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Stalins Tod und das Ende der Allmacht | 1953 | bpb.de

1953 Editorial Zwischen Verhärtung und Entspannung. Der Kalte Krieg im Jahr 1953 Der 17. Juni 1953. Trauma, Erinnerung, Aufarbeitung Entsichert, organisiert und erzogen. Die DDR-Gesellschaft der frühen 1950er Jahre Zwischen Konformität und Konflikt. Die westdeutsche Gesellschaft 1953 Ein iranisches Schicksalsjahr Stalins Tod und das Ende der Allmacht. Zur Transformation totalitärer Herrschaft

Stalins Tod und das Ende der Allmacht Zur Transformation totalitärer Herrschaft

Martin Wagner

/ 15 Minuten zu lesen

Die Entstalinisierung in der Sowjetunion ist ein Beispiel dafür, dass sich totalitäre Ordnungen selbst mäßigen und von innen transformieren können. Doch der Wandel durch kollektive Führung hatte Grenzen, wie sich etwa 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn zeigte.

Der Tod des Diktators ist ein Ermöglichungsmoment. Denn Ordnungen personalisierter Herrschaft müssen sich in seiner Folge neu konstituieren. Verschwindet der Alleinherrscher, der die Letztentscheidungsgewalt, den Legitimationskern und die Bindekraft des Regimes vereint, stehen dessen Nachfolger vor der Herausforderung, das Machtvakuum zu füllen und über die Zukunft zu befinden. Darin offenbart sich das Dilemma einer totalitären Ordnung, die auf der Überhöhung des Einzelnen beruht – ohne den Diktator lässt sich die personalisierte Herrschaft nicht auf Dauer stellen. Die Erben müssen zwischen der Fortsetzung des alten, geringfügig adaptierten Regimes und der Veränderung der Grundlagen ihrer Ordnung wählen, zwischen Transition und Transformation. Machterhalt und Reformnotwendigkeit, gegenseitiges Misstrauen und gemeinschaftliche Erniedrigungserfahrungen müssen gegeneinander abgewogen werden.

Stalin starb am 5. März 1953. Der Argwohn, den er im Innersten der Macht geschaffen hatte, beförderte sein Ableben. Nachdem er am 1. März einen ersten Schlaganfall erlitten hatte, trauten sich seine Hausangestellten einen ganzen Tag lang nicht, nach ihm zu sehen. Als am Abend doch jemand die Tür öffnete, lag Stalin in einer Urinlache auf dem Boden. Die Bediensteten legten den Diktator im Nachthemd auf dem Sofa ab und riefen die übrigen Parteiführer herbei. Diese taten zunächst so, als sei nichts geschehen – einen Arzt informierten sie nicht. Handelten seine Weggefährten aus Kalkül, ihn sich selbst zu überlassen, oder doch aus Angst, er werde Rache dafür nehmen, dass sie ihn in seiner Hilflosigkeit gesehen hatten? Als später medizinisches Personal eintraf, war Stalins Agonie nicht mehr aufzuhalten. Die Gefolgsmänner hielten Wache an seinem Bett und warteten darauf, dass mit Stalin auch der Stalinismus starb.

Noch vor seinem Tod leiteten sie einen Wandel ein, der die Grundlagen der Herrschaft der sowjetischen Staatspartei auf Jahrzehnte verändern sollte: Sie verwandelten die totalitäre Herrschaft Stalins in ein autoritäres Parteiregime. Die Allmacht des Einzelnen hatte in Willkürentscheidungen, entgrenzter Gewalt, Kampagnen gegen imaginierte Feinde und ritualisierter Überhöhung ihren Ausdruck gefunden – vor allem aber in einem umfassenden Terror. Stalins Unterwerfungsritualen fielen selbst engste Weggefährten zum Opfer, nicht wenige Mitglieder des Zentralkomitees ließ er erschießen. Als der Alleinherrscher starb, entschieden seine Nachfolger, die Gewaltherrschaft nicht länger zu tragen, die sie über Jahrzehnte mitgestaltet hatten. Denn sie hatten begriffen, dass sich die Gewalt auch gegen sie selbst richten konnte, zumal im Moment großer Unsicherheit, als mit Stalin die zentrale Figur dieses Systems wegfiel. Nikita Chruschtschow, Georgi Malenkow, Anastas Mikojan und die übrigen Mitglieder des ZK-Präsidiums, wie das Politbüro damals hieß, unterwarfen sich einer Selbstdisziplinierung.

