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Klasse und/oder Masse. Die Qualität von Kindertageseinrichtungen zwischen Theorie und Praxis | Frühkindliche Bildung | bpb.de

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Klasse und/oder Masse. Die Qualität von Kindertageseinrichtungen zwischen Theorie und Praxis

Stefan Sell

/ 16 Minuten zu lesen

Einleitung

Es ist - wieder einmal - eine typisch deutsche Diskussion. Leidenschaftlich wird über "Dafür" oder "Dagegen" diskutiert, und man wird gedrängt, sich zu entscheiden für die eine oder andere Sicht auf die Welt. Gemeint ist hier die Debatte über das Für und Wider einer zeitweisen Unterbringung von unter dreijährigen Kindern in Kindertageseinrichtungen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die darin gleichsam eine vorsätzliche Körperverletzung an den kleinen Kindern sehen und dafür plädieren, in den ersten Lebensjahren des Kindes auf eine enge, ausschließliche Mutter-Kind-Beziehung zu setzen. Bei ihnen lautet das Zauberwort in der modernen Diskussion: Cortisol. Dieses Stresshormon hat eine zentrale Bedeutung in der Argumentation der Krippengegner. Stellvertretend sei hier der Kinder- und Jugendmediziner Rainer Böhm zitiert: "Dank einer neuen Technik konnten Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten Ende der neunziger Jahre bei Kleinkindern in ganztägiger Betreuung in zwei Daycare Centers erstmals das Tagesprofil des wichtigsten Stresshormons Cortisol bestimmen. Entgegen dem normalen Verlauf im Kreis der Familie - hoher Wert am Morgen und kontinuierlicher Abfall zum Abend hin - stieg die Ausschüttung des Stresshormons während der ganztägigen Betreuung im Verlauf des Tages an - ein untrügliches Zeichen einer erheblichen chronischen Stressbelastung. In der ersten Einrichtung, deren Betreuungsqualität als gehoben gelten konnte, zeigten fast alle Kinder diesen auffälligen Verlauf. In der zweiten Einrichtung mit sehr hoher Betreuungsqualität standen am Abend immerhin noch fast drei Viertel der Kinder unter abnormem Stress." Die Bedeutung solcher immer wieder zitierten Befunde erläutert der Mediziner folgendermaßen: "Jene Cortisol-Tagesprofile, wie sie bei Kleinkindern in Kinderkrippen nachgewiesen wurden, lassen sich am ehesten mit den Stressreaktionen von Managern vergleichen, die im Beruf extremen Anforderungen ausgesetzt sind. (...) Diese Befunde lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass eine große Zahl von Krippenkindern durch die frühe und langandauernde Trennung von ihren Eltern und die ungenügende Bewältigung der Gruppensituation emotional massiv überfordert ist." Und dann seine Folgerung, die hier besonders relevant erscheint: "Das in der Öffentlichkeit verbreitete Mantra ist falsch, alle Probleme der Krippenbetreuung ließen sich alleine mit Qualität lösen." Soweit nur ein Auszug aus der Veröffentlichung eines Krippengegners.

Auf der anderen Seite haben wir die Apologeten einer umfassenden, frühzeitigen und völlig selbstverständlichen zeitweisen Unterbringung der Kinder in Kindertageseinrichtungen (oder in der Kindertagespflege). Hierbei wird oftmals über den Grenzzaun geschaut und gerne neben den skandinavischen Ländern auch auf Frankreich als leuchtendes Vorbild verwiesen. So argumentiert Cécile Calla unter der zuspitzenden Überschrift "Madame oder Mütterchen" aus der Perspektive vieler französischer Mütter: "Ein Unsinn wie das Betreuungsgeld fiele in Frankreich niemandem ein. Hier gehen Mütter bald nach der Geburt wieder zur Arbeit und nehmen am Leben teil - ohne dass dies den Kindern schadet. Blöde Sprüche müssen sich nur Frauen anhören, die sich Vollzeit um ihre Kleinen kümmern."

