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Entsichert, organisiert und erzogen | 1953 | bpb.de

1953 Editorial Zwischen Verhärtung und Entspannung. Der Kalte Krieg im Jahr 1953 Der 17. Juni 1953. Trauma, Erinnerung, Aufarbeitung Entsichert, organisiert und erzogen. Die DDR-Gesellschaft der frühen 1950er Jahre Zwischen Konformität und Konflikt. Die westdeutsche Gesellschaft 1953 Ein iranisches Schicksalsjahr Stalins Tod und das Ende der Allmacht. Zur Transformation totalitärer Herrschaft

Entsichert, organisiert und erzogen Die DDR-Gesellschaft der frühen 1950er Jahre

Ralph Jessen

/ 15 Minuten zu lesen

Nach der Etablierung der SED als herrschende Partei waren die Bürger der jungen DDR mit einer unberechenbaren Obrigkeit konfrontiert. Mit enormem propagandistischen Aufwand und ohne rechtsstaatliche Bindung verfolgte die SED den "Aufbau des Sozialismus".

24 Pfund Bohnenkaffee aus Westdeutschland reichten aus. Als sie im Dezember 1951 bei einer Steuerprüfung entdeckt wurden, war es um den Zirkus Busch geschehen: Wegen Steuervergehens wurde das Unternehmen enteignet. Dem Zirkus Aeros ging es nicht besser. Auch hier dienten angebliche Steuerschulden als Begründung für die Verstaatlichung am 1. Januar 1953. Der dritte Großzirkus auf dem Gebiet der DDR, Zirkus Barlay, war schon 1950 in öffentliches Eigentum überführt worden, nachdem sein Eigentümer, Harry Barlay, in den Westen gegangen war. 13 kleinere Wanderzirkusse verschwanden zwischen 1951 und 1953 von der Bildfläche, gingen ein oder wurden aufgelöst.

Wer an die Revolution von oben denkt, mit der die ostdeutsche Gesellschaft zwischen 1948 und 1953 umgewälzt werden sollte, hat nicht unbedingt das Schicksal des Zirkus Busch vor Augen. Doch dürften die Erfahrungen, die die Zirkusleute Anfang der 1950er Jahre machen mussten, mit den Erfahrungen vieler DDR-Bürger übereingestimmt haben. Nach Kriegsniederlage, Besatzung und Entnazifizierung, nach Hungerjahren und staatlicher Teilung, nach Verabschiedung einer pseudodemokratischen Verfassung und der Etablierung der SED als herrschende Partei waren die Bürger der frisch gegründeten DDR mit einer unberechenbaren Obrigkeit konfrontiert. Unter hohem Zeitdruck, mit enormem propagandistischen Aufwand, ohne Mandat und ohne rechtsstaatliche Bindung verfolgte die SED-Spitze ihr Projekt "Aufbau des Sozialismus" – seit der II. Parteikonferenz von 1952 stand es auch offiziell auf der Agenda. Ob es sich dabei eher um den Import des sowjetischen Modells von Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft handelte, um Erbschaften der deutschen kommunistischen Tradition oder um ostdeutsche Spezifika in einem geteilten Land spielte für die Menschen, die diesem gewaltsamen Umbruch ausgesetzt waren, eine untergeordnete Rolle.

