Erziehung ist weder neutral noch individuell. Sie reflektiert stets gesellschaftliche Normen, zugrunde liegende Menschenbilder und politische Aushandlungen. Gerade die öffentliche und akademische Debatte um digitale Bildung verdeutlicht, wie umkämpft das Feld der „richtigen“ Erziehung ist.
Welche normativen und politischen Vorstellungen stehen hinter dieser Kritik? Mit Bezug auf Hannah Arendt („Die Krise in der Erziehung“, 1958) und den US-amerikanischen Soziologen C. Wright Mills („The Sociological Imagination“, 1959) wird im Folgenden argumentiert, dass sich in der pauschalen Problematisierung digitaler Technologien ein Rückzug aus dem pädagogischen Verantwortungsraum vollzieht.
Anhand ausgewählter empirischer Projekte wird untersucht, wie digitale Bildung gestaltet werden kann, ohne in techniknaive Begeisterung oder in kulturpessimistischen Rückzug zu verfallen: Welche gesellschaftlichen Ursachen und politischen Folgen hat die Verweigerung digitaler Bildung und Erziehung? Welche Menschenbilder, Erziehungsnormen und politischen Rahmungen liegen diesem Rückzug zugrunde? Wie verändern sich erzieherische Leitbilder in digitalen Gesellschaften?
Zur Funktion von Dystopien
Dystopische Visionen digitaler Gesellschaften prognostizieren für die junge Generation den Verlust sozialer Beziehungen, wachsende Einsamkeit, psychische und körperliche Deformierungen sowie die Gefahr, in eine Welt voller Gewalt, Pornografie und Manipulation abzurutschen – also letztlich Unmündigkeit, Entpolitisierung und Passivität.
Dabei wäre es wichtig, sich nicht von diesen Extremen leiten zu lassen, sondern die Effekte der digitalen Transformation auf Bildung differenziert zu betrachten.
Gerade diese Komplexität wird durch dystopische Erzählungen verdeckt. Indem Dystopien gesellschaftliche und technische Zusammenhänge zu apokalyptischen Szenarien verdichten, verhindern sie differenzierte Analysen und damit pädagogische Handlungsspielräume. Dabei wird häufig verkannt, dass Bildung in digitalen Gesellschaften per se bereits digitale Bildung ist. Als Teil sozialer und kultureller Sozialisation prägt Bildung in digitalen Gesellschaften das Selbst- und Weltverhältnis von Kindern durch analoge Beziehungen genauso wie durch die Auseinandersetzung mit digitalen Artefakten, Netzwerken und medialen Praktiken.
Die im Digitalen entstehenden neuen Formen der Wissensproduktion und des Zugangs zu Wissen konkurrieren insbesondere mit schulischer Wissensvermittlung. Bildungsinstitutionen sind deshalb herausgefordert, die digitalen Bedingungen des Aufwachsens kritisch zu reflektieren und aktiv zu gestalten. Gerade deshalb ist es entscheidend, sich nicht von dystopischen Erzählungen lähmen zu lassen, sondern pädagogische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Warum aber bleibt die Wahrnehmung digitaler Bildung als Dystopie so wirkmächtig? Was genau leisten Dystopien?
Dystopien strukturieren gesellschaftliche Wahrnehmungen digitaler Technologien, indem sie komplexe Entwicklungen zu narrativen Szenarien verdichten, die Machtasymmetrien, Überwachung und algorithmische Steuerung sichtbar machen. Durch Verfremdungseffekte legen sie Strukturen der Gegenwart offen und eröffnen Räume für Kritik. Sie mobilisieren Affekte wie Angst und Empörung und erzeugen so Aufmerksamkeit für Risiken, die sonst unsichtbar blieben. Damit fungieren sie als Medium soziologischer Imagination. Sie verdeutlichen, wie individuell erlebte Erfahrungen mit strukturellen Machtverhältnissen verwoben sind.
Diese Funktionen sind ambivalent. Viele zeitgenössische Dystopien entlarven autoritäre Tendenzen und soziale Ungleichheit, riskieren aber zugleich, durch ihre Totalität politische Handlungsfähigkeit zu delegitimieren.
Warnungen vor Datenmissbrauch, Überwachung und algorithmischer Diskriminierung bleiben wichtig, solange sie nicht in eine Pädagogik der Angst kippen. Problematisch wird die Fokussierung auf apokalyptische Bilder dann, wenn sie den Blick auf mögliche Interventionen verstellt. Die Herausforderung besteht demnach darin, Dystopien nicht als End-, sondern als Ausgangspunkt pädagogischer und politischer Reflexion zu nutzen. Statt digitale Bildung als Verteidigungsaufgabe gegen unkontrollierbare Systeme zu konzipieren, braucht es eine kritische Analyse der Risiken und deren Verknüpfung mit konkreten Handlungsorientierungen für die pädagogische Praxis, Bildungsinstitutionen und eine politische Rahmensetzung.