Diese beiden einführenden Beispiele sollen nur andeuten, in welchem - gerade auch emotional hoch aufgeladenen - Spannungsfeld wir uns bewegen, wenn über Qualität von Kleinkindbetreuung in außerfamiliären Einrichtungen gesprochen werden soll. Darüber hinaus verweisen die beiden Beispiele darauf, dass es genau zu fragen gilt, um welche Qualitätsperspektive es eigentlich geht: die der Eltern, die der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die der Fachkräfte, die mit den Kindern arbeiten (müssen), die der Arbeitgeber, die ihre Fachkräfte so schnell wie möglich wieder an Bord haben wollen, oder die der Kinder bzw. des jeweils einzigartigen Kindes? Diese Unterscheidung ist nicht trivial, denn daraus ergeben sich schon bei der ersten Anschauung ganz unterschiedliche, partiell sogar nicht miteinander vereinbare Qualitätsdimensionen.

Ausgangslage

Die Kindertagesbetreuung ist ein "Wachstumsfeld". Abweichend zu anderen sozialen Handlungsfeldern wird im Bereich der Kindertagesbetreuung nicht abgebaut, sondern im Gegenteil kräftig ausgebaut, insbesondere bei der Betreuung für die unter dreijährigen Kinder in Deutschland. Auslöser war der sogenannte Krippenkompromiss zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern im Jahr 2007, in dem man sich darauf verständigte, dass die in Westdeutschland kaum vorhandene Kindertagesbetreuung für die unter Dreijährigen deutlich ausgebaut werden soll. Vereinbart wurde, bis zum Jahr 2013 für 35 Prozent der unter dreijährigen Kinder in Westdeutschland Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen - mit dieser Größenordnung glaubte man damals, den im Gesetzgebungsverfahren zum Kinderförderungsgesetz (KiföG) in das Sozialgesetzbuch (SGB VIII) implementierten individuellen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, der zum 1. August 2013 in Kraft treten soll, erfüllen zu können. Mittlerweile dürfte allen Akteuren klar sein, dass diese Annahme einer Rechtsanspruchserfüllung mit einem Platzangebot von 35 Prozent bei Weitem von der tatsächlichen Bedarfs- und Nachfrageentwicklung überholt worden ist.

Dies ist doppelt problematisch, da zum einen bereits die veraltete Zielgröße von 35 Prozent (bzw. mittlerweile aufgrund der demografischen Entwicklung modifiziert 39 Prozent) mit der bisherigen Ausbaudynamik in den meisten westdeutschen Bundesländern schwerlich erreicht werden wird, und zum anderen spricht das Gesetz an keiner Stelle von einer Quotierung, sondern von einem individuellen Rechtsanspruch (der rein theoretisch von 100 Prozent der Eltern in Anspruch genommen werden könnte). Das übt jetzt, im Jahr 2012, kurz vor dem Ende der mehrjährigen Ausbauphase, einen enormen Druck in Richtung quantitative Platzbeschaffung aus (gleichsam "um jeden Preis") - was wiederum für das hier interessierende Thema Qualität hoch relevant ist, denn in einer solchen Situation ist es nicht fernliegend, dass das Ziel einer Erfüllung der Platzbedarfe auf Kosten der qualitativen Ausgestaltung der Plätze gehen könnte. Zusätzlich befeuert wird diese Befürchtung durch die Spezifik der Finanzierung des Ausbaus, noch stärker aber der laufenden Betriebskosten in den Bundesländern. Vorab zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass wir es mit dem Doppelproblem einer Unterfinanzierung und einer Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung zu tun haben.

