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Digitale Bildung als Dystopie | Erziehung | bpb.de

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Digitale Bildung als Dystopie Pädagogischer Rückzug im Spannungsfeld von Erziehung und Politik

Jana Heinz

/ 14 Minuten zu lesen

In öffentlichen Debatten wird die Digitalisierung im Bildungsbereich häufig als Dystopie dargestellt. Doch durch die pauschale Problematisierung digitaler Technologien vollzieht sich ein Rückzug aus dem pädagogischen Verantwortungsraum.

Erziehung ist weder neutral noch individuell. Sie reflektiert stets gesellschaftliche Normen, zugrunde liegende Menschenbilder und politische Aushandlungen. Gerade die öffentliche und akademische Debatte um digitale Bildung verdeutlicht, wie umkämpft das Feld der „richtigen“ Erziehung ist. In diesen Debatten erscheint Digitalisierung im Bildungsbereich oft als Dystopie. Plattformdominanz, Überwachung, Kontrollverlust und algorithmische Diskriminierung prägen den Diskurs. Die darin geäußerte Kritik verweist zwar auf reale Gefahren, entfaltet aber gleichzeitig eine entpolitisierende Wirkung. Denn sie entlastet die Akteur:innen in Bildungseinrichtungen und Politik, die sich nicht mehr in der Lage sehen, die Bedingungen von Erziehung in digitalen Gesellschaften zu gestalten.

Welche normativen und politischen Vorstellungen stehen hinter dieser Kritik? Mit Bezug auf Hannah Arendt („Die Krise in der Erziehung“, 1958) und den US-amerikanischen Soziologen C. Wright Mills („The Sociological Imagination“, 1959) wird im Folgenden argumentiert, dass sich in der pauschalen Problematisierung digitaler Technologien ein Rückzug aus dem pädagogischen Verantwortungsraum vollzieht. Diese Haltung verweist auf ein spezifisches Erziehungsverständnis, das von einer romantisierten Vorstellung analoger Bildung, einem impliziten Technikpessimismus sowie Überforderung infolge unzureichender politischer Regulierung geprägt ist.

Anhand ausgewählter empirischer Projekte wird untersucht, wie digitale Bildung gestaltet werden kann, ohne in techniknaive Begeisterung oder in kulturpessimistischen Rückzug zu verfallen: Welche gesellschaftlichen Ursachen und politischen Folgen hat die Verweigerung digitaler Bildung und Erziehung? Welche Menschenbilder, Erziehungsnormen und politischen Rahmungen liegen diesem Rückzug zugrunde? Wie verändern sich erzieherische Leitbilder in digitalen Gesellschaften?

Zur Funktion von Dystopien

Dystopische Visionen digitaler Gesellschaften prognostizieren für die junge Generation den Verlust sozialer Beziehungen, wachsende Einsamkeit, psychische und körperliche Deformierungen sowie die Gefahr, in eine Welt voller Gewalt, Pornografie und Manipulation abzurutschen – also letztlich Unmündigkeit, Entpolitisierung und Passivität.

Dabei wäre es wichtig, sich nicht von diesen Extremen leiten zu lassen, sondern die Effekte der digitalen Transformation auf Bildung differenziert zu betrachten. Empirische Befunde zeigen ein komplexes Bild: Digitale Lesepraxis etwa kann Verstehen und Motivation fördern, gleichzeitig aber auch Ablenkung und Oberflächlichkeit begünstigen. Ebenso ist die sogenannte digitale Kluft weniger eine Frage des Zugangs zu Geräten als vielmehr der Qualität der Nutzung und der Fähigkeit, digitale Medien für die eigenen Bildungsziele einzusetzen. Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten sind hier – wie schon im Analogen – besonders benachteiligt. Nicht, weil ihnen die Technik fehlt, sondern weil sie den tatsächlichen Nutzen digitaler Tools und sozialer Netzwerke seltener ausschöpfen.

Gerade diese Komplexität wird durch dystopische Erzählungen verdeckt. Indem Dystopien gesellschaftliche und technische Zusammenhänge zu apokalyptischen Szenarien verdichten, verhindern sie differenzierte Analysen und damit pädagogische Handlungsspielräume. Dabei wird häufig verkannt, dass Bildung in digitalen Gesellschaften per se bereits digitale Bildung ist. Als Teil sozialer und kultureller Sozialisation prägt Bildung in digitalen Gesellschaften das Selbst- und Weltverhältnis von Kindern durch analoge Beziehungen genauso wie durch die Auseinandersetzung mit digitalen Artefakten, Netzwerken und medialen Praktiken. Digitale Bildung ist somit kein pädagogisches Zusatzangebot, sondern Ausdruck einer veränderten gesellschaftlichen Realität.