Nicht nur die einfachen Bürger, sondern auch viele loyale Parteimitglieder der SED sahen sich Tag für Tag verwirrenden Widersprüchen ausgesetzt: Den Versprechungen der Verfassung stand die Realität diktatorischer Herrschaft gegenüber, die Rede von Volkseigentum und Arbeitermacht passte schlecht mit dem Alltag von Arbeitsdruck, Mangel und Verweigerung jeder ernsthaften Partizipation zusammen, die politische Rhetorik beschwor nationale Werte und huldigte zugleich Stalin und der Sowjetunion, forcierte Militarisierung machte die lautstarke Friedenspropaganda unglaubwürdig. Wurden diese und andere Gegensätze zu offensichtlich, waren angebliche Feinde des Friedens und des Sozialismus rasch als Sündenböcke bei der Hand. Wer den Wendungen der Parteilinie nicht mehr folgen konnte oder wollte, musste mit "Erziehungsmaßnahmen" oder Schlimmerem rechnen. Die Erfahrungsgeschichte der DDR-Bürger in dieser Hochphase des Stalinismus kann man vielleicht am ehesten als ein aufreibendes Wechselbad von Unsicherheit, Willkür, Fremdbestimmung und Bedrohung auf der einen Seite und lockenden Chancen, neuer Sinnstiftung, Aufbaupathos und Zukunftsversprechungen auf der anderen Seite beschreiben.

Je nach Generationenzugehörigkeit, sozialem Status, persönlichen Werthaltungen und politischen Auffassungen waren die Faktoren anders gemischt – die Erfahrung von Instabilität und Ungewissheit in einer Konstellation beschleunigten Wandels, der vom Einzelnen nicht zu beeinflussen war, dürfte für fast alle fühlbar gewesen sein. Mit den Soziologen Émile Durkheim und Robert K. Merton könnte man von einem Zustand gesellschaftlicher Anomie sprechen, einem Zustand unklarer oder sich auflösender Regeln und Normen. Die Wünsche und Erwartungen vieler Angehöriger dieser Gesellschaft passten mit den vom politischen System vorgegebenen Wegen zur Erreichung dieser Ziele nicht zusammen. Die Gesellschaft in der frühen DDR stand unter extremem Stress.

Wenn man diese unübersichtliche Szenerie, die den Hintergrund der wachsenden Spannungen in der DDR der frühen 1950er Jahre bildete und die Voraussetzungen des Juniaufstands von 1953 hervorbrachte, unter dem Gesichtspunkt des von oben erzwungenen sozialen und kulturellen Wandels ordnet, sind vor allem drei Aspekte hervorzuheben: Erstens wurde die ostdeutsche Gesellschaft dieser Jahre durch eine Vielzahl politisch initiierter Mobilisierungsprozesse aufgewühlt, die das Leben der Menschen unsicher und die Zukunft unkalkulierbar machten. Gegenläufig dazu entstanden zweitens zahlreiche neue, politisch kontrollierte Organisationen, die Ordnung, Handlungssicherheit und Integration versprachen, dabei aber den Regulierungs- und Disziplinierungsanspruch des Regimes in immer weitere Sphären der Gesellschaft hineintrugen. Diese Organisationen waren wiederum drittens die wichtigsten Instrumente ideologischer Sinnstiftung und Verhaltensregulierung, denen die Bürger der DDR alltäglich ausgesetzt waren.

Die entsicherte Gesellschaft

Vor einigen Jahren hat der Historiker Eckart Conze die Geschichte der Bundesrepublik als eine "Suche nach Sicherheit" beschrieben. Vor dem Hintergrund der einschneidenden politischen Zäsuren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zweier verlorener Weltkriege, der Erfahrung von NS-Diktatur, Besatzungsherrschaft und staatlicher Teilung, hatte sich die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit als Leitmotiv der politischen Kultur etabliert. Blickt man aus dieser Perspektive auf die Frühgeschichte der DDR, erscheint diese als eine Phase tiefer Verunsicherung und Instabilität. Kaum dass sich die Wirren der "Zusammenbruchsgesellschaft" nach Kriegsende gelegt hatten, sah sich die Bevölkerung der ostdeutschen Länder ab 1947/48 mit dem einsetzenden Kalten Krieg und dem Beginn der "sozialistischen" Transformation einem Stakkato politisch initiierter Umbrüche ausgesetzt. Schon einmal machten die Bürger der DDR also die Erfahrung, dass ein Systemübergang sie in eine "entsicherte Gesellschaft" führte – wenn auch auf sehr andere Weise als 40 Jahre später.

