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Globaler Rechtspluralismus | Weltstaatengesellschaft? | bpb.de

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Globaler Rechtspluralismus

Andreas Fischer-Lescano Lars Viellechner Lars Viellechner Andreas Fischer-Lescano /

/ 16 Minuten zu lesen

In der Weltgesellschaft überlagern sich zahlreiche Rechtsregimes. Kohärenz wird nur durch ein Rechtsverständnis zu erreichen sein, das Vorstellungen von staatlicher Souveränität, weltstaatlicher Universalität und radikaler Partikularität überwindet.

Einleitung

In den Versuchen, die Fortentwicklung des Rechts unter Bedingungen der Globalisierung zu deuten, hat das Konzept des Rechtspluralismus an Bedeutung gewonnen. Der Soziologe Niklas Luhmann mutmaßte noch, dass normative Erwartungsformen in der Weltgesellschaft an Bedeutung verlieren würden, weil diejenigen Sozialsysteme, die weltweite Kontakte ermöglichen - wie Wirtschaft, Massenmedien, Wissenschaft und Technik -, durchweg ein kognitiver Erwartungsstil kennzeichne, der im Falle einer Enttäuschung nicht aufrecht erhalten werde, sondern sich lernfähig und anpassungsbereit zeige. Ein Rechtsschwund ist derzeit aber nicht in Sicht. Allein die Struktur des Rechts scheint sich zu verändern. An die Stelle der nach innen einheitlich und hierarchisch gedachten staatlichen Rechtsordnung, die nach außen nur den Bindungen des Völkerrechts unterliegt, tritt offenbar ein unübersichtliches Nebeneinander zahlreicher Ordnungsmuster verschiedenen Zuschnitts.

Zum einen entstehen als Reaktion auf das Bedürfnis zur Regulierung globaler Sachverhalte, hinsichtlich derer die Rechtsordnungen einzelner Staaten im wörtlichen Sinne an Grenzen stoßen, neuartige "Rechtsregimes", die nicht mehr zutreffend als zwischenstaatlich beschrieben sind. Hierbei handelt es sich einerseits um supranationales Recht, das von den Staaten ins Leben gerufene internationale Organisationen mit eigener Rechtsetzungsbefugnis teilweise mit unmittelbarer Wirkung für Individuen erlassen. Paradebeispiel dafür ist das Recht der Europäischen Union (EU). Da sich derartige Einrichtungen mangels Schnelligkeit oder Konsens in der Staatengemeinschaft aber nicht zur Lösung aller Probleme schaffen lassen, bildet sich daneben andererseits ein transnationales Recht heraus, das private Akteure teilweise mit staatlicher Beteiligung durch Verträge in Geltung setzen. Zu den prominenten Beispielen zählt das Regime der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), einer privatrechtlich verfassten Institution mit Sitz in Kalifornien, die für die Regulierung der Domainnamen im Internet verantwortlich zeichnet. Diese Arrangements erlangen eine relative Autonomie von den staatlichen Rechtsordnungen dadurch, dass sie eigene Streitschlichtungsmechanismen einrichten. So macht ICANN die Unterwerfung unter das Schiedsverfahren der Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy (UDRP), das eine schnelle und kostengünstige Entscheidung von Konflikten zwischen Domainnamen und Markenrechten vorsieht, zum Bestandteil jeder Vereinbarung über die Vergabe von Domainnamen. Dadurch, dass ICANN die Entscheidungen der Schiedsgerichte durch Löschung oder Übertragung des betreffenden Domainnamens unmittelbar elektronisch vollstrecken kann, ist das Arrangement sogar ganz und gar unabhängig von den Staaten, obwohl sich Klagen vor staatlichen Gerichten nicht ausschließen lassen.

