genutzt. Je nach Erfahrungsschatz und individueller Ausprägung dieser Kontrollfunktionen können verschiedene Menschen ihr Verhalten in einer Situation, die Initiative erfordert, unterschiedlich gut steuern. Als diejenige Region des menschlichen Gehirns, die sich am langsamsten ausbildet, ist der präfrontale Kortex in seiner Entwicklung auch in besonders hohem Maße durch das soziale Umfeld beeinflussbar. Die dort angelegten neuronalen und synaptischen Verschaltungsmuster werden nicht durch genetische Programme, sondern durch eigene Erfahrungen herausgeformt. Unser Frontalhirn ist also die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozess strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.

Die Fähigkeit oder Unfähigkeit, sich erfolgreich Herausforderungen zu stellen, ist also keineswegs angeboren oder gar zufällig. Wie gut die Ausformung der genannten Metakompetenzen gelingt, liegt somit in der Hand derer, die das Umfeld eines jungen Menschen gestalten und mit ihm in einer emotionalen Beziehung stehen. All das Wissen, die Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, also all das, was Menschen der verschiedensten Kulturkreise hilft, sich in der Welt zurechtzufinden, muss von anderen Menschen übernommen werden. Keine dieser kulturspezifischen Leistungen ist angeboren. Alles, worauf wir später stolz sind, was uns als Persönlichkeit ausmacht, was wir wissen und können, ebenso wie das, was wir denken und fühlen, ja sogar das, was wir wünschen und träumen, und nicht zuletzt das, was wir als unsere Muttersprache bezeichnen, verdanken wir dem Umstand, dass es andere Menschen gab, die uns bei der Benutzung und Ausformung der für diese Leistungen erforderlichen Verschaltungsmuster in unserem Gehirn geholfen haben.

Wie wenig wir über die Bedeutung nutzungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung wissen, wie rasch und wie unerwartet alte, bislang für richtig gehaltene Theorien ins Wanken geraten sind, machen neuere Untersuchungen über die mit bildgebenden Verfahren nachweisbaren entwicklungsabhängigen strukturellen Veränderungen des menschlichen Gehirns deutlich. Bei Kindern von drei bis sechs Jahren kommt es insbesondere in den frontokortikalen Hirnbereichen, welche die Planung und Organisation von Handlungen sowie die Konzentrationsfähigkeit auf bestimmte Aufgaben steuern, zu einer deutlichen Volumenzunahme. Bei Jugendlichen von sechs bis zwölf Jahren lässt sich insbesondere eine verstärkte Ausformung und Vergrößerung in solchen kortikalen Regionen nachweisen, die eine besondere Bedeutung für räumliches Vorstellungsvermögen, und abstraktes Denken besitzen. Kurz vor der Pubertät kommt es dann zu einer zweiten Phase des weiteren Ausbaus neuronaler Verschaltungen im frontalen Kortex, der erneut mit einer messbaren Volumenzunahme einhergeht. Eine weitere Umstrukturierungsphase beginnt nach der Pubertät. Was während dieser Phase geschieht, wird wesentlich von der Regel use it, or lose it bestimmt.

Das alles heißt, dass nicht nur die frühe Kindheit, sondern die gesamte Jugendphase eine entscheidende Entwicklungsphase darstellt, in der das Gehirn durch die Art seiner Nutzung gewissermaßen "programmiert" wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängt also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Benutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muss dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden.

Unterstützende und hemmende Faktoren

Diese hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns, wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tiefer liegenden, sogenannten subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten bekommen, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen. Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung erwirbt ein Säugling zunächst durch passives Bewegtwerden, wie Schaukeln und Wiegen, über die damit verbundene Stimulation seines Gleichgewichtsinnes. Bereits hier werden die ersten prägenden Erfahrungen über die Verlässlichkeit der Beziehung zu den Eltern gemacht. Im Schutz des so entstandenen Sicherheitsgefühls kann sich das Kind im weiteren Verlauf seiner Entwicklung immer weiter vorwagen und eigene Aktivitäten entwickeln: Kriechen, Krabbeln, Sitzen, Stehen, Laufen, Klettern, Springen, Balancieren sind Stationen dieser Welterkennung, die sich in ähnlicher Weise auch in anderen Bereichen (Fühlen, Sehen, Hören) vollzieht. Das wachsende Gefühl von Selbstwirksamkeit ermöglicht es dem Kind, sich allmählich aus der ursprünglichen Abhängigkeit von seinen primären Bezugspersonen zu lösen. Voraussetzung für diese Entwicklung sind sichere emotionale Beziehungen, die es dem Kind gestatten, sich immer weiter in selbst erkundete und selbst gestaltete Bereiche vorzuwagen.

