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Politisches Theater heute. Zwei Interviews

Eberhard Görner

/ 31 Minuten zu lesen

In Interviews mit der Schauspielerin Maria von Bismarck und dem Theaterregisseur Wolfgang Engel geht es um den Stellenwert politischen Theaters heute und in der Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit.

Eberhard Görner im Gespräch mit Maria von Bismarck

Maria, warum bist du Schauspielerin geworden?



Ich liebe es, Perspektiven zu wechseln und mich in andere Menschen und Charaktere hineinzuversetzen. Und ich schaue die Welt gern aus den Augen von Lady Milford oder von Grete aus "Präsidentinnen" oder der Konsulin aus den "Buddenbrooks" an. Dieser Blick eröffnet mir ein völlig anderes Empfinden, eine andere Lebendigkeit, und eine Sicht auf die Welt - auf das Leben.

Wie lange bist du schon Schauspielerin?

Seit 30 Jahren. Ich war an sehr vielen Stadttheatern, und zwischendurch habe ich auch freie Produktionen gemacht - immer auf der Suche nach guten Regisseuren. Weil der Schauspieler einfach vollkommen abhängig ist von einer guten Regie. Die Beziehung zu einem Regisseur ist ein bisschen wie die von einem Kind zu seinem Vater oder seiner Mutter. Die sehen mehr, und man kann nie ganz sicher sein über seine eigene Wirkung - man braucht einen Spiegel. Wenn dieser Spiegel klar ist und gut, dann wächst man über sich hinaus. Wenn der Spiegel aber trüb ist, oder in sich selbst gefangen, dann bleibt man selbst auch trüb, auch wenn man ein viel größeres Potenzial in sich hat.

Du hast neben deiner Schauspielarbeit auch immer Regie geführt?

Ja, das war mir wichtig, weil ich, wenn ich ein Stück lese, sofort Phantasien entwickle, wie das aussehen könnte. Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten, das Wesen eines Schauspielers zu sehen, zu erkennen, und das in die Rolle hineinleben zu lassen. Das, was für mich ganz schwierig ist an der Regie heutzutage und auch des Regietheaters, ist, dass das Potenzial des Schauspielers, der ja, jeder für sich, ein ganzes Universum mitbringt, wenig genutzt und geöffnet wird. Jede Rolle braucht ein Geheimnis, und jeder Mensch bringt eins mit. Dass man dem nicht vertraut, sondern dass der Regisseur sagt: Ich will das haben, und manchmal sehr respektlos mit einem Schauspieler umgeht, ihn hineinzwängt in seine Phantasie, die oft auch sehr begrenzt ist und manchmal auch sehr neurotisch. Die vielleicht auch seine eigene Lebensgeschichte immer wieder in verschiedenen Formen reflektiert. Und das Wunderbare, was ein Mensch mitbringt, kommt gar nicht zum Strahlen.

Das Entscheidende für mich an jeder Arbeit auf der Bühne ist, dass ich irgendwo ein Stückchen Seele sehen kann. Doch diese Seele bleibt oft verschlossen, weil der Schauspieler im Probenprozess gar keine Chance hat, sich zu öffnen, weil er so unter Druck steht, Leistung zu zeigen, das abzuliefern, was der Regisseur verlangt, und nicht wirklich eine Hingabe stattgefunden hat, weder an sich selbst, noch an den Regisseur, noch an die Rolle. Der ganz große Druck, die Spannung ist immer da, und damit eine "Spielastik", die für mich völlig uninteressant ist auf der Bühne. Aus meiner Erfahrung ist es so, dass das Publikum - egal, aus welcher Stadt es kommt, wie klein oder groß, wie anspruchsvoll die Stadt, wie anspruchsvoll die Menschen sind - einen Moment der Tiefe, des Innehaltens und den Einblick tief in einen Menschen erleben will. Weil es sich selber darin spüren will und weil das ein Stück Befreiung bedeutet. Doch das bekommen die Leute meistens nicht, weil Regisseure damit beschäftigt sind, immer Neues zu erfinden und etwas Besonderes zu machen: sich austoben, auch in ihrem Hunger nach Macht. Regie führen bedeutet auch Macht über Menschen. Und da geht der seelische Moment, der eigentliche tiefe Moment der Bewegung, den wir alle dringend brauchen, verloren. Es wird unendlich viel Energie verschwendet, unendlich viel Zeit und auch Liebe in einem sinnlosen Sich-Drehen um die eigene Achse. Dieser Moment der Öffnung, wenn ein Schauspieler in seine Rolle eintaucht und sich öffnet und damit seinen Seelendiamanten strahlen lässt, in diesem Moment passiert Ewigkeit. Da passiert Transzendenz. Da passiert etwas, was größer ist als jedes kleine menschliche Schicksal.

Diesen Moment habe ich als Schauspielerin oft auf der Bühne erlebt, auch bei Kollegen. Das sind Momente, die im Gedächtnis bleiben, auch als geistige Nahrung, ein Schatz, den man mit sich trägt. Ich glaube, dass das Theater heute so angeschlagen ist, weil es diese geistige Nahrung nicht mehr liefert. Heute sagt ein Kollege gerade noch in der Kantine zu mir: Tja, bei dem Nathan hatten wir ein Problem mit dem Schluss. Den kann man nicht inszenieren, weil der Lessing einfach einen schlechten Schluss geschrieben hat. Wenn ein Schauspieler so über Lessing spricht, dann merke ich, dass da in der Tiefe etwas nicht angekommen ist. Auch nicht von der Botschaft dieses Lessing, und warum der heute noch aktuell ist. Das ist es, worunter wir leiden: Dass wir diese geistige Nahrung uns selbst und dem Publikum nicht mehr geben. Weil wir so befasst sind mit unserem Ego, was sich entfalten möchte, unserem mangelnden Selbstwertgefühl. Das geht sowohl Regisseuren als auch Schauspielern so. Dass sie das Theater benutzen, um sich selbst zu spüren, ihren eigenen Wert immer wieder reflektiert zu sehen. Aber sie geben keine geistige Nahrung weiter, und sie bekommen selbst auch keine. Deswegen bleiben sie ewig hungrig und ewig unzufrieden.