Die im Digitalen entstehenden neuen Formen der Wissensproduktion und des Zugangs zu Wissen konkurrieren insbesondere mit schulischer Wissensvermittlung. Bildungsinstitutionen sind deshalb herausgefordert, die digitalen Bedingungen des Aufwachsens kritisch zu reflektieren und aktiv zu gestalten. Gerade deshalb ist es entscheidend, sich nicht von dystopischen Erzählungen lähmen zu lassen, sondern pädagogische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Warum aber bleibt die Wahrnehmung digitaler Bildung als Dystopie so wirkmächtig? Was genau leisten Dystopien?

Dystopien strukturieren gesellschaftliche Wahrnehmungen digitaler Technologien, indem sie komplexe Entwicklungen zu narrativen Szenarien verdichten, die Machtasymmetrien, Überwachung und algorithmische Steuerung sichtbar machen. Durch Verfremdungseffekte legen sie Strukturen der Gegenwart offen und eröffnen Räume für Kritik. Sie mobilisieren Affekte wie Angst und Empörung und erzeugen so Aufmerksamkeit für Risiken, die sonst unsichtbar blieben. Damit fungieren sie als Medium soziologischer Imagination. Sie verdeutlichen, wie individuell erlebte Erfahrungen mit strukturellen Machtverhältnissen verwoben sind.

Diese Funktionen sind ambivalent. Viele zeitgenössische Dystopien entlarven autoritäre Tendenzen und soziale Ungleichheit, riskieren aber zugleich, durch ihre Totalität politische Handlungsfähigkeit zu delegitimieren. Denn was als totaler Kontrollverlust erscheint, lässt sich nicht mehr gestalten, sondern nur noch beklagen. Gestaltung wird dann ins Private verlagert und mündet nicht selten in Kontroll- und Reinheitsforderungen, in deren Umsetzung Eltern versuchen, ihre Kinder vor digitalen Technologien zu schützen. Diese Bewahrmotive verweisen auf ein Bedürfnis nach Sicherheit und moralischer Ordnung in einer als überkomplex empfundenen Welt. Sie sind Ausdruck einer Pädagogik der Abgrenzung, die nicht auf Gestaltung, sondern auf Abschirmung setzt und damit letztlich die politische Dimension von Erziehung unterläuft.

Warnungen vor Datenmissbrauch, Überwachung und algorithmischer Diskriminierung bleiben wichtig, solange sie nicht in eine Pädagogik der Angst kippen. Problematisch wird die Fokussierung auf apokalyptische Bilder dann, wenn sie den Blick auf mögliche Interventionen verstellt. Die Herausforderung besteht demnach darin, Dystopien nicht als End-, sondern als Ausgangspunkt pädagogischer und politischer Reflexion zu nutzen. Statt digitale Bildung als Verteidigungsaufgabe gegen unkontrollierbare Systeme zu konzipieren, braucht es eine kritische Analyse der Risiken und deren Verknüpfung mit konkreten Handlungsorientierungen für die pädagogische Praxis, Bildungsinstitutionen und eine politische Rahmensetzung.

Erziehung zwischen gesellschaftlichem Wandel und Verantwortung

Auch wenn die Herausforderungen infolge gesellschaftlicher Transformationen überwältigend erscheinen, bringen uns bloße Kritik und die romantische Sehnsucht nach einer analogen Welt nicht weiter. Hannah Arendt beschrieb in ihrem Essay „The Crisis in Education“ bereits in den 1950er Jahren eine ähnliche Dynamik. Im Nachhall der Erfahrung totalitärer Instrumentalisierung und Pervertierung von Bildung während des Nationalsozialismus beobachtete und kritisierte sie eine tiefgreifende Erosion von Autorität. Diese diagnostizierte sie nicht nur im politischen, sondern auch im pädagogischen Raum. Erziehung, so Arendt, sei eine Vermittlungsleistung zwischen Vergangenheit und Zukunft, getragen von der Verantwortung der Erwachsenen, Kinder in eine bestehende, aber veränderbare Welt einzuführen, die durch verweigernde Haltungen unterlaufen wird. Ihr Befund ist bis heute bemerkenswert aktuell: „Deutlicher auf der anderen Seite konnten moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen in dem Bestehenden gar nicht kundgeben als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen. Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können. Wir waschen unsere Hände in Unschuld.“