Im Alter von drei bis sechs Jahren erbringen die Kinder eine ganz besondere Entwicklungsleistung. Mit etwa drei Jahren arbeiten sie noch intensiv an der Entwicklung ihres Ich-Bewusstseins. Sie lernen gerade, dass sie etwas anderes sind als die anderen. Zwei- bis Vierjährige entdecken, dass sie etwas wollen können, und dass das etwas anderes sein kann, als ihre Eltern oder ihre Betreuer wollen. Ihren neu entdeckten Willen demonstrieren diese Kinder dann oft mit dem ganzen Körper und ihrer vollen Stimmkraft, weshalb dieses Alter auch "Trotzalter" genannt wird. Die Kinder brauchen vernünftige Verbote, die sie vor Gefahren, auch vor der Verfestigung eines hemmungslosen Egoismus, schützen, ebenso wie den für ihre Aktivitäten erforderlichen Freiraum zur Selbstbestimmung. Für Erziehungsangebote, die ihnen Verhaltensalternativen aufzeigen, sind Kinder in diesem Alter aber auch noch besonders offen. Dass Eltern ihnen bestimmtes Verhalten erlauben, anderes verbieten, wird von ihnen umso leichter akzeptiert, je sicherer die emotionale Beziehung zwischen ihnen und den Eltern ist. Ein Kind liebevoll zu motivieren, es zu ermutigen, sich immer neuen Anforderungen zu stellen, es immer wieder mit neuen Aufgaben anzuregen, an denen es sich entwickeln kann - all das stellt höchste emotionale und intellektuelle Anforderungen an die Erziehenden.

Wenn die Eltern alle Probleme beiseite räumen, hindern sie ihre Kinder daran, die Erfahrung machen zu können, dass es möglich ist, Probleme mit Hilfe anderer zu lösen. Kinder, denen diese wichtige Erfahrung vorenthalten wird, richten sich nur nach ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Sie bleiben selbstbezogen, trotzig, tyrannisch. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlen ihnen wichtige Ich-Funktionen wie Interesse und Aufmerksamkeit an der Lösung solcher Aufgaben. Ihr Ich ist zu dünnhäutig, überempfindsam und zu reizoffen. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen sind, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln. Obwohl das Verhalten dieser Kinder äußerlich entwicklungsgerecht erscheinen mag, sind sie oft in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehengeblieben.

In fataler Weise unterstützt wird diese Entwicklung durch alles, was Kinder daran hindert, mit anderen Menschen in eine aktive Interaktion zu treten, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln (etwa übertriebener Fernsehkonsum). Solche Kinder können nur schwer das Gefühl eigener Handlungskompetenz, eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Bedeutsamkeit entwickeln. Weil sie keine Gelegenheit hatten, sich selbst einzubringen, fehlt ihnen häufig das Gefühl, dass sie anderen etwas geben können. Sie sind und bleiben damit allzu leicht allein, finden schwieriger Freunde, können sich nicht in Beziehungen weiterentwickeln und sind ohne sichere emotionale Bindungen schutzlos ihren Ängsten ausgeliefert.

Unsicherheit und Angst stören die Integration und Organisation komplexer Wahrnehmungen und Reaktionsmuster. Sie zwingen das Kind zu raschen, eindeutigen Entscheidungen und damit zum Rückgriff auf ältere, bereits gebahnte Bewältigungsstrategien. Was unter diesen Bedingungen nicht stattfindet und auch nicht gelingen kann, ist eine über die bereits vorhandenen Möglichkeiten hinausgehende Fortentwicklung der eigenen Fähigkeit zur Integration, Bewertung und Filterung komplexer Wahrnehmungen. Neue Eindrücke müssen an bereits vorhandene Erfahrungen anknüpfbar sein. Ein Zustand, bei dem zu viele Wahrnehmungen ungeordnet auf einen Menschen hereinprasseln, macht Angst und setzt gewissermaßen all das außer Kraft, was normalerweise vom Frontalhirn geleistet werden muss, aber angesichts des dort herrschenden Durcheinanders nicht geleistet werden kann. Auch Erwachsene reagieren unter solchen Bedingungen "kopflos", beginnen hektisch umherzurennen, können sich auf nichts mehr richtig konzentrieren oder wissen nicht, womit sie eigentlich anfangen sollen, bis sie sich womöglich gar in einem Wutausbruch entladen. Kindern geht es mit ihrem noch sehr beschränkten Repertoire an eigenen Bewältigungsmöglichkeiten erst recht so. Vor allem dann, wenn keiner da ist, der ihnen hilft.