Als Kollektiv revidierten sie Stalins Kampagnen und beendeten den Terror, brachen mit Personenkult und Überhöhung und etablierten Verfahren und Normen. Stalins Nachfolger transformierten ihre Herrschaft und gaben ihr eine Regelhaftigkeit, die zwar weder rechtsstaatlich noch demokratisch war, aber für die Beherrschten berechenbarer wurde. Kollektivführung war die Antwort auf Alleinherrschaft, die es den Erben erlaubte, die Säulen ihrer Ordnung – Herrschaft, Legitimation und Verfahren – zu reformieren. Die Herausforderungen dieses Wandels beschrieb 1956 bereits der Vorsitzende der Kolchose "Stalin" im Stalingrader Gebiet: Als er 1953 den Bäuerinnen und Bauern Stalins Tod mitteilen musste, hätten sie ihn gefragt, wie es nun weitergehe; als er ihnen drei Jahre später von Stalins Verbrechen berichten musste, habe er sich gefragt, wie es ihnen verständlich zu machen sei.

Herrschaft

Die Nachfolger hatten die Transformation der totalitären Herrschaft eingeleitet, noch bevor Stalin gestorben war. In den Tagen zuvor hatten sie medizinische Berichte über den sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand des Diktators veröffentlicht – einerseits, um sich des Verdachts eines Komplotts zu erwehren; anderseits, um den gottgleichen Führer wieder in ein Individuum mit Puls und Blutdruck zu verwandeln, mithin einen sterblichen Menschen. Wenige Stunden vor seinem Tod trafen Partei- und Staatsführung der Sowjetunion zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen, um den Übergang zu orchestrieren – ein einmaliger Vorgang in der sowjetischen Geschichte. Sie wagten es nicht, den todkranken Diktator als Parteichef abzusetzen, wählten jedoch Georgi Malenkow zum neuen Vorsitzenden des Ministerrates. Mehr noch: Stalins Erben schlossen sich als Führungskollektiv zusammen, revidierten seine jüngsten Personalentscheidungen und reformierten den Zuschnitt der Ministerien. Denn die erste Herausforderung bestand in der Verhinderung eines Machtvakuums.

Umgehend begannen sie mit der Abwicklung des totalitären Erbes. Das neue Führungskollektiv beendete die Kampagnen, die der Diktator kurz vor seinem Tod initiiert hatte, da von ihnen die Gefahr erneut entgrenzter Gewalt ausging. Wenige Wochen nach Stalins Tod verkündete die sowjetische Führung im Parteiorgan "Prawda", Stalins antisemitische Kampagne gegen Kremlärzte entbehre jeder Grundlage, die Vorwürfe seien schlicht erdacht gewesen. In zahlreichen Eingaben an die Parteizentrale drückten sowjetische Bürgerinnen und Bürger ihr Unverständnis über die abrupte Revision eherner Wahrheiten aus. Stalins Nachfolger beließen es nicht bei symbolischen Korrekturen. Mit einer umfassenden Amnestie begnadigten sie noch im März 1953 rund eine Million Gulag-Insassen – in der Mehrzahl jene, die zu weniger als fünf Jahren Haft verurteilt worden waren, und damit nicht vorrangig "politische" Häftlinge. In den Folgejahren wurden auch sie in großer Zahl entlassen und rehabilitiert, bis 1964 etwa jeder dritte. Das Lager-System wurde reformiert, blieb aber bis zum Ende der Sowjetunion bestehen.