Die Unterfinanzierung des Systems lässt sich an einem einfachen Vergleich verdeutlichen. Derzeit fließen 15,72 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln in Deutschland in alle Kindertageseinrichtungen und in die Tagespflege. Das sind 0,63 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat schon vor Jahren als Zielgröße für das Soll-Volumen an öffentlichen Mitteln für die Kindertagesbetreuung der Kinder bis zum Schuleintritt ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vorgegeben. Würde diese Zielgröße in Deutschland realisiert, dann wären das 24,77 Milliarden Euro pro Jahr, die in das System gegeben werden müssten, also rund neun Milliarden Euro mehr als derzeit. Und es handelt sich bei dieser Zielgröße von einem Prozent des BIP nun keineswegs um eine beliebige Größe, sondern diesen Wert erreichen die skandinavischen Länder, und auch die Franzosen kommen auf 0,9 Prozent ihres BIP.

Es ist aber nicht nur zu wenig Geld im System, sondern darüber hinaus ist eine hoch problematische Fehlfinanzierung mit Blick auf die Art und Weise der Kostenträgerschaft zu diagnostizieren, die mittelbar und unmittelbar Auswirkungen hat auf die qualitative Ausgestaltung der Angebote. Vereinfacht gesagt gibt es eine erhebliche Ungleichverteilung in der derzeitigen Kosten-Nutzen-Verteilung auf die föderalen Ebenen Bund - Länder - Kommunen. Denn den Hauptanteil an der öffentlichen Finanzierung der Kindertageseinrichtungen tragen die Kommunen (in vielen Bundesländern mit einigem Abstand gefolgt von den Eltern über deren Elternbeiträge), während die Bundesländer in unterschiedlichem Umfang an der Teilfinanzierung beteiligt sind - von ganz wenig wie in Hessen bis relativ viel wie in Rheinland-Pfalz oder Bayern. Der Bund war bis vor Kurzem kaum an der Finanzierung der Einrichtungen beteiligt (obgleich das SGB VIII ein Bundesgesetz ist), seit dem erwähnten Krippenkompromiss ist er es zumindest anteilig: mit vier der damals veranschlagten zwölf Milliarden Euro für den Ausbau der Plätze für unter Dreijährige und ab 2014 mit 770 Millionen Euro pro Jahr für die laufenden Betriebskosten.

Die Sozialversicherungen sind an der Finanzierung überhaupt nicht beteiligt, was durchaus problematisch ist, denn volkswirtschaftliche Analysen haben zeigen können, dass durch Kindertageseinrichtungen langfristig ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von eins zu vier realisiert werden kann - jeder investierte Euro sich also vierfach für die Volkswirtschaft rentiert. Das rein fiskalische Kosten-Nutzen-Verhältnis für den Staat liegt bei eins zu 1,2. Also eine mehr als lohnende Investition für Staat und Wirtschaft, allerdings fällt der Nutzen durch zusätzliche Steuer- und Beitragseinnahmen vor allem auf der Ebene des Bundes und bei den Sozialversicherungen an, die aber kaum oder gar nicht an der Finanzierung der laufenden Betriebskosten beteiligt sind. Die in diesem Sinne asymmetrische Kosten-Nutzen-Verteilung zwischen den Gebietskörperschaften wirkt nun nicht nur als manifeste quantitative Ausbaubremse - es werden also zu wenige Plätze geschaffen und das auch noch zu langsam im Kontext des Rechtsanspruchs -, sondern sie hat auch Rückwirkungen auf die Qualität der Kindertagesbetreuung, sofern diese von den strukturellen Rahmenbedingungen abhängt. Denn wenn die Kommunen schon an sich mit dem Ausbau und den daraus folgenden Kosten überfordert sind, werden sie nicht noch geneigt sein, die neuen Plätze mit verbesserten Rahmenbedingungen zu schaffen, was ja zusätzliche Kosten verursachen würde. Eher das Gegenteil zu erwarten, wäre plausibel - mithin also ein Trend zu Standardabsenkung.