Arendt deutet diesen Rückzug aus der Verantwortung als Symptom gesellschaftlicher Resignation. Übertragen auf die Gegenwart zeigt sich eine vergleichbare Tendenz. Die Flucht in dystopische Narrative oder die nostalgische Idee „analoger Bildungsinseln“ in einer digitalen Gesellschaft markieren nicht Widerstand, sondern die Verweigerung pädagogischer Verantwortung.

C. Wright Mills’ Konzept der „Sociological Imagination“ ergänzt Arendts Perspektive um eine gesellschaftsdiagnostische Dimension. Individuelle Überforderung, so Mills, ist selten rein persönlich, sondern vielmehr ein Indikator struktureller Probleme. Wenn heute Lehrkräfte und Eltern ihre Erschöpfung angesichts digitaler Transformation artikulieren, verweist dies auf Defizite in Infrastruktur, Ressourcenausstattung und politischer Regulierung. Public issues werden demnach fälschlicherweise als private troubles individualisiert. Damit liefert Mills einen entscheidenden Anschluss an Arendt. Beide betonen die Notwendigkeit, Verantwortung nicht zu privatisieren, sondern als gemeinsame politische und pädagogische Aufgabe zu begreifen.

Gestaltung digitaler Bildung

Wie sieht schulische Praxis aus, wenn digitale Bildung nicht als technisches Add-on verstanden oder gar als (Schritt in Richtung einer) Dystopie abgelehnt, sondern als pädagogische und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe begriffen wird? Drei Projekte – jeweils unvollkommen, aber exemplarisch dargestellt – geben Einblick in die damit verbundenen Spannungsfelder.

Digitale Chancengerechtigkeit: Lesen in der digitalen Gesellschaft

Im Projekt „Digitale Chancengerechtigkeit“ haben wir ein Lesekonzept für die Grundschule entwickelt, das Lesen als zentrale Kulturtechnik in der digitalen Gesellschaft fasst. Ziel war es, Kinder sowohl in Basiskompetenzen (flüssiges, sinnerfassendes Lesen) als auch in Zukunftskompetenzen wie Kooperation, Reflexion und kritischem Verstehen des Gelesenen zu fördern. Entscheidend war nicht der Einsatz digitaler Tools, sondern eine Pädagogik, die Lesen in der digitalen Gesellschaft zum Gegenstand macht.

In der Praxis wurden kooperative Lernsettings umgesetzt mit Tandemlesen, kollaborativem Arbeiten in Gruppen und kreativen Aufgabenstellungen mit analogen und digitalen Materialien. Die Ergebnisse der Mixed-Methods-Evaluation zeigen, dass die Kinder unterschiedlich von dem Konzept profitieren: Obwohl der Fokus auf Chancengerechtigkeit lag, verbesserten sich vor allem Kinder aus akademischen Haushalten. Kinder mit geringerer Lesekompetenz profitierten insbesondere von gezieltem Scaffolding durch Lehrkräfte, also der vorübergehenden und begrenzten Unterstützung des Lernprozesses. Kinder mit einer anderen Familiensprache erzielten in analogen Settings größere Fortschritte. Mädchen bevorzugten das analoge Lesen, insbesondere diejenigen aus ressourcenstarken Familien. Ihre stabil hohe Lesemotivation trug jedoch dazu bei, dass sie sich in allen Settings verbesserten. Für Jungen mit mittlerer Lesemotivation war die analoge Intervention dagegen eher nachteilig.

Die individuellen Effekte unserer pädagogischen Interventionen lassen sich erst im Zusammenspiel von didaktischer Rahmung, medialer Form, individuellen Präferenzen und sozialer Ressourcenausstattung erklären. So unerwartet und paradox die empirischen Ergebnisse zum Teil auch waren, sie haben einen hohen erkenntnistheoretischen Wert für unsere wissenschaftliche Praxis und sind Ausgangspunkte für ausgefeiltere Forschungsfragen. Genauso wie die Wissenschaft benötigt auch die pädagogische Praxis Räume, um Neues auszuprobieren, zu scheitern und sich weiterzuentwickeln. Nur so entsteht Wissen, das Gestaltung ermöglicht.