Es galt nun, die neue Ordnung nach innen durchzusetzen. Denn nur wenn sie im Innersten der Macht uneingeschränkt verteidigt wurde, konnte sie ihre zivilisierende Wirkung entfalten. Zwar hatten Stalins Gefolgsleute über Jahre und teils Jahrzehnte zusammengearbeitet und waren durch erniedrigende Erfahrungen, die ihnen die Launen des Diktators beschert hatten, verbunden. Der Zusammenschluss der Erben zu einer Kollektivführung ließ es zu, dass sich unterschiedliche Charaktere miteinander aussöhnten; vor allem aber ermächtigte er das Kollektiv, jene Verfechter der alten Ordnung auszuschließen, die von der Usurpation der Alleinherrschaft träumten. In der Entmachtung des Geheimdienstchefs Lawrenti Beria versicherten sich die Machthaber der Notwendigkeit kollektiver Führung sowie des Endes entgrenzter Gewalt. Fortan wurden Interessengegensätze und Machtkämpfe unter veränderten Bedingungen ausgetragen. Die Sowjetunion blieb jedoch weiterhin ein autoritärer Staat, der auf Repression als Mittel des Machterhalts nicht verzichten konnte. Die Grenzen des Wandels offenbarten sich auch 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn.

Legitimation

Ihre zweite Herausforderung fanden Stalins Nachfolger darin, die Begründungen ihrer Herrschaft zu verändern. Am 9. März 1953 stellten sie ihre Loyalität zum Alleinherrscher ein letztes Mal aus – einer mehrtägigen Aufbahrung seines Leichnams folgte eine pompöse Beerdigungsinszenierung, die ihren Höhepunkt in Stalins Überführung in das Lenin-Mausoleum auf Moskaus Rotem Platz fand. Einen Tag später verkündete Regierungschef Malenkow: "Der Personenkult muss beendet werden." Den Chefredakteuren der auflagenstarken Zeitungen erklärte er, dass die Macht in der Sowjetunion fortan in der Repräsentation von Einheit aufzutreten habe. Stalins Name verschwand aus Presse und Radio. Die Führung inszenierte sich als Kollektiv und berief sich auf ihre erste Legitimationssäule Lenin. Vermeintlich überzeitliche Begründungen, die weit in die revolutionäre Zeit zurückreichten, sollten die Partei als Institution aufwerten und ihr Legitimität für die Zukunft verleihen. Dazu erfanden Stalins Erben Traditionen, die sie auf Lenin zurückprojizierten – etwa die kollektive Führung.

Auf dem XX. Parteitag im Februar 1956, dem ersten nach Stalins Tod, musste die Partei ihrer Geschichte zudem eine neue Erzählung geben, ansonsten hätte man es der Straße überlassen, über Stalins Verbrechen zu sprechen, erinnerte sich Nikita Chruschtschow. Im Namen des Zentralkomitees trug er auf der letzten geschlossenen Parteitagssitzung die Abrechnung mit Stalin vor. Der Personenkult, so der Erste Sekretär der KPdSU, habe die "Konzentration unermesslicher, unbegrenzter Macht in den Händen eines Einzelnen" hervorgebracht. Stalin habe diese Allmacht missbraucht und "massenhaften Terror gegen die Kader der Partei gerichtet". 383 Todeslisten, die ihm der Geheimdienstchef Nikolai Jeschow vorgelegt hatte, habe Stalin eigenhändig unterzeichnet, erläuterte Chruschtschow. Seine als "Geheimrede" bekannt gewordene Kritik an Stalins Verbrechen wurde in der gesamten Sowjetunion verlesen. Die Reaktionen reichten von entschiedener Ablehnung über unumwundene Zustimmung bis zu Forderungen nach mehr Offenheit und offenbarten, wie unvorbereitet die Botschaften des Zentrums die sowjetischen Bürgerinnen und Bürger trafen.