Diese Erfahrung erstreckte sich auf fast alle Lebensbereiche: Die Revolutionierung der sozialen Strukturen und Hierarchien hatte unmittelbar nach Kriegsende mit der Bodenreform eingesetzt und war 1953 noch lange nicht abgeschlossen. Dabei handelte es sich um einen erzwungenen Elitenwechsel, der zunächst antifaschistisch legitimiert und später immer stärker mit dem Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft begründet wurde. Im Zuge der Entnazifizierung wurden große Teile der Funktionseliten in Verwaltung, Justiz, Bildungswesen und Universitäten entlassen, die das NS-Regime getragen hatten. Auch die flächendeckende Vertreibung der landwirtschaftlichen Großgrundbesitzer und die Enteignung weiter Teile des Wirtschaftsbürgertums firmierte als "antifaschistische" Säuberung. Für die Enteignungskampagnen gegen kleine und mittlere Selbstständige in den frühen 1950er Jahren hielten meist fadenscheinig konstruierte Wirtschaftsdelikte als Rechtfertigung her. Statt um die individuelle Sanktionierung großer und kleiner Nazis ging es mehr und mehr um die kollektive Verdrängung bürgerlicher Statusgruppen. Diesen Degradierungs- und Abstiegserfahrungen standen Aufstiegserfahrungen gegenüber, die oft genauso unerwartet und unberechenbar anmuteten. "Neulehrer" und "Volksrichter" wurden nach kurzen Schnellkursen in ihre Ämter gebracht, "Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten" rekrutierten akademischen Nachwuchs aus den unteren Schichten; Verwaltung, Parteiapparate und eine Fülle neuer Organisationen suchten händeringend nach politisch loyalen Mitarbeitern, auch wenn es mit deren Fachqualifikation oft nicht weit her war. "Ab morgen bist du Direktor" – diese Ansage hatte Anfang der 1950er Jahre meist mehr mit einem Parteiauftrag als mit Leistungsaufstieg zu tun. Eigentum, ererbter Status und "bürgerlicher Habitus" verloren an Bedeutung, zumindest vorübergehend auch Fachqualifikation; "politisches Kapital" und das, was später die Kultur einer "arbeiterlichen Gesellschaft" ausmachte, gewannen dagegen an Gewicht, wenn es um Auf- und Abstiege ging.

Die Erfahrung alltäglicher Unsicherheit, die die Ostdeutschen angesichts dieser sozialen Revolution von oben machten, wurde durch die Unberechenbarkeit von Verwaltung, Justiz, politischen Institutionen und vor allem der "herrschenden Partei" massiv verstärkt. Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurden die ohnehin spärlichen Ansätze von Rechtsstaatlichkeit, die in den Besatzungsjahren entstanden waren, in kürzester Zeit beendet. Nur zehn Tage nach der Staatsgründung legte eine geheime Richtlinie fest, dass alle wichtigen Gesetzesvorlagen, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen vor ihrer Verabschiedung beziehungsweise Durchführung von der SED-Spitze abzusegnen waren. Kaum beschlossen, waren fundamentale Bestimmungen der DDR-Verfassung insgeheim wieder aufgehoben worden. Die Verfassungen der im Sommer 1945 neu gegründeten Länder wurden mit deren Auflösung 1952 gleich ganz außer Kraft gesetzt. Da in diesem Zusammenhang auch die Verwaltungsgerichte aufgelöst wurden, verloren die DDR-Bürger jede Möglichkeit, sich mit rechtlichen Mitteln gegen staatliches Handeln zur Wehr zu setzen; die Abschaffung des gesamten Verwaltungsrechts folgte sechs Jahre später.