Dazu kommt die politisch-kulturelle Situation, dass einfach dadurch, dass gespart wird, immer weniger Schauspieler immer mehr leisten müssen. Der Spielplan platzt aus allen Nähten. Der Schauspieler macht sich heute keine Gedanken mehr darüber, was erzählt wird. Der sieht nur noch seine Rolle, vor allem, weil er Angst hat, seinen Job zu verlieren. Denn da stehen zwanzig andere, die wollen denselben Job. Und wenn er in zwei Produktionen nicht Höchstleistungen gebracht hat, ist er draußen. Dieser Druck bewirkt Unterwürfigkeit gegenüber Regisseuren und Intendanten. Man verleugnet sich selbst. Es gibt zu wenig Zivilcourage. Dieser enorme Druck bewirkt auch, dass die Gemeinschaft eines Ensembles nicht mehr funktioniert. Man ist auswechselbar, da kommen Gäste, da kommt der, da kommt jener. Man wird abhängig gehalten. Man möchte nicht so gern, dass Schauspieler inszenieren, sie sollten auch möglichst keine eigene Meinung haben. Sie haben zu funktionieren. Und das ist ja auch richtig, dass sie funktionieren. Doch die kreative Auseinandersetzung, auch um Inhalte, auch gesellschaftlich, bleibt dabei auf der Strecke: Ist dieses Stück relevant in diesem Moment? Oder ist das nur ein Modetrend: Weil alle jetzt "Gott des Gemetzels" spielen, müssen wir das auch machen?

Du bist die Tochter einer politischen Familie. Dein Vater war Präsident des Goethe-Instituts, er war Intendant beim WDR und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Wie siehst du die Situation für das politische Theater? Hat es überhaupt eine Existenzberechtigung in der derzeitigen Gesellschaft?

Es ist natürlich immer leichter, wenn ein System sehr eng gestrickt ist und viel Unterdrückung mit sich bringt. Gegen die gängige Ordnung Kunst zu machen, ist einfacher als in einem System, das vor sich hin wabert und in dem man nichts wirklich packen kann. Das ist schwieriger, es bedeutet, dass man sich viel tiefer auseinander setzen muss mit politischen und gesellschaftlichen Notständen, und auch viel differenzierter: Was brauchen die Menschen in einer Situation der kulturellen Not, die wir im Moment erleben? Wir erleben einerseits kulturellen Überfluss. Überall wird Musicaltheater und Unterhaltung produziert. Wir haben diese wunderbaren Stadttheater. Aber wir sind medienkrank, wir sind konsumkrank, und wir brauchen wieder eine neue Form der Wahrnehmung, um unseren Geist zu klären für die politischen Verhältnisse. Aus meiner Sicht hat das Theater die Funktion, das politische Bewusstsein und den Blick zu schärfen. Wir sind wie in Nebel gehüllt. Wir sehen nicht mehr klar, weil wir mit überflüssigen Bildern überfüttert sind. Wir sind mit Klischees beschäftigt und mit schneller Befriedigung in jeder Hinsicht. Was fehlt, ist Weitsicht, ja, Verantwortung für unseren Planeten.

Warum gibt es keine großen Theaterautoren wie Brecht, Dürrenmatt, Frisch, aber auch Shakespeare, Lessing oder Schiller mehr?

Die großen Autoren haben etwas gemeinsam: Sie haben einen Mechanismus, eine Gesetzmäßigkeit erkannt, wie menschliches Drama funktioniert. Und das schreiben sie in vielerlei Geschichten immer wieder. Sie haben etwas Metaphysisches verstanden: wie sich Energien immer wieder zusammen drehen, vernichten und neu geboren werden. Und sie alle geben Hinweise auf das, was zu lernen ist. Sie öffnen eine Tür. Sie öffnen das Bewusstsein dafür, dass eine Figur in einem bestimmten Moment, wenn sie anders gehandelt hätte, frei gewesen wäre, oder erlöst, das Glück gefunden hätte. Und damit lassen sie den Zuschauer lernen. Die Figur macht eine Entwicklung durch.

Heute gibt es keine geistige Grundlage mehr für viele Autoren, aus einer solchen Perspektive zu schreiben. Ein Werner Schwab schreibt aus einer Perspektive der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung, der Bitternis und des schwarzen Humors oder des Zynismus. Das kann auch sehr interessant sein. Aber er gibt keinen Hinweis, er gibt keine geistige oder seelische Nahrung, ähnlich wie etwa Sarah Kane. Damit meine ich jetzt nicht sentimental, alles soll ein Happyend haben. Es geht darum, dass der Zuschauer auch mit einem spirituellen, geistigen Hunger - einem seelischen Hunger - in eine Vorstellung geht. Vielleicht ohne es zu wissen; vielleicht möchte man nur unterhalten werden. Aber man möchte doch etwas mitnehmen. Unser Leben spielt sich immer wieder am Abgrund ab. Trotz unseres Lächelns in die Kamera ist da eine seelische und geistige Leere, und die möchte gefüllt werden. Dazu ist das Theater da, so, wie vielleicht die Kirchen. Die Leute gehen rein und kommen hungrig wieder raus. Das Theater hat eine ethische Verantwortung, die es nicht nutzt, weil es sich um sich selber in diesem Karussell der Eitelkeiten dreht und oft auch stecken bleibt.

Autoren von Shakespeare bis Brecht besitzen für das Theater Langzeitwirkung über Jahrhunderte hinweg. Jetzt sind wir konfrontiert mit Autoren und mit Literatur, die eher Kurzzeitwirkung haben.

Ja, und das trifft auch auf die Politik zu. Weil der Mensch überdreht ist - durch Kommunikation, durch Medien, durch Anspruch - und keine Wurzeln mehr empfindet, muss alles schnell konsumiert werden, weil er sonst zusammenbricht. Weil sonst das ganze System zusammenbricht. Deswegen setzt man sich diese kurzen Ziele. Wenn man sich Theater in den USA anschaut und sich dort in der Gesellschaft umsieht, ist dieses Phänomen noch extremer. Was steckt dahinter? Nichts als Angst vor der Zukunft, Angst vor langem Atem, Angst davor, etwas aufzubauen, wie vielleicht im alten Ägypten jemand einen Tempel gebaut und wirklich drei Monate gebraucht hat, um einen Stein dorthin zu setzen.

Ich arbeite als Regisseurin so, dass ich den Text, jedes Wort, erarbeite. Jede Geste, jede Emotion, sodass der Schauspieler absolute Sicherheit hat und nachts um vier geweckt werden und den Lear spielen kann. Er muss einfach so sicher sein. Das ist etwas, was alle großen Theaterleute gesagt haben - für mich sind das immer noch George Tabori und Peter Brook -, der Schauspieler braucht einen Raum für sich. Man muss ihm Raum geben, um zu improvisieren, erforschen, sich selber zu spüren. Und im zweiten Drittel werden Dinge festgelegt und im dritten wird es fest geklopft. Weil sie Angst haben, dass irgendetwas schief gehen könnte, arbeiten viele Regisseure heute so, dass sie von der ersten Probe an Dinge festlegen und überhaupt nicht mehr neugierig sind, nicht mehr das Nichts aushalten. Die Pausen während eines Gesprächs oder einer Probe, wo vielleicht mal wirklich gar nichts passiert, das sind oft die schönsten Momente. Weil da kleine Wunder entstehen. Und wir brüsten uns alle damit, dass wir immer etwas Neues erfinden. Aber es ist nicht neu. Das Neue entsteht nur in einem Raum, in dem die Ewigkeit Platz hat, nicht dort, wo der menschliche Wille alles zugemeißelt hat.