CoTransform Freising: Schulentwicklung für die digitale Gesellschaft

„CoTransform Freising“ entstand auf Initiative von engagierten Schulen selbst. Wir begleiten die Schulen ohne externe Förderung – getragen von Schulleitungen, Lehrkräften und Schulaufsicht. Hier wird Digitalisierung nicht als technisches Reformprojekt verstanden, sondern als Bestandteil der Identitäts- und Organisationsentwicklung der Schule. Die beteiligten Schulen bestimmen ihre Themen selbst, diese reichen von Raumgestaltung über Leseförderung bis zu digitaler Bildung.

Die Befragungen der Lehrkräfte zeigen eine reflektiert offene Haltung. Sie sind bereit zur Mitgestaltung, sofern Prozesse pädagogisch begründet und organisatorisch getragen sind. Und die Bereitschaft wächst insbesondere dann, wenn Selbstwirksamkeit, kollegiale Unterstützung und institutionelle Rückendeckung zusammenwirken.

Besser Lesen: KI-gestützte Leseförderung

Im Rahmen des Projekts „BesserLesen“ wurde eine KI-gestützte App zur Aussprachebewertung erprobt, die Kindern beim lauten Lesen in Echtzeit Rückmeldung gibt. Die zugrunde liegende Idee war, dass selbstständiges Lesen durch unmittelbares Feedback gefördert und Lesehemmungen abgebaut werden. Im Mittelpunkt des Projekts stand die Frage, ob diese KI-Technologie allein oder erst in einer pädagogischen Einbettung wirksam ist. Diesmal waren unsere Ergebnisse weniger komplex. In Klassen, in denen die App Teil eines didaktisch integrierten Lesekonzepts war, verbesserten sich die Leseleistungen signifikant, besonders bei Kindern mit geringem Startniveau. Wo die App isoliert genutzt wurde, blieben Effekte schwächer. Die Verknüpfung der KI mit einem Lesekonzept für das Lesen im Digitalen erwies sich als am wirkungsvollsten.

Neben den Effekten auf die Lesekompetenz fragten wir auch die beteiligten Lehrer:innen und Schüler:innen nach ihrem Feedback zur KI-Lese-App. Die Schüler:innen nannten an erster Stelle den Spaß durch Gamification-Elemente (ein individuell gestaltbares Lesemonster), dicht gefolgt von einer erhöhten Motivation aufgrund ihrer verbesserten Lesekompetenz. Lehrkräfte beschrieben ihre Erfahrungen differenziert. Die Begeisterung der Kinder wirkte motivierend, und die Motivation blieb hoch, wenn die App stabil lief, sinnvoll in den Unterricht eingebunden war und als pädagogisch wertvoll eingeschätzt wurde. Technische Probleme hingegen sorgten für Frustration.

Die drei Projekte zeigen, dass es pädagogische Gestaltungsspielräume gibt. Pädagogische Konzepte wirken, wenn sie an die Lernausgangslagen, das informelle Wissen, die Motivationen sowie die medialen Praktiken der Kinder anknüpfen. Sie müssen jedoch durch politische Rahmensetzungen in Form von Infrastruktur, Zeitbudgets, Datenschutz und curriculare Freiräume gestützt werden. Wo diese fehlen, kippt die Verantwortung ins Individuelle.

Damit führen die empirischen Beispiele direkt zu normativen Kernfragen: Welche Menschenbilder und Erziehungsnormen leiten unsere Entscheidungen über digitale Bildung, und wie verhindern wir, dass Erziehung individualisiert oder entpolitisiert wird?

Erziehungsnormen, Menschenbilder und digitale Gesellschaft

Erziehung wird aus soziologischer Perspektive als Teilbereich der Sozialisation verstanden und umfasst die gezielte gesellschaftliche Einflussnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung der nachfolgenden Generation. Sie zielt auf die Vermittlung von Sprach- und Handlungsfähigkeit, den Erwerb von Wissen und Kompetenzen, die Aneignung von Normen und Werten sowie die Förderung emotionaler Reife. Erziehung ist eingebettet in institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen, etwa durch Schulpflicht oder Anforderungen beruflicher Qualifikation.