Eine politisierte Strafjustiz tat ihr Übriges, sodass die Bevölkerung der DDR den Willkürmaßnahmen der Behörden, mit denen der "Aufbau des Sozialismus" ab 1952 durchgesetzt werden sollte, ohne rechtlichen Schutz ausgesetzt war: Sei es bei der Schließung der Staatsgrenze zur Bundesrepublik im Mai 1952 und der folgenden Zwangsaussiedlung Tausender Bewohner der neuen Sperrzone, sei es bei der Enteignung zahlreicher Pensionen, Hotels und Erholungsheime an der Ostseeküste während der "Aktion Rose" 1953, sei es bei der erwähnten Verstaatlichung privater Zirkusse oder bei den Repressalien gegen die kirchliche Jugendarbeit während des Kirchenkampfes gegen die Gruppen der "Jungen Gemeinde". Die Grunderfahrung existenzieller Unsicherheit angesichts administrativer Willkür, abrupter Richtungsänderungen der Politik und der Unverbindlichkeit von Regeln und Verfahren reichte bis tief in die "herrschende Partei". Selbst deren Spitzenfunktionäre waren nicht davor gefeit: Als die Führung der KPdSU nach Stalins Tod eine gemäßigtere Richtung einschlug, mussten der Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED Walter Ulbricht, der Ministerpräsident Otto Grotewohl und der ZK-Sekretär für Propaganda Fred Oelßner Anfang Juni 1953 in Moskau zum Rapport erscheinen und die Direktiven zum "Neuen Kurs" entgegennehmen. Hunderttausende Parteimitglieder hatten sich seit Anfang der 1950er Jahre demütigenden Überprüfungen ihrer Loyalität und Linientreue zu stellen – wer versagte, den erwartete ein ungewisses Schicksal. Nicht nur ehemaligen Sozialdemokraten drohten der Rauswurf aus der SED, berufliche Nachteile, manchmal Haft. Besonders misstrauisch schaute die stalinistische Parteiführung auf alle, die irgendwann einmal in Distanz zur kommunistischen Orthodoxie Moskauer Prägung gestanden hatten: Ehemalige Angehörige linker Kleingruppen in der Weimarer Republik und vor allem Rückkehrer aus der britischen, mexikanischen oder US-amerikanischen Emigration waren schikanösen Gesinnungsprüfungen und massiver Repression ausgesetzt. Unter ihnen waren etliche jüdische Intellektuelle, deren Lage besonders prekär wurde, als die SED-Führung Ende 1952, Anfang 1953 auf die als "Antizionismus" verbrämte antisemitische Kampagne der KPdSU-Führung in Moskau einschwenkte. Ein Großteil der wenigen jüdischen Überlebenden des Holocaust, die bis dahin in der DDR gelebt hatten, floh in den Westen.

Dies erinnert daran, dass die DDR auch im Jahr 1953 noch eine durch große geografische Mobilität und Zwangsmigration geprägte Gesellschaft war. Millionen von Vertriebenen waren in der östlichen Besatzungszone gestrandet, viele auf Dauer, andere zogen weiter in den Westen. Die befreiten Insassen der nationalsozialistischen Lager mussten im postfaschistischen Deutschland wieder Fuß fassen. Ehemalige Kriegsgefangene und Zivilinternierte kehrten in eine fremd gewordene Welt zurück. Zehntausende Arbeitskräfte wurden schon in den späten 1940er Jahren mit mehr oder weniger Zwang für den sowjetischen Uranbergbau im Erzgebirge rekrutiert, Tausende mussten ihre Dörfer an der neuen westlichen Staatsgrenze verlassen, andere wurden für die pompösen industriellen Großprojekte des Sozialismus mobilisiert wie etwa den Aufbau des "Eisenhüttenkombinats Ost", das 1953 in "Stalinstadt" umbenannt wurde. Über eine Million Menschen verließen die DDR zwischen 1949 und 1953 in Richtung Westen. All dies verstärkte die Erfahrung von Instabilität und Unbehaustheit.