Hast du vor der Wiedervereinigung die Theaterszene der DDR verfolgt?

Ich habe einmal "Baal" gesehen, im Berliner Ensemble mit Eckehard Schall. Was mir auffiel, war, dass die Ostschauspieler den Stoff, den Inhalt eines Stückes ernster nahmen als wir. Dass sie sich mit mehr Ehrfurcht und Respekt dem Autor und dem Stoff hingaben. Heute wird jedes Stück neu übersetzt und noch einmal überarbeitet, und da geht vieles auch von der Sprache verloren. Ich glaube, dass wir auch sprachlich auf den Hund gekommen sind und dass wir unsere Sprache neu einüben müssen. Dabei können uns die Klassiker helfen. Andererseits finde ich es wunderbar, wie Erich Fried Shakespeare übersetzt hat. Aber die Sprache in ihrer Vielfalt ist auch Nahrung. Und das sollte man ernster nehmen.

Du hast die Misere des Theaters beschrieben. Erhoffst du dir eine Verbesserung durch die Politik?

Ehrlich gesagt: Ich glaube, dass es keine Politiker mehr gibt, die sich ernsthaft öffnen für Kunst oder Theater. Oder nur ganz wenige. Selbst Kultus- oder Kulturminister haben keine Zeit, ins Theater zu gehen oder sich die Vielfalt des Theaters anzuschauen. Oder zu lesen. Das sind Manager. Und ich glaube, dass die meisten den großen Fehler machen, dass sie die Bedeutung von Kultur völlig unterschätzen. Deswegen habe ich nicht viel Hoffnung, dass sich etwas verbessert. Im Gegenteil: Ich glaube, dass die Wüste, die oft in der Politik herrscht, immer mehr auf die Kultur übergreift. Aber es muss natürlich von der Politik kommen. Weil Politik die Theater finanziert. Das Erkennen der Wertigkeit von Kultur, dass sie eben nicht nur Unterhaltung ist und nicht nur eine nette Beilage zum Steak. Das ist immer weniger der Fall.

Und was ist mit der Wirtschaft?

Es gibt viele Unternehmen, die große Musicalproduktionen und auch Theater subventionieren. Und es gibt den einen oder anderen Manager, der erkannt hat, dass es für sein Prestige, aber auch für sein eigenes Vergnügen von Vorteil ist, wenn er Kultur unterstützt. Ich sehe eine Bewusstseinswende im Management. Der Begriff "Seele" fällt jetzt tatsächlich auch im Coaching, sodass der Manager sich daran erinnert, dass er nicht nur jemand ist, der funktioniert, sondern der sich auch immer wieder zurücksetzt und spüren lernt und wahrnimmt, was für ihn authentisch ist, wo er sich als gesund erlebt. Die Krankheiten haben so immens zugenommen, zum Beispiel Tinnitus, Magenkrebs - alle Stresskrankheiten eben -, Kopf- und Herzschmerzen. Ich arbeite auch mit Führungskräften, und immer häufiger gibt es den Punkt, an dem der Manager sagt: Es muss sich etwas ändern. Ich möchte nicht nur ins Theater gehen, um mal ein bisschen unterhalten zu werden; dann kann ich doch besser vor dem Fernseher sitzen bleiben oder ins Kino gehen; ich möchte auch bewegt werden. Die erleben einen echten Notstand und sind eher bereit, dann auch mal mit Finanzspritzen zu helfen.

Kann der Reichtum der Theaterlandschaft in Deutschland verteidigt werden? Oder soll man zur Tagesordnung übergehen und sagen: Ich will das "Theater am Kurfürstendamm" zu einer Verkaufspassage machen. Das ist eine gute Immobilie. Also die Entwertung einer Stätte des Geistes zugunsten des Geldes!

Hinter der Frage steckt eine noch tiefere Frage: Inwiefern ist der Mensch seinem eigenen Verfall ausgesetzt? Oder gibt es nicht so etwas wie eine Urkraft in jedem Menschen, die zurück zur Einheit findet und die Not erkennt? Daran glaube ich, zum Beispiel an den Zuschauer. Dass ein Zuschauer, der sonst nie ins Theater geht und vielleicht einen kleinen Laden hat, dass der von einem großen Theaterabend mit einer ganz tiefen Aussage genauso berührt wird wie jemand, der hoch intellektuell das Stück schon zwanzig Mal gelesen und analysiert hat. Ich glaube, dass wir an einem Grenzpunkt sind, auch an einem Abgrund, an dem eine Wende notwendig ist, vor allem in der Achtsamkeit, im Umgang mit sich selbst und anderen. Und natürlich der Natur. Das merken viele. Und da glaube ich eben, um das Beispiel aufzugreifen, dass ein Manager, der die Chance hat, aus dem Theater eine Einkaufspassage zu machen, oder zu sagen, hier investiere ich und lasse richtig gute Leute kommen, die letztere Option wählt. Dass also immer mehr Menschen merken, wie sie dieses Loslassen brauchen, diese Inspiration, das Lachen. Wie sie andere Menschen sehen wollen, wie sie zittern und kämpfen und schwitzen und um etwas ringen. Das verleiht ein Zusammengehörigkeitsgefühl und erlöst uns aus der Trennung unseres individuellen Schicksals. Das war ja auch im alten Griechenland, schreibt Nietzsche sehr schön in der "Geburt der Tragödie", überhaupt der Grund, warum Theater entstanden ist. Da hat sich ein Chor hingestellt und eine Geschichte erzählt. Und die Menschen, die zuhörten, haben plötzlich gemerkt: Mein Problem ist ja nicht nur mein Problem. Da oben hat ja jemand dasselbe Problem: dass er verlassen worden ist und wahnsinnigen Liebesschmerz erlebt, oder dass er sterben will. Oder die Mutter ist gestorben. Oder man will die Mutter töten. Alle diese Gefühle, die tabu sind, werden im Theater geäußert. Und dadurch entsteht Katharsis: Reinigung, Verbundenheit.