Zum anderen unterliegen aber auch die staatlichen und zwischenstaatlichen Rechtsordnungen tiefgreifenden Veränderungen. Hier vollzieht sich eine "Hybridisierung" des Rechts: Die "Internationalisierung des Verfassungsrechts" geht mit einer "Konstitutionalisierung des Völkerrechts" einher. Nationale Gerichte ziehen bei der Auslegung des nationalen Rechts zunehmend internationale Quellen heran, auch weil internationale Gerichte mitunter dieselben Fälle entscheiden. In das allgemeine Bewusstsein gerückt ist dieser Umstand vor allem durch zwei aufsehenerregende Entscheidungen des Obersten Gerichts (Supreme Court, S.Ct.) der Vereinigten Staaten von Amerika zur Verfassungswidrigkeit des Verbots bestimmter Sexualpraktiken sowie der Todesstrafe für minderjährige Straftäter, die sich ausdrücklich auf völkerrechtliche Verträge und Entscheidungen internationaler Gerichte stützten, ferner durch die Kontroverse von Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über das Spannungsverhältnis von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht im "Caroline"-Fall. Umgekehrt wird die Herausbildung verfassungsähnlicher Normen und Strukturen in internationalen Organisationen sowie im allgemeinen Völkerrecht beobachtet. Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) schon früh europäische Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt, während sich im Völkerrecht die Konzepte von ius cogens (zwingendes Recht) und Verpflichtungen erga omnes (gegen jedermann) etabliert haben, die grundlegenden Normen wie dem Folterverbot Vorrang auch gegenüber entgegenstehendem nationalen Verfassungsrecht einräumen.

Zugleich deutet sich eine "Fragmentierung" des Völkerrechts in eine Vielzahl bereichsspezifischer Regimes an, die voneinander weitgehend unabhängig sind und daher ihrer eigenen Sachlogik folgen können. Besonders nachdrücklich gezeigt hat sich diese Entwicklung etwa an der Kollision von Belangen des Freihandels und des Umweltschutzes im "Garnelen/Schildkröten"-Fall, der im Streitbeilegungsverfahren der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) zur Entscheidung stand. Insofern setzt sich die Ausformung von self-contained regimes fort, die partiell den Rückgriff auf das allgemeine Völkerrecht ausschließen wie das Diplomaten- und Konsularrecht. Unabhängig davon entdecken einige Beobachter neuerdings das Aufkeimen eines in seinen Umrissen indes noch unscharfen "globalen Verwaltungsrechts", das sich zwar in mancher Hinsicht von den Staaten lösen, aber gerade durch seinen öffentlichen Charakter auszeichnen soll.

In der Weltgesellschaft ist folglich weder eine Verdrängung noch eine Höherlegung staatlicher Rechtsordnungen, sondern eine gleichzeitige Überlagerung und Vermengung teils territorial ausgerichteter, teils funktional orientierter Rechtsregimes festzustellen. Wenn dieser Zustand als "neuer Rechtspluralismus" bezeichnet wird, kommt damit zum Ausdruck, dass das zugrunde liegende Konzept bereits älter ist. In der Rechtsgeschichte fand es Verwendung zur Kennzeichnung nebeneinander bestehender personaler Herrschaftsrechte im Mittelalter. In der Rechtsanthropologie wurde es zur Veranschaulichung gegenläufiger Rechte von Kolonialmächten und indigener Bevölkerung aufgegriffen. In beiden Fällen handelte es sich allerdings um einen "weichen" Rechtspluralismus, der unter einer übergeordneten religiösen oder politisch-staatlichen Einheit stand. Erst später übertrugen vorwiegend rechtssoziologische Ansätze das klassische Konzept des Rechtspluralismus auf das Verhältnis von "offiziellem" und "inoffiziellem" Recht in westlichen Gesellschaften und verbanden es mit der rechtspolitischen Forderung zur Aufgabe des "rechtlichen Zentralismus" im Staat. Rechtstheoretische Unternehmungen, die sich ausdrücklich als "postmodern" oder "nachpositivistisch" titulierten, teilten dieses Anliegen aus ganz anderem Antrieb. Während ihre Anstrengungen noch mit guten Gründen zurückgewiesen werden mochten, ist der neue Rechtspluralismus auf globaler Ebene nun jedoch durch tatsächliche Veränderungen heraufbeschworen worden. Unter diesen Umständen lässt sich die Suche nach einem normativen Konzept des Rechtspluralismus, das Antworten auf die Fragen von Legalität, Legitimität und Interlegalität der verschiedenen Normen findet, nicht mehr vermeiden.