Über die Schrecken der Vergangenheit sprachen Stalins Nachfolger im Bestreben, ihre eigene Ordnung zu stabilisieren. Indem sie sich am historischen Unrecht abarbeiteten, bekräftigen sie ihr Versprechen, nie wieder die Allmacht eines Einzelnen zuzulassen. In der Sowjetunion und der kommunistischen Welt schlug die Kritik an Stalins Verbrechen jedoch zuweilen in Ablehnung der bestehenden Ordnung um. In Georgien protestierten Stalin-Loyalisten, in China freuten sich Mao-Anhänger, die das sowjetische Modell nicht mehr kopieren wollten, in Polen und Ungarn demonstrierten Studierende für mehr Freiheit – alle sollten auf ihre Weise enttäuscht, Letztere gar gewaltsam zum Verstummen gebracht werden. Die Dynamik der Stalin-Kritik führte in eine Offenheit, die destabilisierende Zweifel genauso zuließ wie affirmierende Indienstnahmen der verwandelten Parteinormen. Die Debatten lokaler Parteiorganisationen über die Geheimrede offenbarten jedoch auch, dass der Wandel erste Wirkungen zeigte. Die Menschen in der Sowjetunion begannen, Sicherheiten einzufordern. "Wo ist die Garantie dafür, dass sich derartige Erscheinungen nicht erneut wiederholen?", fragten manche etwa in Saratow an der unteren Wolga.

Verfahren

Die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten auf eine neue Grundlage zu stellen, war die dritte Herausforderung. Mit kollektiver Führung definierten Stalins Erben ein Ideal, an dem sie die Parteisekretäre des Landes maßen – und ihrerseits gemessen werden konnten. Die Selbstdisziplinierung der Herrschaft, die Moskaus Machthaber der poststalinistischen Sowjetunion verordneten, sollte allerorten und auf allen Ebenen der Partei durchgesetzt werden. Denn mit dem neuen Führungsstil hatte sich nicht nur die Repräsentation von Herrschaft zu verändern – lokale Parteisekretäre durften nicht länger als "kleine Stalins" agieren. Sie wurden in ihrer Normentreue überwacht und für Fehlverhalten sanktioniert. Herrschaft im Namen der Partei wurde zu einem Verfahren. Die Einhaltung ihrer Regeln sollte die Entscheidungsträger vor Ort mit Autorität ausstatten. Begabung und Erfahrung sollten Parteiführer in den Augen ihrer Untergebenen auszeichnen, nicht mehr die Fähigkeit, Angst zu verbreiten, erklärte Chruschtschow im März 1956.

Gleichwohl blieb die poststalinistische Sowjetunion eine Ordnung des Strafens und Disziplinierens. Denn all jene Funktionärinnen und Funktionäre, die sich der Selbstdisziplinierung nicht fügten, wurden sanktioniert. Korrekte Führung, beanspruchten Stalins Nachfolger, zeichnete sich etwa durch Formalisierung der Entscheidungsprozesse, Zugewandtheit im Umgang mit Untergebenen, Bescheidenheit im Auftreten und nicht zuletzt Disziplin in der Einhaltung des Parteistatuts aus. Doch trotz aller ideologischer Suchbewegungen ließ sich die Parteikultur positiv kaum bestimmen. Moskaus Machthaber errichteten einen Parteipranger, führten Negativbeispiele vor und erzogen ihre Kader. Das ZK-Journal "Parteileben", das seit Frühling 1954 wieder erschien, stellte auf der letzten Seite jeder Ausgabe Parteifunktionäre bloß, die gegen das neue Führungsideal verstoßen hatten – und zwar namentlich und unter Angabe von Vergehen und Sanktion. Wer seine Macht missbrauchte, sich im Amt bereicherte, die Gremien ignorierte, Parteientscheidungen nicht umsetzte oder willkürlich handelte, wurde öffentlich ausgestellt. In den 1950er Jahren druckte das ZK zweimal im Monat jeweils eine halbe Million Exemplare des "Parteilebens", in den 1970er Jahren lagen von jeder Ausgabe anderthalb Millionen Exemplare in der gesamten Sowjetunion aus. Mit dem Parteikontrollkomitee und der Parteiabteilung des ZK verfügte die Partei über zwei interne Institutionen der Kaderdisziplinierung – "Parteileben" jedoch ließ die Menschen in der Sowjetunion an der Selbstdisziplinierung teilhaben.