Was ist der Mensch? Er ist dasselbe wie sein Gegenüber. Wir erleben alle dasselbe Drama, nur in verschiedenen Farben. Zu erleben, dass die Vorgabe von Stärke vielleicht nur eine Maske ist und dahinter etwas anderes steckt, das brauchen wir Menschen. Wir werden sonst unglücklich. Wir sind isoliert. Wir rasen in einem Kanal, in einem Schacht ins Dunkle, wenn wir nicht dieses Mitgefühl entwickeln. Und dazu ist das Theater eine wunderbare Übungsfläche. Mit anderen mitfühlen. Das, was wir im Leben mit unserer eigenen Familie häufig nicht mehr können, können wir plötzlich als Zuschauer. Wenn jemand auf der Bühne sein Schicksal durchlebt. Das ist das Ödipus-Thema: Ich bin gefangen in meinem Schicksal, und es ist vorbestimmt. Und man leidet mit. Auf einmal entsteht ein Moment der Befreiung. Es öffnet sich etwas im Bewusstsein. Man kann dem Nachbarn wieder in die Augen schauen.

Es ist eine Tendenz zu beobachten, "Luxus" abzubauen. Es gibt nur noch wenig Geld für die Kultur und die Stadttheater. Die Theater sollen am besten zu GmbHs umfunktioniert werden oder zu Privattheatern. Bist du der Meinung, dass der Staat eine Verantwortung hat, Theater nicht in die Privatisierung treiben zu lassen?

Die Frage ist: Wo können sich Augen öffnen? Ich sehe, dass da die Verantwortung beim Theater liegt. Die Augen der Politiker zu öffnen, indem man gutes Theater macht. Indem man mit wenig Mitteln tolle Sachen auf die Bühne bringt. Das bedeutet nicht, dass Nathan der Weise im Kapuzenpulli und Trainingsanzug barfuß auf einer leeren Bühne herumschreit. Natürlich muss man bestimmte Voraussetzungen haben, um gute Inszenierungen zu machen. Aber wir müssen beweisen, dass wir diese geistige Kraft in die Welt bringen können. Ich denke nicht, dass wir Politiker unter Druck setzen können, denn die denken vor allem wirtschaftlich. Wir müssen es mit Feingefühl versuchen - die Wirtschaft und die Politik verführen, sich mehr und unterstützend einzusetzen. Politiker interessieren sich meist für klassische Musik, für Oper. Da kann man entspannen, das ist bewährt. Da verleiht man auch Preise. Oder man hört sich schöne Sänger an und applaudiert dem Dirigenten. Aber im Theater müssen wir es uns selber zuschreiben, dass wir nicht nur Politiker verschreckt haben in den vergangenen zwanzig Jahren. So viel Theater ist gemacht worden, was keinen interessiert. Theater ist keine Einheit mehr, in dem man sich wie bei einem schönen Verdi, einem Bach oder einem Händel einen Moment lang gehen lassen kann. Im Theater weiß man vielleicht nicht, was einen erwartet, aber man vertraut und öffnet sich und erlebt einen Moment von Genuss. Doch wir haben auch als Kulturschaffende die Politiker verschreckt.

Das stimmt. Ich bin auch schon verschreckt worden... Das Theater wird oft missbraucht als therapeutische Couch für den Regisseur.

Ja, aber der Regisseur muss kollektiv denken, über seinen eigenen Schatten springen. Der muss auch über seine Kindheit lachen können. Der kann nicht immer seine furchtbare Kindheit auf die Bühne bringen. In tausend Facetten. Das interessiert niemanden. Theater muss Nahrung bieten. Man bezahlt und bekommt etwas. Und man geht mit diesem Päckchen nach Hause und schenkt es jemand anderem. Wer geht schon freiwillig hin und bezahlt dafür, dass er mit dem Baseballschläger eins vor die Stirn kriegt?

Ich glaube, dass der Mensch im Drama geboren wird und er sein ganzes Leben dem Drama nicht entfliehen kann. Deshalb ist es so wichtig, es mit Abstand anzuschauen, immer wieder neu, und die Theatermacher haben eine große Verantwortung, aber sie haben auch ein riesiges Privileg. Und dieses Theater muss immer auf höchstem Niveau passieren.

Eberhard Görner im Gespräch mit Wolfgang Engel

Wie lange bist du schon mit dem Theater verbunden?

Seit meiner Schulzeit. Ich habe als Kind im Schweriner Pionierhaus in Laienzirkeln Theater gespielt, das war 1954. Auf der Oberschule hatten wir humanistisch geprägte Deutschlehrer, und weil es eine Goethe-Oberschule war, haben wir schon als 18-Jährige in der Aula den "Urfaust" gespielt. Nach dem Abitur bin ich Bühnenarbeiter gewesen, am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, war dann in Schwerin Schauspiel-Eleve. Es gab damals einige Theater, die ausbilden durften. Ich habe die Ausbildung genossen und meine Prüfung in Berlin beim Zentralen Bühnennachweis der DDR gemacht. Anschließend erfolgte in Schwerin ein Festengagement als Schauspieler.

Als Folge der 68er-Bewegung in Westeuropa begannen sich auch in DDR-Theatern die Strukturen zu lockern. Man gründete winzige Spielstätten: unter der Treppe, im Keller, unterm Dach, auch, weil die Theaterleute die Nähe zum Zuschauer suchten. Es wurden Einakter gespielt, neue Texte ausprobiert, Liederabende veranstaltet. Ich habe mich irgendwann, es war 1968, gemeldet, weil es in Schwerin einen Abend im "TiK" (Theater im Kulturbund) gab, der unter dem Motto "Schauspieler inszenieren" stand. Ich habe drei Einakter des Bulgaren Nikolai Haitov inszeniert, und dann wurde ich Regieassistent. Meine ersten Inszenierungen waren von Peter Hacks, "Der Schuh" und "Die fliegende Prinzessin", es folgte Jewgeni Schwarz "Der nackte König". Und von Kroetz "Oberösterreich" als DDR-Erstaufführung. Danach bin ich als Spielleiter nach Radebeul an die Landesbühne Sachsen gegangen, anschließend war ich zwei Jahre lang Regisseur am Theater der Freundschaft in Berlin. Dann wechselte ich für weitere zwei Jahre als Dozent an die Berliner Schauspielschule, die spätere Hochschule Ernst Busch. Dort habe ich mir pädagogisches Rüstzeug geholt, und bin von Horst Schönemann nach Dresden engagiert worden, wo ich elf Jahre lang Hausregisseur war. 1991 bin ich als Spielleiter nach Frankfurt am Main gegangen. Dort habe ich gesagt: Es genügt nicht, immer nur aus der zweiten Reihe zu meckern, wie man ein Theater leiten soll. Ich habe mich beworben und hier in Leipzig den Zuschlag erhalten. Von 1995 bis 2008 war ich in Leipzig Intendant.