Legalität

Zunächst stellt sich die Frage, ob es sich bei den beschriebenen Normen nichtstaatlicher Herkunft überhaupt um Recht handelt. Erstaunlicherweise wird diese Frage bezüglich des Sekundärrechts supranationaler Organisationen selten gestellt, obwohl zuvor der Rechtscharakter des Völkerrechts angesichts der Identität von Rechtsetzern und Rechtsunterworfenen sowie des Fehlens effektiver Rechtsdurchsetzungsmechanismen lange bestritten wurde. Hier ist der Ableitungszusammenhang mit der staatlichen Rechtsordnung offenbar noch handgreiflich genug. Umso nachdrücklicher werden demgegenüber Zweifel an der Denkbarkeit eines transnationalen Rechts artikuliert. Man könnte die Beantwortung der Frage gleichwohl für entbehrlich halten, da selbst eine Negation die soziale Bedeutung der beschriebenen Phänomene nicht schmälern würde. Indes besteht neben dem theoretischen Interesse am Schicksal des Rechts unter Bedingungen der Globalisierung auch ein praktisches Bedürfnis nach Regeln für die gegenseitige Anerkennung und Abstimmung der verschiedenen Regimes. Wie das internationale Privatrecht zeigt, können solche Kollisionsregeln nach dem rechtlichen Status der in Betracht kommenden Sachnormen unterscheiden.

Freilich besteht über die Frage nach dem Begriff des Rechts seit jeher Uneinigkeit. Eine eindeutige Antwort lässt sich selbst dann nicht finden, wenn man soziologische Ansichten vernachlässigt und mit einer an der Rechtspraxis orientierten Rechtstheorie allein darauf abstellt, welches Recht ein Richter, der hier und jetzt über einen konkreten Fall zu entscheiden hat, anwenden sollte. Denn jedem Richter stehen zumindest zwei Möglichkeiten offen: Er kann entweder die partikularistische Sicht seiner eigenen Rechtsordnung oder eine universalistische Perspektive einnehmen. Dabei schließen partikularistische Sichtweisen zwar universalistische Bestrebungen nicht aus, vermögen aber universale Geltung nicht zu garantieren. Aus der partikularistischen Perspektive einer staatlichen Rechtsordnung etwa mögen transnationale Verträge nicht als Rechtsquelle anzusehen sein. Staatliche Gerichte können es daher ablehnen, Streitigkeiten zwischen Domainnamen- und Markenrechtinhabern nach den Regeln der UDRP zu entscheiden. Es lässt sich aber nicht verhindern, dass sich aus einer anderen partikularistischen Perspektive Gegenteiliges ergibt. So ist nach Paragraf 15 Buchstabe a UDRP-Regeln ein zur Streitentscheidung berufenes Schiedsgericht zur Anwendung der UDRP verpflichtet, wenngleich es ergänzend weitere Regeln und Prinzipien heranziehen darf, die es für anwendbar hält.

Aus rechtstheoretischer Perspektive lässt sich die Geltung transnational paktierten Rechts jedenfalls plausibel begründen. Erkennt man ein Rechtssystem in der Vereinigung von "primären Regeln" der Verpflichtung und "sekundären Regeln" der Ermächtigung zur Hervorbringung, Änderung und Anwendung von Primärregeln, dann lässt sich ohne weiteres die Rechtsqualität des ICANN-Regimes annehmen. In Paragraf 15 Buchstabe a UDRP-Regeln findet sich die gesuchte Sekundärregel, die auf die anzuwendenden Primärregeln der UDRP verweist. Zum gleichen Ergebnis gelangt, wer Recht nach seiner Funktion - der kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen im Code von Recht und Unrecht - bestimmt. Transnationale Verträge können die Befolgung des Vereinbarten dadurch absichern, dass sie das erwartete Verhalten schriftlich festhalten und die Streitentscheidung an neutrale Dritte auslagern. Diesen Anforderungen genügen auch die Verträge über die Vergabe von Domainnamen, indem sie formularmäßig die UDRP einbeziehen. Zugleich zeigt sich, dass die Positivität des Rechts in der Weltgesellschaft nicht aufgehoben ist.