Früher, mehr und auch länger

Betrachtet man die Entwicklungen in den vergangenen Jahren, dann ist festzustellen, dass der Dreischritt "früher - mehr - länger" am zutreffendsten beschreibt, was sich an fundamentalen Veränderungen in den meisten Kindertageseinrichtungen getan hat. Das Eintrittsalter der Kinder wird immer jünger, immer mehr Kinder eines Jahrgangs besuchen wie selbstverständlich eine Kindertageseinrichtung, und ein Teil der Kinder bleibt immer länger in den Einrichtungen. Wirft man wieder einen besonderen Blick auf die kleinsten Kinder, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass bereits im Jahr 2011 in Deutschland mehr als 517.000 Kinder unter drei Jahren in einer Kita oder in der öffentlich geförderten Tagespflege betreut, gebildet und erzogen worden sind. Ein genauerer Blick auf die Inanspruchnahme der ergänzenden Kindertagesbetreuung bei den unter dreijährigen Kindern zeigt aber auch, dass es neben den großen Unterschieden zwischen Ost und West bei den Betreuungsquoten vor allem aber auch Hinweise gibt, dass die Eltern grosso modo sehr verantwortungsvoll mit ihren Kindern umgehen, denn die Inanspruchnahme der außerfamiliären Kinderbetreuung über eine Krippe ist bei den unter einjährigen Kindern marginal. Erst nach der Vollendung des ersten Lebensjahres steigt die Betreuungsquote deutlich erkennbar an (s. Abbildung 1 in der PDF-Version).

Aber mehr als 517.000 Kinder unter drei Jahren sind eine erhebliche Anzahl, erst recht, wenn man an die anfangs zitierten Ausführungen Rainer Böhms zu den von ihm und anderen befürchteten negativen gesundheitlichen Auswirkungen eines Krippen- bzw. Kita-Besuchs denkt. Und auch die Tatsache, dass ein Teil der Kinder immer länger während eines Tages in der Einrichtung verbleibt, ist von Bedeutung, steigt darüber doch der Bedarf und die Nachfrage nach Ganztagsplätzen. Gehen wir also von der empirisch beobachtbaren, zukünftig weiter ansteigenden Zahl an Kleinkindern aus, die einen Teil des Tages in einer Kindertageseinrichtung verbringen, dann wird klar, dass im Kontext der Qualitätsanfragen an diese Einrichtungen ein besonders intensiver Blick auf Qualität und Quantität des Personals zu werfen ist - gerade angesichts der besonderen Vulnerabilität der Kleinsten.

Verschiedene Dimensionen von Qualität

Mit Blick auf Kindertageseinrichtungen werden generell verschiedene Qualitätsbereiche voneinander unterschieden, die auch, aber nicht nur die Personalfrage abdecken:

Orientierungsqualität.

Bei der Orientierungsqualität geht es um die normativen Orientierungen, das heißt die Leitvorstellungen, Überzeugungen und Werte, unter denen das pädagogische Handeln erfolgen soll. In der Praxis sollten diese Grundlagen in der Konzeption der Einrichtung zu finden sein. Hinzu kommt aber auch eine implizite Ebene im Sinne der pädagogischen Haltung des Teams bzw. der einzelnen Fachkraft. Auf dieser Ebene ist auch das jeweilige Bild vom Kind zu verorten, das bewusst, aber auch unreflektiert viele Handlungen im pädagogischen Alltag beeinflusst.

Strukturqualität.

Hier geht es um die räumlich-materiellen und personellen Rahmenbedingungen, unter denen das pädagogische Handeln stattfindet. Dazu gehören zum Beispiel der Erzieher-Kind-Schlüssel, die Gruppengröße, die Qualifikation und Berufserfahrung des pädagogischen Personals, Kontinuität bzw. Stabilität des Teams, Verfügungszeiten für das Personal oder das Raumangebot und die Raumgestaltung in der Einrichtung. Da es besonders stabile Zusammenhänge zwischen einigen dieser Merkmale mit der Qualität der pädagogischen Prozesse gibt, spricht zum Beispiel Susanne Viernickel vom "eisernen Dreieck der Strukturqualität", das aus dem Erzieher-Kind-Schlüssel, der Gruppengröße und der Qualifikation des Personals bestehe.