Die Verfahren zielten darauf ab, das Regimevertrauen zu erneuern. In ihrem Parteipranger stellten Moskaus Machthaber nicht nur (in)korrekte Parteiarbeit als soziale Praxis aus. Auch ihre Disziplinierungspraktiken wurden in Prozess und Ergebnis greifbar. Die Verfahren von Führung und ihrer Sanktion stabilisierten die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, weil sie aufzeigten, was erlaubt war und was nicht, und weil sie erklärten, welcher Verstoß wie geahndet wurde. Damit wurde die autoritäre Ordnung für die Menschen, die in ihr leben mussten, berechenbar. Vor allem aber lernten die sowjetischen Bürger, dass individuelle Willkür mit Regelhaftigkeit diszipliniert wurde. Die markanteste Wirkung entfaltete dieser Wandel der Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten dort, wo Letztere Moskaus Machthaber an ihren eigenen Ansprüchen maßen. Bürgerinnen und Bürger richteten Eingaben an die Parteiführung und zeigten ihr ihre Unzulänglichkeiten im Umgang mit den allgemeinen Normen auf. Manche beklagten sich sogar beim Vorsitzenden des Ministerrates und warfen Stalins Nachfolgern vor, das Parteistatut "willkürlich" zu ignorieren.

Autoritäres Lernen

Stalins Tod hatte einen Wandel eingeleitet. Seine Erben transformierten eine totalitäre Willkürherrschaft in eine autoritäre Parteiherrschaft – eine Entwicklung, die auf der ganzen Welt Beachtung fand. Im "Westen" beobachtete man den Antagonisten, im "Ostblock" die kommunistische Führungsmacht. Ungeachtet ideologischer Prägungen schenken autoritäre Ordnungen einander Aufmerksamkeit und lernen voneinander. Sie sammeln Krisenwissen, analysieren Präventionstechniken, verfolgen Kommunikationsstrategien und bewerten Nutzen und Kosten instrumenteller Gewalt. Je ähnlicher sich Regime strukturell sind, desto leichter gelingt die Übernahme ins Eigene. Nicht selten beruht die Dauerhaftigkeit autoritärer Ordnungen auf ihrer Fähigkeit, sich wandelnden Einflüssen von außen und innen anzupassen. Der Tod des Alleinherrschers ist eine Herausforderung, der nichtdemokratische Ordnungen immer wieder zu begegnen haben. Der Umgang mit dem Erbe Stalins in der poststalinistischen Sowjetunion wurde zum Lehrstück, an dem sich Kommunisten und Autokraten noch Jahrzehnte später abarbeiteten.