Man mag einwenden, dass nicht der Vertrag, sondern das Gesetz an den Vertrag bindet. Doch muss man sich dann die Frage gefallen lassen, warum eigentlich das Gesetz bindet. Der Verweis auf die Verfassung führt nur zu der weiteren Frage nach der Geltungsbegründung der Verfassung. "Darauf antworten dann nur noch feierliche Erklärungen." Unter Bedingungen der Globalisierung wird besonders deutlich, dass sich Rechtsgeltung nur paradox begründen lässt. Es erscheint daher naheliegend, auch aus der Perspektive des staatlichen Rechts die "Parallelisierung und Vernetzung von gesetzlicher und vertraglicher Geltungsproduktion" anzuerkennen. Einstweilen mag man sich hier zwar noch mit der Anerkennung des transnationalen Vertragsrechts als Produkt delegierter Rechtsetzung im Rahmen von staatlich gewährter Privatautonomie behelfen können. Damit ist aber die Unterwerfung unter zwingende Regeln eines partikularen Privatrechts verbunden, die weder der globalen Bedeutung noch der öffentlichen Dimension transnationaler Rechtsregimes gerecht werden. Eine ähnliche Problematik entsteht dann, wenn nationale Verfassungsgerichte die Grenzen des supranationalen Rechts vermittels des Zustimmungsgesetzes am partikulären Maßstab einer nationalen Verfassung bestimmen wollen - wie kürzlich etwa das BVerfG im "Lissabon"-Urteil.

Legitimität

In der Unterwerfung unter das staatliche Recht liegt auch ein Versuch, eine Antwort auf das zweite normative Anliegen, die Gewährleistung der Legitimität des globalen Rechts, zu finden. Da die neuartigen Rechtsregimes angesichts ihrer relativen Autonomie dem Zugriff staatlicher Gerichte zuweilen entkommen, besteht eine weitere Strategie darin, die bislang erfolgreichste Lösung zur Legitimation positiven Rechts, das aus den bürgerlichen Revolutionen gegen Ende des 18. Jahrhunderts hervorgegangene Konzept der Verfassung, in den globalen Kontext zu übertragen. Im Nationalstaat vermittelt die Verfassung Legitimität gerade durch Legalität. Selbst als höherrangiges Recht positiviert, unterwirft sie den Rechtsetzungsprozess nicht nur einem demokratischen Verfahren, das Beteiligung oder zumindest Repräsentanz aller Betroffenen garantiert, sondern macht ihm auch materielle Vorgaben, freilich allein negativer Art in Gestalt von Grundrechten. Die Konsensfähigkeit des Modells erklärt sich zumal daraus, dass die Richtigkeitsfrage auf diese Weise offen bleibt.

Im globalen Kontext hat sich unter der Formel der Konstitutionalisierung bislang jedoch vornehmlich ein deskriptives Verfassungsverständnis verbreitet, das sich auf die allmähliche Herausbildung einzelner Verfassungselemente, insbesondere vorrangiger Grundrechte, in einzelnen Regimes bezieht. Es lässt sich beobachten, dass mittlerweile sogar einige UDRP-Schiedsgerichte, namentlich in sogenannten "BrandnameSucks.com"-Fällen, in denen sich politische Aktivisten die Marken bekannter Unternehmen verbunden mit kritischen Zusätzen als Domainnamen eintragen lassen, das Recht der Meinungsfreiheit zwischen Privaten in Anschlag bringen. Insofern ist bereits die Rede von "globalen Zivilverfassungen", die sich, dem englischen common law nicht unähnlich, "in untergründigen evolutionären Prozessen von langer Dauer" herausbildeten.