Du hast Theater immer als Form des politischen Dialogs mit dem Publikum verstanden. In der DDR warst du in dieser Hinsicht eine Lichtgestalt. Verlangt einem eine geschlossene Gesellschaft mehr Phantasie und Intelligenz ab als eine offene?

Ich habe gelernt, dass alles, was man am Theater macht, mit Politik zu tun hat. Selbst in Stücken, wo man meint, dass sich die Leute privat verhalten, ist das meist nur ein vorgeschobener Grund für einen politischen Vorgang. Oder umgekehrt, sie meinen, sich privat zu verhalten, und das hat politische Auswirkungen. Also eine ewige Dialektik. Die Grenzen sind fließend. Dafür sind die alten Stücke geradezu prädestiniert, weil sie in ihrer Sprache Assoziationsfelder zulassen. Das hat schon etwas mit der DDR zu tun: Das Maul war verbunden oder zugeklebt, und man hat trotzdem versucht zu sprechen. Ich habe alle Stücke, die ich gemacht habe, immer so verstanden, egal, ob der Text zweitausend Jahre alt war oder zwei Jahre. Wenn er etwas mit meinem Verständnis von Gegenwart zu tun hatte, dann habe ich das gemacht. Ich habe Stücke, bei denen ich das nicht gemerkt habe, nicht inszeniert. Dass das eine oder andere mehr oder weniger gelungen war, ist eine andere Sache. Das hat auch damit zu tun, wie ein Satz, der vor einem steht, der sich aus Buchstaben und Worten zusammensetzt, innerhalb von zehn Jahren mehrfach interpretiert werden kann. Das hat mich gereizt. Es gibt dieses berühmte Beispiel vom Deutschen Theater in Berlin, wo es drei Nathan-Aufführungen gab: 1946, 1956 und 1966. Es war jedes Mal derselbe Text, aber es waren drei völlig unterschiedliche Aufführungen.

Wir versuchten immer, in alten Stücken ein Zeitgefühl aufzunehmen und dieses zu interpretieren. Ich hatte in Dresden mit dem Intendanten Gerhard Wolfram und Horst Schönemann zwei Menschen, die mich darin bestärkt haben. Zum Beispiel wollte ich "Germania Tod in Berlin" von Heiner Müller machen, aber das war 1984 noch verboten. Also haben wir uns gesagt: Wir werden bei den Altvorderen schon Texte finden, die etwas Ähnliches sagen. Für uns waren das Hebbels "Nibelungen". Wir haben uns das Stück durch die Brille von Heiner Müller angeguckt, das hat großes Vergnügen bereitet. Die Zuschauer haben es auch so erwartet. Sie blieben auch zu DDR-Zeiten weg, wenn nicht ihre Sprache oder ihre Probleme verhandelt wurden. Also habe ich zu heutigen Bildern gegriffen, wie bei "Maria Stuart" in Dresden. Eine Szene zum Beispiel, die eigentlich nur bei Elisabeth im Kabinett spielt, nach der Begegnung der beiden Königinnen: Wir haben das Bühnenbild geteilt in eine Tribüne, die eine Öffentlichkeit hat, wie ein Fenster im Rathaus. Und dann rannten die runter von dieser Tribüne. Unten im Kabinett wurden ganz andere Dinge verhandelt, als das, was man nach außen hin transportiert hat. Dazwischen Sprechchöre des Volkes, die den Tod der Maria forderten.

Es war die vornehmste Aufgabe des DDR-Theaters, auf die Zeit zu reagieren. Die Leute hatten kaum Möglichkeiten, in den Medien Vielfalt an politischem Verhalten zu erfahren, und waren versessen darauf, das im Theater zu erleben. Ich glaube nicht, dass das ein Vorzug des Systems war, es war vielmehr das Ventil. Ich bin mir gar nicht sicher, ob nicht dem Theater diese Freiheit zugebilligt wurde. Es war ja nicht ohne Grund, dass das Dresdner Staatsschauspiel weithin anerkannt war, auch durch die Vertreter der Gesellschaft, durch den Staat. Ein Lob im "Neuen Deutschland" hat einem aber nicht geholfen, da fuhr man nicht hin. Aber wenn keine Kritik erschien, oder sie war negativ, waren die Theater voll.

Der Wechsel von Dresden nach Saarbrücken, wo du ab 1983 als Gastregisseur tätig warst, war ein Schnitt. Aus einem Refugium, das innere Spannung hatte und mit politischer Energie verbunden war, in die große Freiheit. Wie hast du politisches Theater im Westen begriffen?

Ich war ja fast 40 Jahre alt. Vorher waren wir auf einer Tournee gewesen, die von einer Agentur vermittelt worden war, die glaube ich, zur SEW (Ableger der SED in West-Berlin) gehörte. Auf dieser dreiwöchigen Tournee liefen von mir die "Stuart" und "Iphigenie". Der Oberspielleiter von Saarbrücken hatte beide Aufführungen in Ludwigshafen gesehen und mir das Angebot gemacht. Ich wollte unbedingt fahren. Wolfram hat das auch ganz stark betrieben. Und gleichzeitig habe ich gesagt: Was soll ich denn da? Ich kenne das Publikum nicht, habe eigentlich nur ein Fernsehbild von dortigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Aber unbedingt fahren. Unbedingt die Erfahrung machen. Da habe ich gedacht, ich wähle mir ein ganz deutsches Stück. Das wird ja wohl in Westdeutschland nicht anders interpretiert werden als in der DDR. Die Art von Trennung, wie sie die DDR-Ideologie betrieb, habe ich nie akzeptiert. Ich habe mir "Minna von Barnhelm" ausgesucht. Die Geschichte des preußischen Offiziers und des sächsischen Landedelfräuleins, die es wagt, bei der Besatzungsmacht vorstellig zu werden, um sich für ihren Offizier einzusetzen, das ist schon todesmutig. Sich das im Vergleich mit ähnlichen Besatzungen in Deutschland vorzustellen - das grenzt an Utopie oder an Naivität. Das ist als Geschichte sehr gut aufgegangen.