An kaum einem Ort wurde die sowjetische Entstalinisierung so genau beobachtet wie in Beijing. Mao Zedong ließ sich über die Trauer, Freude und Ratlosigkeit der chinesischen Bevölkerung nach Stalins Tod 1953 ebenso berichten wie über die Ereignisse auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Denn die Entstalinisierung stellte den Mao-Kult infrage, erlaubte jedoch zugleich die chinesische Abkehr vom sowjetischen Modernisierungsmodell. Vor allem aber war sie Mao eine Mahnung mit Blick auf sein eigenes postumes Schicksal. Tatsächlich diente die sowjetische Stalin-Kritik den Kommunisten Chinas als Negativbeispiel dafür, wie mit dem Erbe des Alleinherrschers zu verfahren sei. Als Mao Zedong im September 1976 starb, entschieden seine Nachfolger, kein Maß am sowjetischen Beispiel zu nehmen. Statt im Kollektiv repräsentierten sie die Ordnung zunächst durch einen Statthalter: Hua Guofeng imitierte Frisur, Kleidung und Handschrift des verstorbenen Alleinherrschers. Anders als in der Sowjetunion der 1950er Jahre kritisierte Chinas Führung Maos Fehler nur selektiv, während sie dessen überzeitliche Bedeutung bekräftigte. Doch auch in China verband die Parteispitze mit Kollektivführung ein Programm der Selbstdisziplinierung einer Herrschaft, die fortan in autoritärem Gestus auftrat und die Willkür des Einzelnen einhegte.

Autoritäres Lernen ist kein Glasperlenspiel – es ist die regimeerhaltende Praxis autoritärer Ordnungen. Bis in die Gegenwart setzen sich Russland und China intensiv mit der sowjetischen Geschichte auseinander. Neben dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Transformation totalitärer Alleinherrschaft der Fixpunkt ihrer historischen Selbstbetrachtungen. Nicht zufällig dient Moskaus und Beijings heutigen Machthabern das Schicksal der Sowjetunion als Negativfolie. Stalin zu negieren, soll Xi Jinping 2013 den Parteimitgliedern erklärt haben, komme einer Geschichtsvergessenheit gleich, die das Regime gefährde. In jüngster Zeit verabschiedete sich China von Amtszeitbegrenzungen für seine Staatsführung, Russland von der europäischen Friedensordnung. In beiden Ländern unterliegt Herrschaft seit mehr als einem Jahrzehnt einem Prozess zunehmender Personalisierung – sowohl in Machtfülle als auch Repräsentation. Denn autoritären Regimen steht es stets offen, sich in die Gegenrichtung zu transformieren und von Gewalt und Alleinherrschaft leiten zu lassen.

Schluss

Stalins Tod brachte das Ende der Alleinherrschaft; seine Nachfolger entschieden, die Allmacht des Einzelnen einzuhegen, die Überhöhung seines Abbildes einzuebnen und die Beziehung zu den Beherrschten neu zu begründen. Nicht zuletzt schworen sie instrumentellem Terror und willkürlichen Entscheidungen ab, vor denen selbst im Innersten der Macht niemand sicher gewesen war. Die sowjetischen Parteiführer transformierten ein Regime, an dessen Errichtung sie jahrzehntelang mitgewirkt hatten. Nichts lag ihnen dabei ferner, als den Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei oder das sozialistische System preiszugeben. Totalitäre Regime können sich von innen wandeln und selbst disziplinieren – die stalinistische Sowjetunion und das maoistische China sind zwei Beispiele, in denen die Transformation gelang.

Die autoritäre Ordnung, die auf Stalins Tod folgte, offenbarte die Leistungen und Grenzen dieses Wandels. Stalins Erben bescherten ihrer Gesellschaft Stabilität und Berechenbarkeit im Aufeinandertreffen mit der Staatsgewalt. Mehr noch: Sie brachen mit dem Terror, der sich gegen jeden richten konnte. Zwar verzichteten Moskaus Kommunisten nach Stalins Tod nicht auf den Einsatz physischer Gewalt – weder in der Sowjetunion, noch außerhalb. Doch aus diffusem Strafen wurde gezieltes Disziplinieren, dessen Regelhaftigkeit es den Menschen zu verstehen erlaubte, welches Verhalten sie in Konflikt mit der Staatsmacht brachte. Dieser Wandel hatte jedoch auch seine Grenzen. Die Kollektivführung, die die Erben der Macht nach dem Tod des Diktators miteinander aussöhnte, hielt an der Parteispitze nur so lange, bis die Unterlegenen die Bedingungen des Wandels infrage stellten. Nach der Entmachtung der Stalin’schen Gefolgsleute Wjatscheslaw Molotow, Georgi Malenkow und Lasar Kaganowitsch 1957 ging Nikita Chruschtschow als primus inter pares der sowjetischen Führung hervor. Gleichzeitig entfaltete die Transformation ihr strukturelles Erbe. Weder wurden die Unterlegenen getötet, noch maßte sich Chruschtschow eine unbegrenzte Machtfülle an.