Normativ betrachtet, lässt diese Entwicklung vielen aber noch zu wünschen übrig. Ihnen erscheint vor allem das demokratische Verfassungselement jenseits des Staates unterentwickelt. Die Klagen über das Demokratiedefizit der EU und anderer internationaler Organisationen sind mittlerweile Legion. Bei dieser Betrachtung bleibt häufig unberücksichtigt, dass eine identische Reproduktion staatlicher Demokratiemodelle im globalen Kontext weder möglich noch nötig ist. Die Besonderheiten supranationaler Rechtsetzungsprozesse verlangen jedenfalls nach einer Anpassung hergebrachter Demokratievorstellungen. In den transnationalen Arrangements, die zwar teilweise öffentliche Belange berühren, Recht aber häufig ohne staatliche Beteiligung im Vertragswege in Geltung setzen, scheint es gar einer grundlegenden Neuformulierung des Verhältnisses von Demokratie und Grundrechten zu bedürfen.

Weitgehend Einigkeit herrscht inzwischen zumindest darüber, dass die Errichtung eines demokratischen Weltstaats ebenso unrealistisch ist wie die Abschottung nationaler Demokratie unter dem Schutzmantel staatlicher Souveränität. Tatsächlich können selbst die mächtigsten Staaten globale Regulierungsprobleme heute nicht mehr einseitig lösen. Davon abgesehen wäre nationale Gesetzgebung mit extraterritorialen Effekten besonders undemokratisch, da sie ausländische Betroffene überhaupt nicht beteiligt. Alles deutet folglich darauf hin, dass die Legitimität des globalen Rechts nur im Zusammenwirken seiner verschiedenen Bestandteile generiert werden kann.

Interlegalität

Dies führt zum dritten Aspekt globaler Normativität: dem Verhältnis der verschiedenen Rechtsordnungen und Rechtsregimes zueinander. Der Rechtspluralismus mündet in einen Zustand der "Interlegalität", in dem "parallele Normsysteme unterschiedlicher Herkunft sich wechselseitig anregen, gegenseitig verbinden, ineinander greifen und durchdringen, ohne zu einheitlichen Super-Ordnungen zu verschmelzen, die ihre Teile absorbieren, sondern in ihrem Nebeneinander als heterarchische Gebilde dauerhaft bestehen". Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob und wie im globalen Rechtssystem überhaupt noch normative Kompatibilität erreicht werden kann.

Eine strukturanaloge Frage hatte sich bereits früher für das Verhältnis von innerstaatlichem Recht und Völkerrecht gestellt. Hier standen sich zunächst zwei Lager unverrückbar gegenüber. Der Dualismus ging von zwei eigenständigen und unabhängigen Rechtsordnungen aus, die nach Quellen und Regelungsgegenständen klar voneinander getrennt seien. Der Monismus nahm demgegenüber eine einheitliche Rechtsordnung an, entweder mit Primat des staatlichen Rechts oder mit Primat des Völkerrechts. Heute werden alle Auffassungen aber nur noch in gemäßigten Formen vertreten. Sie gestehen gleichermaßen zu, dass Völkerrecht und staatliches Recht in Konflikt treten können, wobei das Völkerrecht zwar von jedem Staat einzuhalten, entgegenstehendes staatliches Recht aber nicht automatisch nichtig sei. Damit werden die Varianten austauschbar. Das Rechtssystem leidet in der Folge aber unter der unaufgelösten Spannung zwischen Geltung und Anwendbarkeit des Rechts: Während die gleichzeitige Geltung von Völkerrecht und staatlichem Recht allseits vorausgesetzt wird, kann deren Anwendbarkeit in den unterschiedlichen Rechtsordnungen jeweils von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht werden. In Anbetracht der Vielzahl staatlicher Rechtsordnungen entpuppen sich daher auch die gemäßigten Varianten von Monismus und Dualismus als pluralistische Auffassungen.