Die organisierte Gesellschaft

In der entsicherten Gesellschaft der frühen DDR machten viele Menschen die Erfahrung, dass ihre Lebenswelt auf neue Weise unberechenbarer, die geltenden Regeln unklarer und die Zukunft ungewisser geworden waren. Die politischen Institutionen traten als bedrohliche Macht mit umfassendem Gestaltungsanspruch auf, die Anpassung und Zustimmung erwartete, deren große Versprechungen von Recht, Verfassung, Demokratie, Nation, Arbeitermacht und Wohlstand aber mit ihrer Herrschaftspraxis wenig zu tun hatten. Wie konnte man diesen Institutionen mit Vertrauen begegnen, wie der Zukunft mit einiger Erwartungssicherheit entgegensehen, wie verlässliche soziale Beziehungen aufbauen? Während die Lebensverhältnisse in der DDR für den Einzelnen unüberschaubarer geworden waren, betrieb das SED-Regime zur gleichen Zeit mit außerordentlicher Energie die Entwicklung der kommunistischen "Organisationsgesellschaft". Der "Aufbau des Sozialismus" war zum Gutteil identisch mit dem Aufbau neuer Großorganisationen beziehungsweise der Anpassung vorhandener Organisationen. Nun sind Organisationen ein grundlegendes Strukturelement der Moderne und nicht spezifisch für kommunistische Diktaturen. Deren Besonderheit lag darin, dass die institutionelle Differenzierung moderner Gesellschaften aufgehoben und möglichst alle Sphären der Gesellschaft einer einheitlichen, ideologisch legitimierten Regulierung und Steuerung untergeordnet werden sollten. Was so abstrakt klingt, bedeutete aus der Erfahrungsperspektive der Menschen konkret, dass sie in immer mehr Bereichen ihres Lebens dem steuernden und regelnden, bevormundenden und gängelnden Staat begegneten beziehungsweise der die "Durchorganisierung" der Gesellschaft vorantreibenden "führenden Partei".

Die Eigenlogik der gesellschaftlichen Subsysteme wurde nach und nach stillgelegt beziehungsweise politisch überformt: Zwar gab es auf dem Papier noch Parteienpluralismus und allgemeine Wahlen, faktisch aber liefen die "Blockparteien" nach 1949 an der kurzen Leine des ZK. Mit der Farce der Einheitslistenwahlen machte man noch nicht einmal den Versuch, so etwas wie Parteienkonkurrenz zu fingieren. Nach der Aufhebung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Verwaltungsrechts entfernte sich der expandierende Staatsapparat immer weiter vom Modell einer rechtsförmig organisierten Bürokratie. Die Gründung der "staatlichen Plankommission" 1950 und aller damit zusammenhängender Gremien und Verfahren der Wirtschaftslenkung war ein entscheidender Schritt zur Außerkraftsetzung des Marktes zugunsten einer umfassenden politischen Steuerung aller wirtschaftlichen Prozesse. Von einer Unabhängigkeit der Presse und des Rundfunks konnte weder vor noch nach der Staatsgründung die Rede sein, und auch die Buch- und Zeitschriftenverlage mussten in immer engeren Grenzen manövrieren.

Die Jahre bis 1953 waren die Zeit, in der sich der neue Organisationskosmos mit großem Tempo in der ostdeutschen Zivilgesellschaft ausbreitete: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund unterwarf sich 1950 öffentlich der SED-Führung, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) führte 1953 einen erbitterten Kampf gegen die Junge Gemeinde der protestantischen Kirchen, der 1947 gegründete Demokratische Frauenbund schaltete vorhandene Frauenorganisationen gleich, die im Jahr der Staatsgründung aus der Taufe gehobene Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft machte sich an die schwere Aufgabe, den Deutschen in der DDR ihre Furcht, ihr Ressentiment und ihren Dünkel gegenüber "den Russen" auszutreiben. Diese Liste kann leicht verlängert werden – von der 1950 gegründeten elitären Akademie der Künste bis zum Zentralhaus für Laienkunst, das sich ab 1952 um die Anleitung des künstlerischen Volksschaffens kümmern sollte. Schon ein Jahr zuvor hatte die "StaKuKo" – die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten – damit begonnen, im Auftrag der SED-Führung gegen westliche "Dekadenz", "Formalismus" und "Kosmopolitismus" zu Felde zu ziehen. Den Universitäten und Hochschulen wurden im Rahmen der II. Hochschulreform von 1951/52 die verbliebenen Selbstverwaltungsrechte genommen und ein scharf politisiertes "gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" aufgezwungen.