Saarbrücken war kein Problem. Ich habe dann noch zwei weitere Stücke gemacht: von Kleist "Amphitryon", also auch einen urdeutschen Stoff. Und das dritte Stück, "Die Möwe", diese Welt der Künstler, die dort verhandelt wird, war mir auch nah. Ich muss sagen, dass die erste Arbeit in Saarbrücken für mich entscheidend war. Weil ich an mir zu DDR-Zeiten feststellte: Ich muss raus. Egal wohin, in welches kalte Wasser ich auch geschmissen werde. Weil ich hier langsam das Gefühl bekam, natürlich auch durch die Erfolge in Dresden, dass ich nur noch ein reagierender Mensch bin und nicht mehr ein agierender. Das ist für Kunst tödlich. Ich habe nie emotional oder euphorisch gesagt: Ich haue ab. Das hat nie eine Rolle gespielt, weil Schönemann und Wolfram uns einen großen Freiraum boten, wir waren ja wie eine Insel der Seligen, und ihre Hände über uns hielten. Aber ob ich in der Lage bin, das Fremdsein in einer anderen Welt dazu zu nutzen, um mich erstens auf Brauchbarkeit zu untersuchen und zweitens, ob man einen eigenen Motor hat, war entscheidend. Insofern war das lehrreich, ja notwendig, wegzufahren. Danach bin ich jedes Jahr einmal weggefahren. Drei Jahre war ich in Saarbrücken, dann kam das große Gastspiel 1986. Das Dresden-Gastspiel war sozusagen Morgengabe zum Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Wir gastierten in Düsseldorf, in Köln und am Thalia-Theater in Hamburg. Und danach erhielt ich das Angebot, in München "Wie es euch gefällt" von Shakespeare und die "Sonette" zu machen. Und dann war es mit der DDR auch schon fast zu Ende.

Ich werde oft nach den Erfahrungen in Westdeutschland gefragt. Was war anders? So unterschiedlich wie Dresden und Leipzig zumindest zu Beginn der 1980er Jahren waren, so groß waren die Unterschiede zwischen Frankfurt und Bochum. Ich bin in München auf einen Schauspieler getroffen, Ulrich Matthes, und habe gedacht, den kenne ich schon seit hundert Jahren. Die Vorstellung von Theater war dieselbe, selbst wenn wir uns politisch über einzelne Themen mörderisch stritten. Ich finde, dass es eine echte Nachwende-Diskussion darüber nie gegeben hat. Zum Beispiel haben wir in Dresden darüber diskutiert, wie weit geht taktisches Verhalten, um etwas zu erreichen, und wo fängt der Opportunismus an. Du merkst es nicht, die Übergänge sind fließend. Und wo ist Schluss, an welchem Punkt? Wo man sich ohne Rücksicht auf die eigene Person wehren sollte? Mein vorsichtiger Versuch war 1989, dass ich den Nationalpreis abgelehnt und gesagt habe, von euch nehme ich nichts mehr. Gleichzeitig war es eine schwierige Geschichte, weil viele Schauspieler sagten: Dann ist das hier zu Ende. Dann nehmen sie uns auseinander. Wolfram wiederum sagte: Du musst jetzt deins machen. Und nicht zu sehr in Zusammenhängen denken, dann wird es opportunistisch. Er war so etwas wie eine Vaterfigur für mich. Dass so mit einem Altkommunisten geredet werden konnte, fand ich toll. Insofern waren die Jahre in Dresden die zehn wichtigsten meines Berufslebens.

In Dresden hat man als Zuschauer immer gedacht, heute steht einer vor der Tür. In Frankfurt war der politische Druck plötzlich weg. Gab es überhaupt noch Politik in Frankfurt am Main?

Ich habe fünf Schauspieler nach Frankfurt mitgenommen: Cornelia Schmaus, Christoph Hohmann, Justus Fritzsche, Wolfgang Gorks und Thomas Mehlhorn. Ziemlich schnell haben wir gesagt: Den Biss, den unsere Aufführungen in der DDR zwangsläufig hatten, können sie jetzt nicht haben. Aber wir verstehen unser Handwerk. Mich retteten die Mittel der Groteske, um der Gegenwart beizukommen. In Frankfurt ermöglichte mir der Intendant, das Stück eines absurden Russen zu machen, Alexander Suchovo-Kobylin, ein Adliger aus dem 19. Jahrhundert, der nur drei Stücke geschrieben hat. Eins davon heißt "Tarelkins Tod". Es spielt in einem totalen Bürokratenstaat, und du denkst, du liest Beckett. Eine Art Zuspitzung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die ich vorher so nicht kannte. Da fing ich an, mich in dem neuen System wohl zu fühlen.

Aber ich bin auch blauäugig gewesen. Ich hatte tatsächlich diese Vorstellung von großer Freiheit. In Frankfurt habe ich als erstes den "Kaufmann von Venedig" gemacht, mit Jürgen Holtz als Shylock. Und Spengler hat den Dogen gespielt. Spengler war auch an der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" beteiligt, die beim so genannten Theaterskandal in Frankfurt zehn Jahre zuvor nicht hatte stattfinden können. Aus diesem Stück habe ich dem Dogen eine Art Alptraum mit Texten aus "Müll, Stadt und Tod" in den Mund gelegt und mit niemandem darüber gesprochen außer mit den Schauspielern und dem Dramaturgen. Weil ich dachte, das ist im Westen so, da muss ich mich nicht rückversichern. Und eines nachts steht der Intendant, zehn Tage vor der Premiere, er war noch nicht auf den Proben gewesen, vor meiner Wohnungstür und bittet mich, "um Gottes Willen" die Texte aus "Müll, Stadt und Tod" zu eliminieren. Ich sage: Jetzt haben Sie ein Problem. Sie müssen das verbieten, als Intendant sind Sie mir gegenüber weisungsberechtigt. Sie können mich bitten, aber ich werde es nicht zurücknehmen. Die Verquickung beider Stücke erschien mir relevant. Der Intendant fand für sich eine weise Lösung: Er delegierte das Problem an den Verlag der Autoren. Der Verlag schrieb mir freundlich, sie möchten das Stück in seiner Gänze sehen. Aber mit Zitaten und Ausschnitten in einem fremden Stück, das könnten sie nicht gutheißen. Und haben es untersagt. Der Intendant war fein raus: Es war verboten. Da habe ich mit dem berühmten Biermann-Zitat "Vom Regen in die Jauche" argumentiert. Die Leute in Frankfurt waren elektrisiert. Ich hatte die Situation unterschätzt, das gebe ich zu. Ich wusste nicht, wie emotional das Thema dort zehn Jahre zuvor und nun wieder von der jüdischen Gemeinde und den Frankfurter Theaterleuten behandelt wurde. Im Alltag merkte ich, wie wenig ich über die Bundesrepublik wusste. Spengler hat dann übrigens, in schönster Häme, den ganzen Monolog über nur die Vokale gesprochen. Und da alle Leute um diesen Fakt wussten, war das ein gespenstischer Auftritt. Einen Satz konnten sie uns nicht streichen, weil es im Monolog dieses jüdischen Industriellen, den wir da zitiert haben, ein Zitat aus einem Grimm'schen Märchen gibt: "Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß." Das war eine typische DDR-Reaktion.