Der Pluralismus ist freilich eine Meta-Perspektive, denn Normenkonflikte können in Ermangelung einer übergeordneten Rechtsordnung immer nur aus der Sicht einer der beteiligten Rechtsordnungen gelöst werden. Auf dieser Prämisse baut auch das internationale Privatrecht auf, bei dem es sich entgegen seiner irreführenden Bezeichnung um staatliches Recht handelt, das andere staatliche Rechtsordnungen zwar als geltend anerkennt, aber selbst bestimmt, ob sie auf einen Sachverhalt mit Auslandsbezug anzuwenden sind. Es bietet sich daher der Versuch an, die Rechtskollisionen in der Weltgesellschaft vermittels eines neuartigen "Kollisionsrechts" nach diesem Vorbild zu bewältigen. Der kollisionsrechtliche Verweis auf eine andere partikulare Rechtsordnung erschiene dann aber ebenso wenig sachgerecht wie die alleinige Heranziehung der eigenen Rechtsordnung. Vielmehr müssten die verschiedenen Rechtsordnungen die Belange der anderen Rechtsordnungen jeweils intern reflektieren. Die Lösung bestünde dann in der Bildung eines substanziellen Rechts, das Elemente aus allen beteiligten Rechtsordnungen in sich aufnimmt. Auf diese Weise könnte sich in den staatlichen Rechtsordnungen etwa auch ein den Veränderungen angepasstes Verständnis der Horizontalwirkung von Grundrechten entwickeln, das im Fall von Klagen vor nationalen Gerichten einen Schutz gegenüber transnationalen Rechtsregimes gewährleistet. Damit wäre gewissermaßen deren externe Konstitutionalisierung erreicht.

Eine bedeutende Rolle kommt unter diesen Umständen den Gerichten zu, die Niklas Luhmann auf Grund ihres rechtlichen Entscheidungszwangs seit jeher im Zentrum des Rechtssystems sah. Tatsächlich stellen Beobachter fest, dass sich mittlerweile ein "Netzwerk von Gerichten" formiert habe, das sich einer globalen Herrschaft des Rechts verpflichtet fühle und informale Beziehungen über gegenseitige Beobachtung und persönlichen Austausch pflege. Bereits früher wurde von einer "Funktionsverdoppelung" staatlicher Gerichte gesprochen, die zugleich als Organe der internationalen Gemeinschaft tätig würden, um die Durchsetzungsschwierigkeiten des Völkerrechts zu überwinden.

Aus der faktischen Zusammenarbeit sind inzwischen sogar einige rechtliche Prinzipien über die Interaktion verschiedener Rechtsordnungen geronnen. Dazu gehören zum einen Subsidiaritätsprinzipien, die in "Solange"-Formeln verschiedenen Zuschnitts zum Ausdruck kommen. Das BVerfG zum Beispiel übt seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von europäischem Sekundärrecht nicht mehr aus, solange die EU generell einen Grundrechtsschutz gewährleistet, der demjenigen des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten ist. Dieses Motiv hat auch Eingang in die "Bosphorus"-Entscheidung des EGMR zur Kontrolle von Unionsrecht am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention gefunden. Der EuGH hat sich in seiner "Kadi"-Entscheidung zwar einem ähnlichen Kooperationsverhältnis gegenüber den Vereinten Nationen (VN) verweigert, indem er eine Verordnung zur Umsetzung einer Resolution des Sicherheitsrats, die Individualsanktionen gegen mutmaßliche Terroristen vorsah, wegen Unvereinbarkeit mit europäischen Grundrechten für nichtig erklärte. Dieser Ansatz mag aber der Tatsache geschuldet sein, dass die VN einen vergleichbaren gerichtlichen Rechtsschutz bislang nicht bieten. Unabhängig davon haben sich zum anderen Rechtspflichten zur gegenseitigen Berücksichtigung gerichtlicher Entscheidungen etabliert. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den Internationalen Warenkauf (United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods, CISG) etwa bestimmt in Artikel 7 Absatz 1, dass bei seiner Auslegung sein internationaler Charakter und die Notwendigkeit seiner einheitlichen Anwendung zu berücksichtigen sind. Während im Übrigen einige Gerichte die Rechtsprechung anderer Spruchkörper lediglich ergänzend heranziehen, um ihre eigene Argumentation zu stützen, hat das BVerfG aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine verfassungsrechtliche Pflicht staatlicher Gerichte abgeleitet, die Entscheidungen internationaler Gerichte derart zu berücksichtigen, dass sie sich erkennbar mit ihnen auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie ihnen nicht folgen. Insofern erzwingt der Prozess der Globalisierung zwar einen Einbau kognitiver Mechanismen in das Recht, bewirkt aber nicht dessen Rückentwicklung.