Gesellschaftliche Transformationen verändern auch Vorstellungen von Erziehung. In einer Gesellschaft, die ein kulturelles Ideal von Autonomie und Selbststeuerung pflegt, erscheint Erziehung, verstanden als Fremdeinwirkung, suspekt. In gleichem Maße schwindet die Selbstverständlichkeit pädagogischer Autorität. Erziehung, Pädagogik und ihre Maßstäbe müssen sich neu legitimieren.

An die Stelle autoritärer Erziehung sind Leitbilder „guter Kindheit“ getreten, die eng mit Vorstellungen „guter Elternschaft“ verknüpft sind. Diese zielen auf die frühzeitige Förderung, insbesondere im Hinblick auf Bildung, Sprache und Selbstregulation. Eltern sind dafür verantwortlich, diese Leitbilder umzusetzen, beispielsweise durch die Inanspruchnahme von Bildungsangeboten und die gezielte Gestaltung des Familienalltags. In pädagogischen Settings kommt ihnen zudem ein gewachsenes Maß an Verantwortung und Mitsprache zu. Diese Entwicklung ist in sozialpolitische Strategien verankert, die Kindheit als Investitionsfeld verstehen. Erziehung verschwindet also nicht, sondern wirkt in veränderter Form weiter.

In der digitalen Gesellschaft erwachsen neue Anforderungen an Kommunikation, Organisation und Erziehung. Leitbilder „guter Elternschaft“ werden mit Dispositiven wie „digitaler Souveränität“ verknüpft. Eltern sollen ihren Kindern Medienkompetenz vermitteln sowie Risiken der Nutzung digitaler Tools und sozialer Netzwerke managen. Hier zeigt sich eine privatisierte Verantwortung, während staatliche Steuerung in Bildungskontexten durch Kompetenzkataloge, Qualitätsstandards und Evaluationslogiken fortwirkt.

Diese Verschiebungen gehen mit einem grundlegenden Wandel im Menschenbild einher. Kinder und Jugendliche werden als kompetente Akteur:innen ihrer Bildungs- und Sozialisationsprozesse gesehen. Dieses Verständnis folgt einem Paradigma, das Handlungsfähigkeit als Grundprinzip pädagogischer Theorie begreift und sich damit insbesondere von Erwachsenen-zentrierten Modellen absetzt. Dieses Grundprinzip wird auch als „Agency“ bezeichnet und ist zentral, um Kinder und Jugendliche als aktive Subjekte ihrer Lebenswelt ernst zu nehmen. In der Schule bedeutet das, Schüler:innen in Unterricht und Schulalltag partizipativ einzubinden.

Ein Missverständnis liegt jedoch darin, Agency mit vollständiger Autonomie gleichzusetzen. In der Diskussion um digitale Bildung, etwa bei der Frage, ob soziale Netzwerke für Kinder verboten werden sollten, zeigt sich diese Spannung besonders deutlich. Die Forderung nach einem Verbot wird häufig mit Verweis auf das Konzept der Agency von Kindern und Jugendlichen zurückgewiesen. Digitale Räume seien Teil ihrer Lebenswelt und dürften ihnen nicht pauschal entzogen werden. Anstelle politischer Regulierung wird gefordert, Kindern und Jugendlichen digitale Kompetenzen zu vermitteln und sie so zu erziehen, dass sie eigenständig mit Gefährdungen umgehen können. So wichtig Medienkritik, Datenschutzbewusstsein und eine reflektierte Nutzung sozialer Netzwerke auch sind, greift diese Perspektive dennoch zu kurz. Denn sie verlagert die Verantwortung einseitig auf Kinder, Eltern und Lehrkräfte. Die Tech-Industrie, KI und soziale Netzwerke sind jedoch keine neutralen Werkzeuge, sondern durch algorithmische Verstärkung und auf Nutzerbindung optimierte Designs selbst Akteure, die das Verhalten beeinflussen. Die Gestaltungsmacht im Zusammenspiel von individuellem Handeln und ökonomischen Großkonzernen ist ungleich verteilt.

Kinder handeln in familiären, schulischen und digitalen Umwelten, deren materielle und symbolische Bedingungen sie nicht frei wählen können. Ihre Agency ist daher relational vermittelt. Digitale Bildung und Erziehung können deswegen nicht darauf beschränkt werden, kritischen Umgang zu lehren, sondern erfordern zugleich eine politische Einhegung der Bedingungen, in denen die reflektiert-kritische Nutzung überhaupt möglich ist. Erziehung, pädagogische Förderung von Medienkompetenz und politische Regulierung sind deshalb keine Gegensätze, sondern Bedingungen dafür, dass Kinder ihre Handlungsfähigkeit tatsächlich ausüben können.