Man könnte annehmen, dass soziale Stabilität und individuelle Erwartungssicherheit zunahmen, je mehr Menschen in diese rasch expandierende Organisationswelt einbezogen wurden, die ja mit dem Anspruch auftrat, alle Aspekte des Lebens zu ordnen und zu regulieren. Nicht zuletzt die Ereignisse des 17. Juni 1953 zeigen, dass dies nicht der Fall war. Dies lag sicherlich daran, dass die Organisationsoffensive der SED-Führung von vielen als bedrohlich, bedrängend oder auch nur als lästig erfahren wurde. Zudem haben die nach sowjetischem Modell entworfenen Organisationen gerade in den Anfangsjahren alles andere als perfekt funktioniert. Weder gab es genügend qualifiziertes und ideologisch sattelfestes Personal, noch waren die Abläufe und Prozesse eingespielt. Letztlich lagen dem mangelnden Integrationserfolg aber grundsätzliche Probleme zugrunde: Erstens entsprachen die neuen Organisationen und Verwaltungen trotz ihrer aufwendigen Gremien, Berichtszüge und Anweisungsverhältnisse gerade nicht dem Modell "rationaler" bürokratischer Herrschaft, da die Geltung von Regeln und Verfahren immer durch äußere Interventionen "der Partei" durchkreuzt werden konnte. Zweitens führte das Primat politisch-ideologischer Steuerung zu notorischer Ineffizienz, zu Reibungsverlusten und Leistungsschwäche, da es im Zweifelsfall eben nicht um wirtschaftliche Kriterien, wissenschaftliche Wahrheiten oder künstlerische Originalität ging, sondern um politische Herrschaftsinteressen und ideologische Deutungshoheit. Drittens wirkten strikte Hierarchien und die Zentralisierung aller relevanten Entscheidungen lähmend und demotivierend.

Die erzogene Gesellschaft

1953 kamen sieben neue DEFA-Spielfilme in die Kinos der DDR – sechs von ihnen hatten eine politische Botschaft. Die einzige Ausnahme war "Die Geschichte vom kleinen Muck" unter Regie von Wolfgang Staudte. Sie erwies sich als Publikumsrenner. Bis heute gilt die Verfilmung des Märchens von Wilhelm Hauff als erfolgreichste DEFA-Produktion aller Zeiten. Statt sich verkrampfter Politpropaganda auszusetzen, floh man lieber in orientalische Phantasiewelten. Denn in den vier Jahren zwischen der Staatsgründung und dem Juniaufstand von 1953 trat das SED-Regime den DDR-Bürgern als aggressive Erziehungs- und Mobilisierungsdiktatur entgegen. Ein nicht abreißender Strom propagandistischer Texte, Plakate, Veranstaltungen und Filme flutete den öffentlichen Raum. Mit nur geringen Nuancen vermittelten SED-Kader, Medien, Bildungseinrichtungen und "Massenorganisationen" die Leitbilder des neuen sozialistischen Menschen, priesen die Freundschaft zur Sowjetunion, verdammten den Westen und appellierten an Arbeitsethos und Moral. Zukunftsoptimismus und Aufbauelan wurden beschworen, sozialistische Heldenmythen popularisiert. Hunderttausende neue SED-Mitglieder mussten zu loyalen Kommunisten gemacht werden. Der "Aufbau des Sozialismus" war eine gewaltige Erziehungsaufgabe.