Die Folgen dieser Überlastung bzw. des mangelnden Reizschutzes unterscheiden sich allerdings dramatisch zwischen Kindern und Erwachsenen. Wenn ein Erwachsener seine komplexen Verschaltungen im Vorderhirn zur adäquaten Lösung von Problemen eine Zeit lang wegen Überlastung, Angst und Stress nicht benutzen kann, so bleiben sie ihm doch immerhin erhalten, und er kann später, wenn das Trommelfeuer vorbei ist, wieder darauf zurückgreifen. Ein Kind muss diese Verschaltungen erst entwickeln. Aber es kann sie nur dann in seinem Frontalhirn ausbilden und festigen, wenn ihm auch die Möglichkeit geboten wird, diese komplexen Verschaltungen zur Lösung seiner Probleme und zur Bewältigung neuer Anforderungen zu nutzen. Dazu braucht jedes Kind - je kleiner es ist, umso mehr - Reizschutz (in Form sicherer emotionaler Beziehungen) und Orientierungshilfen (in Form kompetenter Erzieher und Erziehungshilfen wie Rituale, Geschichten, Märchen und Spiele). Findet ein Kind auch später niemanden, der ihm hilft, dieses Defizit zu überwinden, wird es sich auch dann, wenn es erwachsen geworden ist, nicht anders gegen Überlastung, Angst und Stress wehren können als durch sprunghafte Aufmerksamkeitswechsel und gelegentliche Wutausbrüche. Unfähig, sich längere Zeit auf eine gestellte Aufgaben zu konzentrieren, kommt es spätestens mit der Einschulung zu gravierenden Problemen.

Hausaufgaben

Die Welt, in die Kinder und Jugendliche heute hineinwachsen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert. Als Schlüsselqualifikation für morgen wird von den nächsten Generationen etwas verlangt, was "Arbeitgeber" schon heute händeringend suchen, und was den Menschen in unserer technisierten, hektischen und leistungsorientierten Gesellschaft offenbar zunehmend abhanden zu kommen droht: psychosoziale Kompetenz, also die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Menschen nach tragfähigen Lösungen für die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen zu suchen. Leider ist diese Fähigkeit nicht wie Vokabeln lern- und abfragbar. Es handelt sich hierbei nämlich um eine Form von Wissen, die auf eigener Erfahrung beruht.

Damit es Kindern gelingt, sich im heutigem Wirrwarr von Anforderungen, Angeboten und Erwartungen zurechtzufinden, brauchen sie Orientierungshilfen, also äußere Vorbilder und innere Leitbilder, die ihnen Halt bieten und an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene "Vorbilder" können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden.

Das Gehirn, so lautet die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Hirnforscher, lernt immer, und es lernt das am besten, was einem Heranwachsenden hilft, sich in der Welt, in die er hineinwächst, zurecht zu finden und die Probleme zu lösen, die sich dort und dabei ergeben. Das Gehirn ist also nicht zum Auswendiglernen von Sachverhalten, sondern zum Lösen von Problemen optimiert. Und da fast alles, was ein heranwachsender Mensch lernen kann, innerhalb des sozialen Gefüges und des jeweiligen Kulturkreises direkt oder indirekt von anderen Menschen "bezogen wird" und der Gestaltung der Beziehungen zu anderen Menschen "dient", wird das Gehirn auch nicht in erster Linie als Denk-, sondern als Sozialorgan gebraucht und entsprechend strukturiert.

Es ist beeindruckend, dass die moderne Gehirnforschung inzwischen imstande ist, diese Erkenntnisse aus objektiven, jederzeit wiederholbaren und nachprüfbaren Befunden abzuleiten. Sie kann mit Hilfe ihrer neuen Verfahren zeigen, wie regionale Netze aufgebaut und verknüpft werden, wie globalisierende Transmittersysteme die dort ablaufenden Aktivierungsprozesse verbinden und harmonisieren, wie sich Erregungsprozesse ausbreiten und auf tiefer liegende emotionale Zentren übergreifen, welche Botenstoffe dadurch vermehrt ausgeschüttet werden und wie diese Stoffe als Wachstumsfaktoren und als Regulatoren der Genexpression die Stabilisierung und Bahnung neuer Verschaltungsmuster ermöglichen und begünstigen. Und es lässt sich inzwischen auch nachweisen, dass Angst, Stress, Überreizung und äußerer Druck die Herausformung komplexer Verschaltungen im kindlichen Gehirn ebenso behindern wie Unterforderung, mangelnde Anregungen, Verwöhnung oder Vernachlässigung.

Aber das, worauf es wirklich ankommt, damit dieser komplizierte Entwicklungsprozess im Gehirn möglichst vieler Kinder gelingt, können Hirnforscher nicht: Sie können die Verhältnisse nicht ändern, unter denen Kinder aufwachsen. Dies bleibt eine gesamtgesellschaftliche und politische Aufgabe. Die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder in unsere Gesellschaft hineinwachsen, sind so zu verändern, dass sie sich stärker als bisher emotional geborgen, erwünscht und angenommen, aber auch ermutigt, herausgefordert und angeregt fühlen. Die entscheidende Frage richtet sich also an uns alle: Sind wir die, bei denen man lieben, streiten, arbeiten, genießen, denken, fühlen, singen und Vertrauen zu sich und zu einer lebenswerten Zukunft lernen kann?

Dr. rer. nat., Dr. med. habil., geb. 1951; Professor für Neurobiologie, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg; Psychiatrische Klinik, Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen.
E-Mail Link: ghuethe@gwdg.de
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