Schluss

Trotz paradoxer empirischer Effekte, Überforderung, subtileren Ansprüchen an Erziehung und ungelöster Machtdynamiken zwischen Politik und digitalen Plattformen sind Erziehung und digitale Bildung konkrete Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben. Erziehung bleibt, wenn auch an neue soziale und technologische Bedingungen angepasst, in ihrem Kern eine gesellschaftliche Verantwortung – wahrgenommen von Eltern, Lehrkräften und politischen Akteur:innen im Zusammenspiel mit institutionellen Rahmenbedingungen. Entsprechend bleibt auch die Frage nach der „richtigen“ Erziehung ein umkämpftes Feld, in dem um Menschenbilder und normative Zielsetzungen gestritten wird.

Das hohe Tempo technologischer Beschleunigung, die Individualisierung von Erziehung sowie die unzureichende politische Einhegung digitaler Ökonomie tragen dazu bei, dass digitale Bildung vielfach als Dystopie erfahren wird. Dystopien markieren die Punkte, an denen Gestaltung prekär und Verantwortung individualisiert wird. Im Sichtbarmachen fehlender Gestaltungsmacht liegt ihre produktive Funktion.

Handlungsfähigkeit entsteht dabei in der Interaktion zwischen Individuen, Technologien und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ohne institutionelle Rahmungen und Schutzmechanismen für Gestaltungsspielraum bleibt Agency ein Ideal, das in digitalen Gesellschaften von ökonomischen Plattformlogiken unterlaufen wird und Erziehung überfordert. Das gilt für Eltern und Lehrkräfte.

Wie das empirische Beispiel der Schulentwicklung CoTransform Freising zeigt, hängt die Motivation schulischer Akteur:innen, digitale Bildung zu gestalten, weniger von individueller Aufgeschlossenheit als von struktureller Ermöglichung ab. In unserem Beispiel waren dies Selbstbestimmung, kollegiale Unterstützung, Fortbildungsmöglichkeiten und institutionelle Rückendeckung. Erst die Erfüllung dieser Bedingungen eröffnet Handlungsräume. Die empirischen Projekte widerlegen damit die Vorstellung pädagogischer Ohnmacht, verweisen aber zugleich auf Grenzen pädagogischer Autonomie und Paradoxien ihrer Gestaltung.

Vor diesem Hintergrund wirken Hannah Arendts Analyse und Mahnung bis heute nach. Niemand möchte den Kindern wirklich sagen: „Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können.“ Wenn wir das Feld nicht der EdTech-Branche überlassen wollen, müssen wir digitale Bildung als Teil von Erziehung mitgestalten, ihre Grenzen anerkennen und Paradoxien sowie Unsicherheiten aushalten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Folgenden wird zwischen Bildung als Prozess der Welt- und Selbstaneignung und Erziehung als verantwortliche Einführung in eine gemeinsame Welt unterschieden. Digitale Bildung wiederum verweist auf Lern- und Sozialisationsprozesse, die auch durch den Umgang mit digitalen Artefakten, Plattformen und algorithmischen Strukturen geprägt sind.

  2. Vgl. Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, New York 2020; Akwugo Emejulu/Callum McGregor, Towards a Radical Digital Citizenship in Digital Education, in: Critical Studies in Education 1/2019, S. 131–147; Safiya Umoja Noble, Algorithms of Oppression. How Search Engines Reinforce Racism, New York 2018.

  3. Vgl. Hannah Arendt, Die Krise in der Erziehung [1958], in: Ursula Ludz/Hannah Arendt (Hrsg.), Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 19942, S. 255–276; Charles Wright Mills, The Sociological Imagination, Oxford 200040 (1959).

  4. Vgl. Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat, München 2023.

  5. Vgl. Marc Berges et al., AI Education! Six Theses on the Relationship Between Artificial Intelligence, Education, and Society: An Interdisciplinary Perspective, in: Medienpädagogik 2025, S. 1–17.