Ein Konflikt tauchte in vielen Diskussionen mit westdeutschen Theaterleuten nach der "Wende" immer wieder auf: Sie warfen uns bei Aufführungen in Dresden intellektuelle Kälte vor. Etwas reden zu können, ohne es auszusprechen, oder etwas anderes zu sagen, als man meint, war für sie ein arschkalter Vorgang. Dabei schienen sie nicht zu begreifen, dass das für uns auch ein hoch emotionaler Vorgang war. Bei uns wiederum, von unserer Seite aus das westdeutsche Theater betrachtend, habe ich es ungeheuer bewundert, dass es ganz große und reiche Persönlichkeiten gab, die es so bei uns nicht gab. Hier war das Ensemble alles. Das ist auch ein Vorzug. Aber es gab seit den 1980er Jahren in der DDR die Diskussion über das Individuum, über die Persönlichkeit. Die Kompromissformel war das "Individuum im Kollektiv". Aber es war immer noch das Kollektiv, sprich das Ensemble. Drüben war die Persönlichkeit alles. Da habe ich phantastische Schauspieler gesehen. Aber auf der anderen Seite gab es Leute, die nur mittelmäßiges Talent besaßen, was sie durchaus berechtigte, an einem Theater zu sein - die ihre Macken als Persönlichkeit ausgaben. Auf der anderen Seite habe ich Phantastisches kennengelernt. Schauspieler, die auf dem Strasberg-Institut in New York noch Lee Strasberg kennengelernt und bei ihm studiert haben. Die waren in der Lage, auf der Bühne innerhalb von Minuten einen Nervenzusammenbruch zu spielen.

Als du nach Leipzig gekommen bist, hattest du plötzlich Ost und West auf der Bühne. Und eine Politik im Rücken, die auch changierte. War da noch an politisches Theater zu denken?

Ost-West hat viel weniger eine Rolle gespielt, als man meint. Ich könnte natürlich eine Reihe von Beispielen nennen, wo es, von der Kantine angefangen bis zu Versammlungen, heftigste Beschimpfungen untereinander gegeben hat. Was das Theater selbst betrifft, viel weniger. Da ging es höchstens um gut oder schlecht. Als ich anfing, habe ich ja die Hälfte des Ensembles behalten und die andere Hälfte erneuert. Das hat etwas mit der Hierarchie eines deutschen Stadttheaters zu tun. Ich habe soviel Macht wie im Mittelalter ein Fürst. Und es liegt an mir, ob ich in der Lage bin, diese Verantwortung, die du alleine hast, weiterzugeben. Denn den Kopf hinhalten muss eigentlich nur ich, sowohl im wirtschaftlichen, als auch im künstlerischen Sinn. Das Ensemble hatte damit keine Schwierigkeiten. Das lag auch daran, dass die Leute, die aus dem Westen zu uns gekommen sind oder die hier vorgesprochen haben, Neugier hatten. Sie waren bereit, sich darauf einzulassen, an einen solch unbekannten Ort zu gehen. Gut, es hatte auch etwas mit meinem Namen zu tun. Innerhalb des Hauses war das Verhältnis zu mir anfangs sehr differenziert. Weil sie gesagt haben: So, der ist der Schlimmste. Der kennt den Osten ganz genau und er kennt den Westen. Dem können wir nichts vormachen. Trotzdem gab es mit dem Ensemble keine Schwierigkeiten.

Deine Sicht auf die Welt hast du in der DDR auf deine Weise reflektiert. Nun geht es im Kapitalismus auch nicht ohne Zwänge. Ist es leichter, mit der Macht des Geldes umzugehen?

Ich sage mal ganz simpel: Ich finde die Abhängigkeit vom Geld weniger schlimm als die Abhängigkeit von einer Ideologie. Das ist meine feste Überzeugung. Diese Art von Optimismus habe ich. Natürlich finde ich längst nicht alles gut. Aber ich denke: Es ist das beste Deutschland, das wir je hatten. Ich kann das nicht anders sehen. Zumindest frage ich - wenn ich diese Behauptung aufstelle - ganz demagogisch zurück: Nenne mir eins, wo es besser war. Da fällt einem nichts ein. Höchstens partiell eine Art von Freiheit, wie sie die ersten zwei Jahre nach der Oktoberrevolution in Russland geherrscht hat. Was da an Kunst entstanden ist, ist bis heute unübertroffen.

Was das System angeht, kann man die damaligen Praktiken, wie versucht wurde mit Ideologie umzugehen, wieder auf heutige Abhängigkeiten anwenden. Das finde ich nicht besonders schlimm. Ich habe mir nur gewünscht, es wäre anders. Ein Intendant spielt in seiner Tätigkeit viele Rollen. Wie verhältst du dich mit wichtigen Leuten? Was musst du für einen Eindruck machen, wenn du etwas von ihnen willst? Das fand ich nie ehrenrührig. Für mich ist das auch eine Art von Schauspielersatz. Damit meine ich nicht, dass ich gelogen habe. Aber es ist wie im Theater. Da muss ich auch rauskriegen, wie der Blickwinkel meines Schauspielers ist, der auf der Bühne steht. Das Entscheidende ist, dass wir in leitenden Funktionen verlernt haben, uns in den Blickwinkel dessen, der uns gegenübersitzt, zu versetzen. Der Blickwinkel eines Schauspielers auf seine Rolle ist ein völlig anderer als meiner. Und jetzt gilt es, gemeinsam herauszufinden, ob man daraus ein Theaterbild machen kann, eine gemeinsame Landschaft. Ein Intendant muss in der Lage sein, ein Ensemble zur Konfliktfähigkeit zu erziehen. Es erwächst ja niemandem etwas daraus, wenn er seine Meinung sagt. Die Abhängigkeitsverhältnisse sind heute anders. Aber natürlich gibt es Schauspieler, die Angst vorm Intendanten haben und denken: Wenn ich jetzt das Maul aufmache, kriege ich keinen neuen Vertrag.

Du hast in den dreizehn Jahren als Intendant immense administrative Arbeit geleistet. Trotzdem hast du fast jedes Jahr zwei Stücke inszeniert, manchmal sogar drei. Woher nimmst du die Kraft?

Das hängt zunächst damit zusammen, was man sich für Mitarbeiter sucht. Wir haben Wolfram oft vorgeworfen, dass er Probleme vor sich herschiebt. Aber ich glaube, dass er ein ganz toller Intendant war, weil er die Verantwortung weitergegeben hat. Aber dadurch haben wir in Dresden auch großen Verschleiß gehabt - zum Beispiel an Technischen Direktoren. Die wurden dieser Verantwortung, die ihnen vom Intendanten auferlegt worden war, einfach nicht gerecht. Zweitens gibt es eine Verquickung miteinander. Wenn die künstlerische Arbeit Spaß macht, machst du den ganzen anderen Kram mit links. Aber wehe, es knirscht bei der künstlerischen Arbeit, dann wird der Alltag, den du zu leisten hast, monströs. Und da habe ich mit meiner Referentin Christiane Wiechmann eine, die mir den Rücken frei hält. Ebenso die künstlerische Betriebsdirektorin Anna Mühlhofer: Wenn du denen nachmittags um sechs sagst, du musst da jetzt mit 'nem Blumenstrauß hin, dann holen die das kleine Schwarze aus dem Schrank, und in zehn Minuten sind die umgezogen und können dahin stiefeln.