Auch in Zukunft werden Alleinherrscher sterben, die eine übersteigerte Machtfülle auf sich vereinigt haben. Wieder wird ein Ermöglichungsmoment eintreten, in dem es an den Erben der Macht liegt, sich für Fortsetzung oder Veränderung zu entscheiden. Erneut kann dann der Blick in die Geschichte die Herausforderungen freilegen, die sich in der Transformation totalitärer Herrschaft stellen. Doch die Geschichte erteilt mitnichten Handlungsempfehlungen. Denn stets unterscheiden sich Bedingungen, Konstellationen und Akteure, mithin die Möglichkeiten und Motive derer, die für Veränderung eintreten. Nicht ausgeschlossen ist indes, dass dereinst auf die totalitäre wieder eine autoritäre Ordnung folgt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur "Veralltäglichung" charismatischer Herrschaft vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt/M. 2010 (Tübingen 1922), S. 182.

  2. Für eine detaillierte Darstellung der Tage vor Stalins Tod vgl. Oleg Chlewnjuk, Stalin. Eine Biographie, München 2015.

  3. Zum Stalinismus grundlegend: Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.

  4. Diesen Begriff hat Immo Rebitschek für die poststalinistische Sowjetunion eingeführt; er wendet sich damit gegen Stefan Plaggenborg, der der Sowjetunion nach Stalin einen weniger weitreichenden Anspruch einer "Selbstbeschränkung" attestiert und im Jahr 1953 "nur bedingt eine Zäsur" für die Sowjetunion sieht. Vgl. Immo Rebitschek, Die disziplinierte Diktatur. Stalinismus und Justiz in der sowjetischen Provinz, 1938 bis 1956, Wien–Köln–Weimar 2018, S. 20; Stefan Plaggenborg, Sowjetische Geschichte nach Stalin, in: APuZ 1–2/2005, S. 26–32, hier S. 28.

  5. Zu den Säulen autoritärer Ordnung vgl. Johannes Gerschewski, The Three Pillars of Stability. Legitimation, Repression, and Co-Optation in Autocratic Regimes, in: Democratization 1/2013, S. 13–38.

  6. Vgl. V. Čuraev, Leiter der Abteilung für Parteiorgane der RSFSR, an das ZK der KPdSU, 19.3.1956, Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii (Russisches Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte, RGASPI), f. 556, op. 14, d. 43, ll. 1–10, Zitat l. 9.

  7. Vgl. Protokol sovmestnogo zasedanija plenuma central’nogo komiteta KPSS, soveta ministrov sojuza SSR i prezidiuma verchovnogo soveta SSSR, ot 5 marta 1953 goda, in: Istočnik 1/1994, S. 106–111.

  8. Vgl. Marc Elie, Rehabilitation in the Soviet Union, 1953–1964. A Policy Unachieved, in: Kevin McDermott/Matthew Stibbe (Hrsg.), De-Stalinising Eastern Europe. The Rehabilitation of Stalin’s Victims after 1953, Basingstoke 2015, S. 25–45, hier S. 25.

  9. Vgl. die Debatte auf dem Juli-Plenum des Zentralkomitees der KPdSU: Vladimir P. Naumov/Ju. V Sigačev (Hrsg.), Lavrentij Berija. 1953 stenogramma ijul’skogo plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 1999.