Die Orientierungs- und die Strukturqualität sind notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen für gute pädagogische Qualität. Sie stellen ein wichtiges Potenzial zur Verfügung, aber ihre Realisierung bedeutet nicht automatisch, dass anschließend auch eine entsprechend gute Folgequalität erreicht wird. Ein Beispiel: Aus Sicht der Fachdiskussion und der Praxis ist es unstrittig, dass eine Kindergartengruppe mit 25 Kindern, die von 1,75 bis zwei Fachkräften "betreut" (und nach der Trias des SGB VIII auch gebildet und erzogen) werden soll, zu groß ist, um nach dem modernen Stand der Frühpädagogik qualitativ hochwertige Bildungsarbeit leisten zu können, denn diese fordert vor allem einen individualisierenden Ansatz. Eine Halbierung der Gruppengröße würde aber im Umkehrschluss keineswegs automatisch zu einem deutlichen Sprung in der pädagogischen Qualität führen. Wenn wir eine Pädagogin oder einen Pädagogen haben, die bzw. der grundsätzliche Probleme mit der Gruppenführung hat, dann wird sich diese Problemlage auch nicht grundsätzlich dadurch ändern, dass die Gruppe um ein Drittel oder gar die Hälfte kleiner wird.

Übrigens sind die Anforderungen an die Gruppenführungsqualität in Einrichtungen, die nach der "offenen Arbeit" praktizieren, sogar noch größer, weil hier bestimmte Stabilitätsanker relativ festgefügter Gruppenstrukturen aufgelöst bzw. zumindest gelockert worden sind. Und mit Blick auf das einzelne Kind (dessen Wohlergehen und individuelle Entwicklung ja im Zentrum stehen sollte) kommt erschwerend hinzu, dass es gerade unter den kleineren Kindern eine gewisse Anzahl von Kindern gibt, die generell Schwierigkeiten mit der Gruppenkonfiguration haben, teilweise auch darunter leiden, zumindest aber blockiert sind für bestimmte Lernprozesse. Dies wird bei einer verkleinerten Gruppe sicherlich abgemildert, aber nicht unbedingt aufgehoben.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt viele gute Gründe für eine Verkleinerung der Gruppengrößen, die in Deutschland (gemessen an den Standards der Fachdiskussion) generell um etwa ein Drittel zu groß sind. Aber man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass das zwingend zu einer besseren pädagogischen Qualität führen würde. Die Inputbedingungen (hierbei primär die Strukturqualität) erklären nur ein Viertel bis maximal die Hälfte der Streuung der Prozessqualität - der Rest speist sich aus anderen Quellen.

Prozessqualität.

Die Prozessqualität ist der Kernbereich dessen, was als pädagogische Qualität zu verstehen ist. In einer Kindertageseinrichtung beschreibt der Begriff die Art und Weise, wie die Fachkräfte ihre Aufgabenstellung umsetzen. Es geht also um die Gesamtheit des pädagogischen Umgangs mit dem Kind und um die Erfahrungen, die dieses mit seiner sozialen und räumlich-materiellen Umwelt im Alltag der Einrichtung macht.

Organisations- und Leitungsqualität.

Diese Qualitätsdimension steht zwischen der Orientierungs- und der Strukturqualität und behauptet eine moderierende Wirkung auf die Prozessqualität. Es wird davon ausgegangen, dass Träger und Leitung einen eigenständigen Einfluss auf die Prozessqualität haben und zugleich wie ein Filter wirken. Die Qualitätsmanagementsysteme der freien Träger können als Versuche interpretiert werden, über diese Schiene Einfluss auf das Geschehen in der Einrichtung zu nehmen. Die Leitungsqualität ist hierbei von zentraler Bedeutung - zum einen, was den Führungsstil nach innen angeht, zum anderen nach außen gegenüber den Eltern, den Kooperationspartnern wie zum Beispiel Grundschulen sowie gegenüber der Öffentlichkeit. Damit korrespondierend ist die Teamqualität als wichtige Rahmenbedingung zu sehen.