Ein normatives Konzept des Rechtspluralismus in diesem Sinne eröffnet einen neuen Weg, um nicht nur die überkommene dualistische Vorstellung staatlicher Souveränität und die unerreichbare monistische Vision weltstaatlicher Universalität zu überwinden, sondern auch die postmoderne Zumutung radikaler Partikularität zu vermeiden. Zwar mag ein derartiger Kompromiss niemanden wirklich zufrieden stellen. Ein aussichtsreicheres Modell für das Recht der Weltgesellschaft ist derzeit aber nicht in Sicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 57 (1971), S. 1-35.

  2. Andreas-Fischer Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Frankfurt/M. 2006, S. 36.

  3. Vgl. Hans Peter Ipsen, Über Supranationalität, in: Horst Ehmke et al. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 211-225.

  4. Vgl. Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, in: Rechtshistorisches Journal, 15 (1996), S. 255-290.

  5. Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, in: Der Staat, 42 (2003), S. 61-75.

  6. Vgl. S.Ct., Entscheidung vom 26.6.2003, in: United States Reports, 539 (2003), S. 558-606; Entscheidung vom 1.3.2005, in: United States Reports, 543 (2005), S. 551-630.

  7. Vgl. BVerfG, Urteil vom 15.12.1999, in: Entscheidungssammlung 101, S. 361-396; Beschluss vom 26.2.2008, in: Entscheidungssammlung 120, S. 180-223; EGMR, Urteil vom 24.6.2004, in: Neue Juristische Wochenschrift, 57 (2004), S. 2647-2652.

  8. Vgl. EuGH, Urteil vom 17.12.1970, in: Rechtsprechungssammlung 1970, S. 1161-1194.

  9. Vgl. International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY), Urteil vom 10.12.1998, in: International Legal Materials, 38 (1999), S. 317-393.

  10. Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation of International Law?, in: Leiden Journal of International Law, 15 (2002), S. 553-579.

  11. Vgl. WTO, Appellate Body Report vom 12.10.1998, in: International Legal Materials, 38 (1999), S. 118-175.

  12. Vgl. Bruno Simma, Self-Contained Regimes, in: Netherlands Yearbook of International Law, 16 (1985), S. 111-136.

  13. Benedict Kingsbury/Nico Krisch/Richard B. Stewart, The Emergence of Global Administrative Law, in: Law and Contemporary Problems, 68 (2005), S. 15-61.

  14. Paul Schiff Berman, The New Legal Pluralism, in: Annual Review of Law and Social Science, 5 (2009), S. 225-242.

  15. Vgl. Harold J. Berman, Recht und Revolution, Frankfurt/M. 1991, S. 468-472.

  16. Vgl. Leopold Pospíil, Anthropologie des Rechts, München 1982, S. 137-171.

  17. John Griffiths, What is Legal Pluralism?, in: Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law, 24 (1986), S. 1-55, hier: S. 3.

  18. Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, Berlin 19952.

  19. Alexander Somek/Nikolaus Forgo, Nachpositivistisches Rechtsdenken, Wien 1996.

  20. Vgl. Boris Schinkels, Die (Un-)Zulässigkeit einer kollisionsrechtlichen Wahl der UNIDROIT Principles nach Rom I, in: Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht, 4 (2007), S. 106-111.

  21. Herbert L.A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt/M. 1973, S. 115-141.

  22. Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 124-164.

  23. Vgl. Gralf-Peter Calliess/Moritz Renner, Between Law and Social Norms, in: Ratio Juris, 22 (2009), S. 260-280.

  24. Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 19738, S. 240.

  25. Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal, 9 (1990), S. 176-220, hier: S. 184.