  10. Notizen Petr Pospelovs zur Sitzung des Präsidiums des ZK, 10.3.1953, RGASPI f. 629, op. 1, d. 54, ll. 68f., Zitat Bl. 69.

  11. Vgl. L. Slepov, Kollektivnost’ – vysšij princip partijnogo rukovodstva, in: Pravda, 16.4.1953.

  12. Vgl. Strobe Talbott (Hrsg.), Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, Reinbek 1971, S. 355.

  13. O kul’te ličnosti i ego posledstvijach. Doklad Pervogo sekretarja CK KPSS tov. Chruščeva N.S. XX s’’ezdu Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza 25 fevralja 1956 goda, in: Karl Ajmermacher et al. (Hrsg.), Doklad N.S. Chruščeva o kul’te ličnosti Stalina na XX s’’ezde KPSS. Dokumenty, Moskva 2002, S. 51–119, Zitate S. 52, S. 68, S. 79.

  14. Vgl. Vladimir A. Kozlov, Mass Uprisings in the USSR. Protest and Rebellion in the Post-Stalin Years, translated and edited by Elaine McClarnand MacKinnon, London–New York 2002; György Dalos, 1956. Der Aufstand in Ungarn, München 2006; Shen Zhihua/Xia Yafeng, Mao and the Sino-Soviet Partnership, 1945–1959. A New History, Lanham 2015.

  15. Vgl. Pavel Kolář, Der Poststalinismus. Ideologie und Utopie einer Epoche, Köln 2016, S. 10.

  16. G. Denisov, Sekretär des Saratovskij Obkom, an die Abteilung für Parteiorgane der RSFSR des ZK der KPdSU, 27.3.1956, RGASPI f. 556, op. 14, d. 45, ll. 56–63, Zitat l. 61.

  17. Vgl. Speech by Comrade Khrushchev at the 6th PUWP CC Plenum, Warsaw, 20.3.1956, Externer Link: http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/111920.

  18. Vgl. etwa Petr A. Rodionov, O leninskom stile v rabote, Moskau 1966.

  19. Vgl. etwa Partijnaja Chronika, in: Partijnaja Žizn’ 1/1954, S. 79f.

  20. Vgl. Jörg Baberowski, Erwartungssicherheit und Vertrauen. Warum manche Ordnungen stabil sind, und andere nicht, in: ders. (Hrsg.), Was ist Vertrauen? Ein interdisziplinäres Gespräch, Frankfurt/M. 2014, S. 7–29.

  21. Vgl. Anonyme Eingabe an Chruščev, Vorošilov, Molotov, Mikojan, Malenkov, Kaganovič, 2.8.1955, RGASPI f. 83, op. 1, d. 35, ll. 128f.

  22. Vgl. Jörg Baberowski/Martin Wagner, Crises in Authoritarian Regimes. An Introduction, in: dies. (Hrsg.), Crises in Authoritarian Regimes. Fragile Orders and Contested Power, Frankfurt/M.–New York 2022, S. 11–26.

  23. Vgl. Stephen G. Hall, The Authoritarian International. Tracing How Authoritarian Regimes Learn in the Post-Soviet Space, Cambridge 2023 (i.E.).

  24. Vgl. Martin Wagner, Excoriating Stalin, Criticizing Mao. Entangled Reevaluations of the Past in the 1950s Soviet Union and 1970s/80s China, in: American Historical Review (i.E.).

  25. Vgl. etwa die jüngste offizielle Parteigeschichte der Kommunistischen Partei Chinas, Zhongguo gongchandang jianshi (中国共产党简史, Kurze Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas), Beijing 2021, S. 190.

  26. Vgl. Gao Yu (高瑜), Nan‘er Xi Jinping (男儿习近平, Der Kerl Xi Jinping), 25.1.2013, Externer Link: http://www.dw.com/a-16549520.

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ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Geschichte des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin.
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