Politische Sinnstiftung, öffentliche Mobilisierung und performative Inszenierung gingen Hand in Hand. Seitdem der Bergmann Adolf Hennecke am 13. Oktober 1948 seine Arbeitsnorm zu 387 Prozent übererfüllt hatte, rollte die "Aktivistenbewegung" durchs Land. Nicht schnöde materielle Interessen, sondern selbstloser Einsatz für den Aufbau und den Sozialismus sollte zu Höchstleistungen motivieren. Immer neue Heldinnen und Helden der Arbeit wurden als leuchtende Vorbilder in Szene gesetzt. Ihr Beispiel sollte dazu motivieren, die große Transformation nicht nur passiv über sich ergehen zu lassen, sondern sie aktiv mitzugestalten – freilich stets zu den Konditionen der SED. Teilhabe, Integration und Performanz standen auch im Zentrum der großen Mobilisierungsereignisse, mit denen das Regime sich selbst und den Bürgern der DDR die fiktive Einheit von Volk und Führung vorführte: Die streng choreografierten Demonstrationen zum 1. Mai gehörten von Anfang an zur Routine des politischen Festkalenders; das "Deutschlandtreffen" der FDJ von 1950 und die "Weltfestspiele der Jugend und Studenten" im folgenden Jahr versammelten Hunderttausende Jugendliche in Ost-Berlin. Solche politische Erlebnispädagogik hinterließ vermutlich tiefere Eindrücke als staubtrockene Lektürestunden mit Stalins "Kurzem Lehrgang", zumal, wenn man die Berlinreise mit einem heimlichen Besuch in einem West-Berliner Grenzkino verbinden konnte. Der bizarr anmutende Stalinkult mit seinen bigotten Treueschwüren und Glaubensbekenntnissen gehörte in der DDR wie im ganzen Ostblock bis 1956 zum Standardrepertoire politischer Rituale. Schon deshalb musste nach Stalins Tod am 5. März 1953 eine Schockwelle der Verunsicherung durchs Land gehen. In der Ereigniskette, die zum Juniaufstand führte, spielte sie eine wichtige Rolle.

Nur wenige Jahre nach dem Ende von Führerglaube und NS-Volksgemeinschaft, nach Besatzungsherrschaft, Beginn des Kalten Krieges und staatlicher Teilung brauchte es neue sinnstiftende Erzählungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um das Projekt "Sozialismus" zu legitimieren. Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR hatte in diesen Jahren vermutlich die größte Legitimationskraft. Nachdem die Verantwortung für den Nationalsozialismus auf das kapitalistische System geschoben, die braune Vergangenheit in die westdeutsche Bundesrepublik ausgelagert und die Ostdeutschen zu "befreiten" Opfern der NS-Diktatur stilisiert wurden, konnte man sich auf der Siegerseite der Geschichte fühlen. Die Gegenwart wurde als manichäischer Kampf der sozialistischen Kräfte des Fortschritts und des Friedens gegen die Mächte der Dekadenz, des Krieges, der Unterdrückung und Ausbeutung im Westen beschrieben. Hier verquickten sich kommunistische Propagandamotive mit deutschnationalen Traditionen und wohlbekanntem Antiamerikanismus; eine subkutane Spur von Antisemitismus war auch dabei. Der Zukunftsentwurf der kommunistischen Utopie schließlich verhieß eine andere, eine bessere Moderne, die sich umso mehr als Projektionsfläche aller möglichen Hoffnungen eignete, je weiter sie in einer nebulösen Ferne lag. Die Sowjetunion wurde von den Ostdeutschen des Jahres 1953 wohl kaum als Einlösung dieser Hoffnungen angesehen. Die Ereignisse im Juni zeigten vielmehr das Scheitern der stalinistischen Organisationsgesellschaft wie auch ihrer bombastischen Sinnstiftungsbemühungen. Die Bürger der DDR waren der permanenten Unsicherheit in dieser Revolution von oben ebenso überdrüssig wie des penetranten Erziehungsfurors ihrer Obrigkeit. Als das Politbüro der SED am 9. Juni 1953 den "Neuen Kurs" verkündete und seine rabiaten Maßnahmen zum "Aufbau des Sozialismus" zurücknahm, kehrten sich die Verhältnisse um: Plötzlich erschien das Regime verunsichert und getrieben, nicht mehr die Bevölkerung. Am 15. Juni begannen die Streiks der Berliner Bauarbeiter.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Bd. 1, Göttingen 2018, S. 223f. Ich danke Gesa Jessen und Ulrich Mählert für die Lektüre des Manuskripts und kritische Hinweise.