  6. Vgl. Stephanie Scharpf/Daniela Gabes, Motivation und digitale Medien am Beispiel des Sachunterrichts, in: Michael Haider/Daniela Schmeinck (Hrsg.), Digitalisierung in der Grundschule. Grundlagen, Gelingensbedingungen und didaktische Konzeptionen am Beispiel des Fachs Sachunterricht, Bad Heilbrunn 2022, S.S. 85–97; Jesper Aagaard, „From a Small Click to an Entire Action“: Exploring Students’ Anti-Distraction Strategies, in: Learning, Media and Technology 3/2021, S. 355–365; Ruth Görgen-Rein/Viktoria Michels, Lesen und Schreiben lernen in der digitalisierten Gesellschaft. Faktencheck, Köln 2023.

  7. Vgl. Birgit Eickelmann et al. (Hrsg.), ICILS 2023 #Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking von Schüler*innen im internationalen Vergleich, Münster–New York 2024; Jana Heinz, Bildungsgerechtigkeit in einer digitalen Gesellschaft, in: Medienpädagogik 52/2023, S. 191–216.

  8. Vgl. Jana Heinz, Digitale Bildung und Digitalität in Kindertageseinrichtungen, in: Peter Hammerschmidt/Regine Schelle/Gerd Stecklina (Hrsg.), Kindheitspädagogik in Bewegung, Weinheim–Basel 2025, S. 126–143.

  9. Vgl. Sean Seeger/Daniel Davison-Vecchione, Dystopian Literature and the Sociological Imagination, in: Thesis Eleven 1/2019, S. 45–63.

  10. Vgl. Ainaab Tariq et al., Dystopian Literature as Political Allegory: How Contemporary Works Reflect and Critique Modern Societies, in: Vegueta 1/2025, S. 162–177.

  11. Arendt (Anm. 3), S. 272.

  12. Vgl. Mills (Anm. 3).

  13. Vgl. Jana Heinz/Uta Hauck-Thum, Digitale Chancengerechtigkeit (DCG). Digitale Lehr- und Lernumgebungen im Lese- und Literaturunterricht zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit und Bildungsteilhabe in der Grundschule, BMBF Verbundprojekt (2020–2023) 2020, Externer Link: https://www.empirische-bildungsforschung-bmbfsfj.de/de/Themenfinder-1720.html/projekt/01JD2007A.

  14. Vgl. Franz Neuberger et al., Beyond One-Size-Fits-All: Differential Effects of Analog and Digital Collaborative and Creative Student-Centred Reading Interventions in Primary Education, in: Medienpädagogik 2025 (i.E.).

  15. Vgl. Uta Hauck-Thum/Jana Heinz/Barbara Lenzgeiger, Lernnetzwerk Freising – Schultransformation gemeinsam gestalten, in: Sabine Martschinke/Birte Oetjen/Rebecca Baumann (Hrsg.), Bildungsbrücken für Vielfalt in der Grundschule bauen, Frankfurt/M. 2025, S. 20–28.

  16. Vgl. Tim Fingscheidt/Uta Hauck-Thum/Jana Heinz, BesserLesen. Mobile Anwendung zur kooperativen Leseförderung von Kindern durch KI-gestützte Spracherkennung und -überprüfung, Februar 2023, Externer Link: https://www.validierungsfoerderung.de/validierungsprojekte/besserlesen.

  17. Vgl. Manuel Bruns/Jana Heinz, Opening the Black Box of AI in Education: A Case Study of the BesserLesen Reading App, in: Technology, Pedagogy and Education Journal 2026 (i.E.).

  18. Vgl. Albert Scherr, Bildung, Erziehung, Sozialisation, in: ders. (Hrsg.), Soziologische Basics, Wiesbaden 2016, S. 33–41, hier S. 33.

  19. Vgl. Tanja Betz, Leitbilder „Guter Kindheit“. Die Utopie der Chancengleichheit, in: APuZ 13–14/2022, S. 41–47.

  20. Vgl. Tanja Betz/Stefanie Bischoff, Kindheit unter sozialinvestiven Vorzeichen, in: Andreas Lange et al. (Hrsg.), Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie, Wiesbaden 2016, S. 1–18.

  21. Vgl. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.), Digitale Souveränität und Bildung, Gutachten Münster 2018.

  22. Vgl. Betz (Anm. 19).

  23. Vgl. Beatrice Hungerland/Helga Kelle, Kinder als Akteure – Agency und Kindheit. Einführung in den Themenschwerpunkt, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 3/2014, S. 227–232.

  24. Vgl. Florian Eßer, Agency Revisited. Relationale Perspektiven auf Kindheit und die Handlungsfähigkeit von Kindern, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 3/2014, S. 233–246.

ist Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Hochschule München.