Du hast Schauspielerei gelernt und es mehrfach bewiesen. Die "Faust"-Inszenierung war sehr eindrucksvoll. Du hast dich aber als Schauspieler zurückgehalten?

Das musst du als Intendant auch. Es kann nicht sein, dass der Intendant den Schauspielern die Rollen wegnimmt. "Faust" ist ja aus der Not geboren worden. Den wollte ich nur inszenieren. Aber ein Schauspieler war ausgestiegen; er meinte, das nicht zu schaffen. Wir hatten aber schon über ein Vierteljahr in Dresden probiert. Also schlug Wolfram vor, dass ich das mache. Das Ensemble hat es mitgetragen. Ich glaube, es ist ein Vorteil für die Arbeit eines Intendanten, weil er die Scheißängste, die du da oben hast, kennen muss. Ich erlebe sehr oft, dass hoch begabte junge Leute, die nicht wissen, wie das auf der Bühne ist, ganz große Schwierigkeiten haben, was simple Vermittlungen betrifft. Aber jetzt gibt es andere Dinge, die mich interessieren. Wir haben zum Beispiel zu ebener Erde eine Spielstätte gehabt, das "Horch und Guck", wie wir es in Anlehnung an die Bezeichnung der Staatsicherheit der DDR nannten (in der Nähe des Leipziger Schauspiels befindet sich die "Runde Ecke", die ehemalige Zentrale des MfS in Leipzig). Wo auch Schauspieler inszeniert haben. Da habe ich einmal im Jahr einen literarischen Abend gemacht. Einen Kleist-Abend, einen Heine-Abend, einen Goethe-Abend und von Stefan Heym den "König David Bericht".

Wenn du auf die dreizehn Jahre zurückschaust, wie würdest du das Verhältnis zwischen dir als Theaterchef und der Stadt sehen?

Ich denke, dass Theater bei Politikern keine Lobby mehr hat. Das ist nicht mal ein spezieller Nachteil dieser Stadt. Grundsätzlich. Ich habe in bösartigsten Stunden der Haushaltskonsolidierung gesagt: Die Stadtväter tun so, als wenn ich Besitzer eines Privattheaters bin. Aber eigentlich sind sie dabei, ihre eigenen Einrichtungen zu zerstören. Ich bin ein Angestellter der Stadt und verwalte bestenfalls eine städtische Einrichtung. Mehr nicht. Der große Vorzug der Stadt Leipzig war im 19. Jahrhundert, dass sie klein war und ein Angebot an Kultur und Kunst hatte, das in keinem Verhältnis zu ihrer Größe stand. Was hier allein an Verlagen war. Oder die vielen Mäzene, vor allem jüdische Familien. Das Bildermuseum wäre leer, wenn es diese Mäzene nicht gegeben hätte, die alles, was sie hatten, durch bürgerschaftliches Engagement in die Stadt eingebracht haben. Noch heute hat die Stadt ein Angebot, als ob wir eine Anderthalbmillionen-Stadt wären. Wir sind aber nur 500.000.

Es ist gar nicht so, dass die Künstler nicht um die prekäre Situation wissen. Aber furchtbar ist, dass die Diskussion von vielen Politikern nicht positiv geführt wird. Am besten macht sich das an der freien Szene fest. Was hier nach der "Wende" wie Pilze aus dem Boden geschossen ist - jeder in der Stadt wusste, auch die Beteiligten selbst, dass das so nicht zu halten ist. Aber das, was sich als Humus ergeben hat, habe ich in keiner anderen ostdeutschen Stadt gefunden. Und aus dieser Energie, die dort zutage trat, ein Konzept zu machen, das haben die Stadtväter nicht geschafft. Insofern ist mein Verhältnis zu ihnen schwierig. Inzwischen haben sie immerhin eingesehen, dass es mit dem Sparen nicht mehr weiter geht. Ich hoffe, dass mein Nachfolger davon profitieren kann. Ich habe von mir aus meinen Vertrag nicht verlängert. Aber ich glaube, ich bin der Stadt zuvorgekommen. Der Jugendwahn, von Olympia angefangen, auch ein bisschen Größenwahn, ist nicht unkompliziert. Als ich nach den zehn Jahren um weitere drei Jahre verlängerte, wollten sie fünf Jahre. Damals habe ich gesagt: Leute, macht das mal nicht. Ich weiß nicht wie es mir gesundheitlich gehen wird.

Wirst du Mangelerscheinungen bekommen, wenn du jetzt aufhörst?

Das Einzige, was mir Demut bereitet, ist, dass es hier ein so phantastisches Ensemble gab, das nun aufgelöst wird. Das ist ja auch die Trauerarbeit, die die Schauspieler untereinander leisten. Aber viele haben wunderbare Anschlussengagements. Wir sind nach wie vor - wenn ich nach Westeuropa, aber besonders nach Osteuropa gucke - luxuriös ausgestattet. Bei allem Gemecker, wir sind nicht unterbezahlt. Natürlich verdient ein Schauspieler in Zürich, Stuttgart oder Frankfurt am Main mehr als hier. Aber das war das Besondere, dass die trotzdem hier gearbeitet haben.

Zur Eröffnung dieses Hauses wurde "Wallenstein" aufgeführt. Hörst du deshalb mit "Wallenstein" auf?

Wir haben dieses Jahr den 50. Jahrestag der Eröffnung des Hauses in seinem jetzigen baulichen Zustand. Das wollten wir feiern und haben deshalb gesehen, was damals gemacht wurde. Wir fanden die Geschichte des ersten deutschen Warlords spannend. Sonst wird dieses Thema der Kriegsfürsten immer in den Vorderen Orient delegiert, dabei haben wir das Paradebeispiel vor der Tür. Und dazu eine unendlich deutsche Geschichte.

Geb. 1944; Filmregisseur, Dramaturg und Drehbuchautor, u. a. für "Nikolaikirche" (Regie: Frank Beyer) und "Der neunte Tag" (Regie: Volker Schlöndorff); Honorarprofessor für Bewegtbildmedien an der HTW Dresden; Leiter der E. G.-Filmproduktion. Liliencron-Haus, 16259 Bad Freienwalde.
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