  2. Vgl. Philippe Besnard, Anomie, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Vol. 1., 20152, S. 714–717.

  3. Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.

  4. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bonn 19864, S. 37.

  5. Heinrich Best/Everhard Holtmann (Hrsg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt/M. 2012.

  6. Vgl. die Übersicht von Arnd Bauerkämper, Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005.

  7. Matthias Wagner, Ab morgen bist Du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR, Berlin 1998.

  8. Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 2000, S. 177.

  9. Vgl. Richtlinien vom 17.10.1949, in: SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3/57, dokumentiert in: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Berlin 1998, S. 77f.

  10. Vgl. Michael Stolleis, Ein Staat ohne Staatsrecht, eine Verwaltung ohne Verwaltungsrecht? Zum öffentlichen Recht in der Rechtswissenschaft der DDR, Vorlesung vom 5.3.2009 in der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Externer Link: https://edoc.bbaw.de/files/677/04_Stolleis.pdf.

  11. Vgl. Hermann Weber/Ulrich Mählert (Hrsg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 2001.

  12. Vgl. Deutsch-deutsche Übersiedlungsstatistik 1949 bis zum 30.6.1990, in: Judt (Anm. 9), S. 545.

  13. Vgl. Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie 19/1990, S. 292–307; Stefan Kühl, Gesellschaft der Organisation, organisierte Gesellschaft, Organisationsgesellschaft, Universität Bielefeld, Working Paper 10/2010.

  14. Vgl. Stefan Kühl, Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011; Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553; M. Rainer Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: ebd., S. 17–30.

  15. Vgl. zum Folgenden Gerd-Rüdiger Stephan et al. (Hrsg.), Die Parteien und Organisationen der DDR, Berlin 2002; Andreas Herbst et al. (Hrsg.), So funktionierte die DDR, Reinbek 1994.

  16. Zur Organisationsoffensive im Kulturbereich siehe die ausführliche Übersicht bei Dietrich (Anm. 1), S. 175–485.

  17. Vgl. Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002.

  18. Vgl. Rainer Gries, Dramaturgie der Utopie. Kulturgeschichte der Rituale der Arbeiter-und-Bauern-Macht, in: Peter Hübner et al. (Hrsg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln–Weimar 2005, S. 191–214.

  19. Vgl. Uwe Spiekermann, Eine sozialistische Heldin: Gretel Heinicke und die Kochtopfmethode, 11.10.2019, Externer Link: https://uwe-spiekermann.com/2019/10/11/eine-sozialistische-heldin-gretel-heinicke-und-die-kochtopfmethode.

  20. Vgl. das reichhaltige Material bei Dieter Vorsteher (Hrsg.), Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, Berlin 1996.

  21. Vgl. Martin Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive, in: Zeiträume 2007, S. 164–181 sowie das immer noch lesenswerte Standardwerk von Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt/M. 1992.

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ist Professor i.R. für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln.
E-Mail Link: r.jessen@uni-koeln.de