Kontextqualität.

Hierunter werden (in einem engeren Verständnis des Begriffs) das Vorhandensein sowie die Qualität von internen und externen Unterstützungssystemen verstanden. Es geht dabei also im Wesentlichen um die Fortbildung (Erreichbarkeit, Vielfalt und Angemessenheit der Angebote) und außerdem um die Unterstützungsleistung durch Fachberatung bis hin zur Inanspruchnahme von externer Supervision.

Ergebnisqualität.

Generell geht es hier um die Auswirkungen, die mit den verfügbaren Strukturen und Prozessen erzielt werden. Das Problem an dieser Stelle: Zumeist geht es um mittel- und langfristige Effekte auf die kindliche Entwicklung, die nicht unmittelbar in der Einrichtung gemessen werden können, sondern häufig (und wenn überhaupt) mit einer zeitlichen Verzögerung von teilweise mehreren Jahren auftauchen.

Personalfrage als Kernbereich

Aus der geschilderten komplexen Gemengenlage an Qualitätsdimensionen sollen abschließend die Fragen nach der Fachkraft-Kind-Relation und davon abgeleitet des Personalschlüssels näher betrachtet werden. Denn das Personal ist in einem doppelten Sinne hoch qualitätsrelevant gerade für die Kleinsten: Es müssen in einem rein quantitativen Sinne genügend Erzieherinnen und Erzieher da sein, und darüber hinaus müssen es auch die "richtigen" sein hinsichtlich ihrer Eignung und Professionalität für die Arbeit mit den Kindern. Schaut man in die einzelnen Bundesländer und fragt nach der quantitativen Ausformung des Personalschlüssels, dann ergibt beispielsweise eine aktuelle rechnerische Annäherung durch das Statistische Bundesamt mit Blick auf die Kinder von null bis zwei Jahren eine erhebliche Streuung. Dies verdeutlicht die Abbildung 2 (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version), wobei gleich anzumerken ist, dass das Statistische Bundesamt selbst darauf hinweist, dass es sich nur um einen rechnerischen Näherungswert handelt: "In der täglichen Betreuungssituation vor Ort können sich andere Bedingungen ergeben. Dies gilt insbesondere bei Ausfallzeiten des Personals oder in den sogenannten Randzeiten der Betreuung." Im Klartext: In der Realität der meisten Einrichtungen ist der tatsächliche Personalschlüssel also schlechter als die hier angegebenen Werte. Unabhängig davon ist bei der Betrachtung der Wertevarianz zwischen den Bundesländern eine nicht akzeptable Streuung der Personalschlüssel schon auf Länderebene feststellen. Nach allem, was wir aus der Fachdiskussion wissen, sind gerade die Personalschlüssel, die hier für die ostdeutschen Bundesländer ausgewiesen werden, nicht akzeptabel.

Um die Brisanz der hier präsentierten Werte zu verstehen, sind sie an den Befunden aus der fachwissenschaftlichen Diskussion zu spiegeln: Unbeschadet der Tatsache, dass die Skala des Wünschenswerten nach oben hin unbegrenzt ist, konnte beispielsweise die Studie von Susanne Viernickel und Stefanie Schwarz "kritische Schwellenwerte" aufzeigen. Hierbei handelt es sich um Werte, ab denen negative Auswirkungen auf pädagogische Qualität und Wohlbefinden der Kinder zu erwarten sind. In ihrer Expertise zu den wissenschaftlichen Parametern für die Fachkraft-Kind-Relation kommen sie mit Blick auf die Gruppen mit unter dreijährigen Kindern zu einer Fachkraft-Kind-Relation von eins zu drei bzw. maximal eins zu vier. Hierbei handelt es sich um die erwähnten kritischen Schwellenwerte, bei deren Überschreitung man nach Auffassung der beiden Autorinnen der Studie von einer Gefahr für die Kinder sprechen kann.