  26. N. Luhmann (Anm. 22), S. 324.

  27. Vgl. Ralf Michaels, The Re-state-ment of Non-State Law, in: Wayne Law Review, 51 (2005), S. 1209-1259.

  28. Vgl. Moritz Renner, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechtsregimes, in: Kritische Justiz, 43 (2010), S. 62-69.

  29. Vgl. BVerfG, Urteil vom 30.6.2009, in: Entscheidungssammlung 123, S. 267-437.

  30. Vgl. Dieter Grimm, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/M. 20023, S. 101-155.

  31. Vgl. World Intellect Property Organization (WIPO), Arbitration and Mediation Center, Administrative Panel Decision vom 6.7.2000, online: www.wipo.int/amc/en/domains/decisions/
    html/2000/d2000-0190.html (1.7.2010).

  32. Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 63 (2003), S. 1-28, hier: S. 15.

  33. Einige Versuche bei James Bohman, Democracy across Borders, Cambridge 2007; Gráinne de Búrca, Developing Democracy Beyond the State, in: Columbia Journal of Transnational Law, 46 (2008), S. 221-278; Andreas Niederberger, Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft?, Berlin 2009.

  34. Vgl. Lars Viellechner, Können Netzwerke die Demokratie ersetzen?, in: Sigrid Boysen et al. (Hrsg.), Netzwerke, Baden-Baden 2007, S. 36-57.

  35. Pointierte Gegenauffassungen in den USA bei Jed Rubenfeld, Unilateralism and Constitutionalism, in: New York University Law Review, 79 (2004), S. 1971-2028; Jeremy A. Rabkin, Law Without Nations?, Princeton 2005.

  36. Boaventura de Sousa Santos, Toward a New Legal Common Sense, London 20022, S. 437.

  37. Marc Amstutz, Zwischenwelten, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, S. 213-237, hier: S. 213.

  38. Für den gemäßigten Monismus Hans Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 19 (1958), S. 234-248.

  39. Christian Joerges, Kollisionsrecht als verfassungsrechtliche Form, in: Nicole Deitelhoff/Jens Steffek (Hrsg.), Was bleibt vom Staat?, Frankfurt/M. 2009, S. 309-331; Gunther Teubner, Altera Pars Audiatur: Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie-Beiheft, 65 (1996), S. 199-220.

  40. Vgl. Karl-Heinz Ladeur/Lars Viellechner, Die transnationale Expansion staatlicher Grundrechte, in: Archiv des Völkerrechts, 48 (2008), S. 42-73.

  41. Vgl. Niklas Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, in: Rechtstheorie, 21 (1990), S. 459-473.

  42. Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, in: Harvard International Law Journal, 44 (2003), S. 191-219.

  43. Georges Scelle, Le phénomène juridique du dédoublement fonctionnel, in: Walter Schätzel/Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Rechtsfragen der internationalen Organisation, Frankfurt/M. 1956, S. 324-342.

  44. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986, in: Entscheidungssammlung 73, S. 339-388.

  45. Vgl. EGMR, Urteil vom 30.6.2005, in: Neue Juristische Wochenschrift, 59 (2006), S. 197-204.

  46. Vgl. EuGH, Urteil vom 3.9.2008, in: Rechtsprechungssammlung 2008, S. I-6351-6512.

  47. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, in: Entscheidungssammlung 111, S. 307-332; Beschluss vom 19.9.2006, in: Neue Juristische Wochenschrift, 60 (2007), S. 499-504.

Dr. jur., LL.M. (EUI), geb. 1972; Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht; Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Europäische Rechtspolitik; Projektleiter am Sonderforschungsbereich "Staatlichkeit im Wandel", Universität Bremen, Universitätsallee GW 1, 28359 Bremen. E-Mail Link: voelkerrecht@zerp.uni-bremen.de

Ass. jur., LL.M. (Yale), geb. 1976; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Rechtspolitik und am Sonderforschungsbereich "Staatlichkeit im Wandel" (s.o.). E-Mail Link: lars.viellechner@uni-bremen.de