Ein besonderes Problem in Deutschland ist die zumeist fehlerhafte, wenn überhaupt vorhandene Einbeziehung der Ausfallzeiten von Erzieherinnen und Erziehern. Denn bei der Bestimmung des zu finanzierenden Personals ist zu berücksichtigen, dass die Ausfallzeiten durch Krankheit (die durchschnittliche jährliche Erkrankungszeit bei Erzieherinnen und Erziehern liegt derzeit bei 13 Tagen) und Urlaub (29 bis 30 Tage) jährlich etwa 20 Prozent des Arbeitsvolumens ausmachen. Hinzu kommen müsste eine Berücksichtigung der notwendigen und immer wichtiger werdenden Zeiten für Vor- und Nachbereitung: In der Fachdiskussion wird hierfür, für die "mittelbare pädagogische Arbeitszeit", die Kalkulation von weiteren 20 Prozent gefordert. Unterm Strich würde das bedeuten, dass nur 60 Prozent des Arbeitsvolumens für eine direkt kindbezogene Arbeit in Rechnung gestellt werden könnte. Es sei denn, man berücksichtigt die beschriebenen Zeiten nicht oder nur unzureichend, was leider genau der Situation in den meisten Bundesländern entspricht und bei vielen Fachkräften zu einem begründeten Gefühl der ständigen Überlastung führt - und das vor dem Hintergrund eines an sich schon zunehmenden Fachkräftemangels und "bescheidener" Arbeitsbedingungen im Zusammenspiel mit einer enormen Erwartungshypertrophie an die Einrichtungen (zum Beispiel hinsichtlich des Bildungsauftrags).

Angesichts dessen, was wir theoretisch wissen, in der Praxis sehen und unter den schwierigen Rahmenbedingungen erwarten müssen, bleibt in Bezug auf den Ausbau der Betreuungsangebote für die Kleinsten - so wie er derzeit vonstatten geht - ein großes Unbehagen. Auch Befürworter der familienergänzenden Betreuung, Bildung und Erziehung können gegenwärtig doch von großen Zweifeln und der Befürchtung beschlichen werden, ob wir hier nicht in eine Situation hineinlaufen, die dem Pflegenotstand am anderen Ende der Lebensspanne in Vielem gleicht. Es wäre jetzt die Zeit für einen großen "Krippengipfel", auf dem nicht nur mehr Geld bereitgestellt werden sollte, sondern auf dem sich alle Beteiligten auf verbindliche Standards für Qualität in Kindertageseinrichtungen einigen und diese verbindlich verabschieden sollten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rainer Böhm, Die dunkle Seite der Kindheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.4.2012, S. 7.

  2. Cécile Calla, Madame oder Mütterchen, 9.5.2012, online: Externer Link: www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/betreuungsgeld-so-ein-unsinn-fiele-in-frankreich-keinem-ein-a-829917.html (11.5.2012). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in Frankreich hinsichtlich der sehr kleinen Kinder nicht überwiegend die Krippen die Betreuungsbedarfe abdecken, sondern Tagesmütter und -väter. Derzeit gibt es gut 390.000 Tagespflegekräfte, die fast eine Million Plätze anbieten. Deren Inanspruchnahme wird steuerlich und durch Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen gefördert und dadurch preislich auch für Normalverdiener erreichbar. Für eine hervorragende Aufarbeitung der Situation in Frankreich im Vergleich zu Deutschland vgl. Rahel Dreyer, Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland und Frankreich. Strukturen und Bedingungen, Bildungsverständnis und Ausbildung des pädagogischen Personals im Vergleich, Hamburg 2010.

  3. In Ostdeutschland - das muss man an dieser Stelle gleich hinzufügen - stellt sich diese Aufgabe nicht, denn dort befinden sich bereits mehr als die Hälfte der Kinder in außerfamiliären Betreuungsverhältnissen, sei es in der Kindertageseinrichtung oder in der Kindertagespflege.

  4. Vgl. Stefan Sell, Die Kinderbetreuung als Wachstumsfeld - für alle? Bestandsaufnahme und Entwicklungslinien im Spannungsfeld von Ausbau der Angebote, Fachkräftemangel und Finanzierungsregelungen, in: Blickpunkt Jugendhilfe, (2010) 3-4, S. 31-38.

  5. Es kann hier nur angemerkt werden, dass es in Deutschland nicht "das System" der Kindertagesbetreuung gibt, sondern mindestens 16 teilweise sehr unterschiedliche Systeme in den einzelnen Bundesländern. Das macht sich auch bei der Art und Weise der Finanzierung der Einrichtungen bemerkbar. Zur Heterogenität der Ländersysteme vgl. Stefan Sell, Aktuelle Entwicklungen auf der Länderebene beim Ausbau der Kindertagesbetreuung - zur Ambivalenz des Bildungs- und Betreuungsföderalismus, in: Maria-Theresia Münch/Martin R. Textor (Hrsg.), Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige zwischen Ausbau und Bildungsauftrag, Berlin 2009, S. 64-81.

  6. Generell lässt sich derzeit die Situation in den einzelnen Bundesländern hinsichtlich der Elternbeiträge mit dem Bild einer Scherenentwicklung charakterisieren: In einigen Bundesländern wurden in den vergangenen Jahren die Elternbeiträge angehoben, während andere Bundesländer das letzte Kita-Jahr beitragsfrei gestellt haben - bis hin zu einer vollständigen Beitragsfreistellung der Eltern während der gesamten Zeit des Kita-Besuchs ihrer Kinder, etwa in Rheinland-Pfalz.

  7. Vgl. Stefan Sell, Der volkswirtschaftliche Nutzen der Kinderbetreuung, in: Christine Henry-Huthmacher (Hrsg.), Jedes Kind zählt. Neue Wege der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung (Konrad-Adenauer-Stiftung: Zukunftsforum Politik Nr. 58), St. Augustin 2004, S. 52-73.

  8. Vgl. Stefan Sell, Gute KiTa - schlechte KiTa? Pädagogische Qualität als zentrale Aufgabe für Leitungskräfte, in: Das Leitungsheft Kindergarten Heute, (2008) 2, S. 14-19.

  9. Vgl. Susanne Viernickel, Krippen im Spiegel der Wissenschaft: Diskurslinien und Forschungsfragen, in: dies. et al. (Hrsg.), Krippenforschung. Methoden, Konzepte, Beispiele, München 2012.

  10. Vgl. Stefan Sell/Ralf Haderlein, Rahmenbedingungen für gute Bildung - Herausforderungen für die Pädagogik der frühen Kindheit, in: Klaus Fröhlich-Gildhoff/Iris Nentwig-Gesemann/Pia Schnadt (Hrsg.), Neue Wege gehen - Entwicklungsfelder der Frühpädagogik, München-Basel, 2007, S. 21-35.

  11. Destatis, Pressemitteilung Nr. 90 vom 13.3.2012.

  12. Vgl. Susanne Viernickel/Stefanie Schwarz, Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung - Wissenschaftliche Parameter zur Bestimmung der pädagogischen Fachkraft-Kind-Relation. Expertise für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Berlin 2009.

Dr. rer. soc., geb. 1964; Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der FH Koblenz, Campus Remagen, Südallee 2, 53424 Remagen.
E-Mail Link: sell@rheinahrcampus.de
Externer Link: www.stefan-sell.de