Erziehung zwischen gesellschaftlichem Wandel und Verantwortung
Auch wenn die Herausforderungen infolge gesellschaftlicher Transformationen überwältigend erscheinen, bringen uns bloße Kritik und die romantische Sehnsucht nach einer analogen Welt nicht weiter. Hannah Arendt beschrieb in ihrem Essay „The Crisis in Education“ bereits in den 1950er Jahren eine ähnliche Dynamik. Im Nachhall der Erfahrung totalitärer Instrumentalisierung und Pervertierung von Bildung während des Nationalsozialismus beobachtete und kritisierte sie eine tiefgreifende Erosion von Autorität. Diese diagnostizierte sie nicht nur im politischen, sondern auch im pädagogischen Raum. Erziehung, so Arendt, sei eine Vermittlungsleistung zwischen Vergangenheit und Zukunft, getragen von der Verantwortung der Erwachsenen, Kinder in eine bestehende, aber veränderbare Welt einzuführen, die durch verweigernde Haltungen unterlaufen wird. Ihr Befund ist bis heute bemerkenswert aktuell: „Deutlicher auf der anderen Seite konnten moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen in dem Bestehenden gar nicht kundgeben als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen. Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können. Wir waschen unsere Hände in Unschuld.“
Arendt deutet diesen Rückzug aus der Verantwortung als Symptom gesellschaftlicher Resignation. Übertragen auf die Gegenwart zeigt sich eine vergleichbare Tendenz. Die Flucht in dystopische Narrative oder die nostalgische Idee „analoger Bildungsinseln“ in einer digitalen Gesellschaft markieren nicht Widerstand, sondern die Verweigerung pädagogischer Verantwortung.
C. Wright Mills’ Konzept der „Sociological Imagination“ ergänzt Arendts Perspektive um eine gesellschaftsdiagnostische Dimension.
Gestaltung digitaler Bildung
Wie sieht schulische Praxis aus, wenn digitale Bildung nicht als technisches Add-on verstanden oder gar als (Schritt in Richtung einer) Dystopie abgelehnt, sondern als pädagogische und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe begriffen wird? Drei Projekte – jeweils unvollkommen, aber exemplarisch dargestellt – geben Einblick in die damit verbundenen Spannungsfelder.
Digitale Chancengerechtigkeit: Lesen in der digitalen Gesellschaft
Im Projekt „Digitale Chancengerechtigkeit“ haben wir ein Lesekonzept für die Grundschule entwickelt, das Lesen als zentrale Kulturtechnik in der digitalen Gesellschaft fasst.
In der Praxis wurden kooperative Lernsettings umgesetzt mit Tandemlesen, kollaborativem Arbeiten in Gruppen und kreativen Aufgabenstellungen mit analogen und digitalen Materialien. Die Ergebnisse der Mixed-Methods-Evaluation zeigen, dass die Kinder unterschiedlich von dem Konzept profitieren: Obwohl der Fokus auf Chancengerechtigkeit lag, verbesserten sich vor allem Kinder aus akademischen Haushalten. Kinder mit geringerer Lesekompetenz profitierten insbesondere von gezieltem Scaffolding durch Lehrkräfte, also der vorübergehenden und begrenzten Unterstützung des Lernprozesses. Kinder mit einer anderen Familiensprache erzielten in analogen Settings größere Fortschritte. Mädchen bevorzugten das analoge Lesen, insbesondere diejenigen aus ressourcenstarken Familien. Ihre stabil hohe Lesemotivation trug jedoch dazu bei, dass sie sich in allen Settings verbesserten. Für Jungen mit mittlerer Lesemotivation war die analoge Intervention dagegen eher nachteilig.
Die individuellen Effekte unserer pädagogischen Interventionen lassen sich erst im Zusammenspiel von didaktischer Rahmung, medialer Form, individuellen Präferenzen und sozialer Ressourcenausstattung erklären. So unerwartet und paradox die empirischen Ergebnisse zum Teil auch waren, sie haben einen hohen erkenntnistheoretischen Wert für unsere wissenschaftliche Praxis und sind Ausgangspunkte für ausgefeiltere Forschungsfragen. Genauso wie die Wissenschaft benötigt auch die pädagogische Praxis Räume, um Neues auszuprobieren, zu scheitern und sich weiterzuentwickeln. Nur so entsteht Wissen, das Gestaltung ermöglicht.
CoTransform Freising: Schulentwicklung für die digitale Gesellschaft
„CoTransform Freising“ entstand auf Initiative von engagierten Schulen selbst. Wir begleiten die Schulen ohne externe Förderung – getragen von Schulleitungen, Lehrkräften und Schulaufsicht. Hier wird Digitalisierung nicht als technisches Reformprojekt verstanden, sondern als Bestandteil der Identitäts- und Organisationsentwicklung der Schule.
Die Befragungen der Lehrkräfte zeigen eine reflektiert offene Haltung. Sie sind bereit zur Mitgestaltung, sofern Prozesse pädagogisch begründet und organisatorisch getragen sind. Und die Bereitschaft wächst insbesondere dann, wenn Selbstwirksamkeit, kollegiale Unterstützung und institutionelle Rückendeckung zusammenwirken.
Besser Lesen: KI-gestützte Leseförderung
Im Rahmen des Projekts „BesserLesen“ wurde eine KI-gestützte App zur Aussprachebewertung erprobt, die Kindern beim lauten Lesen in Echtzeit Rückmeldung gibt.
Neben den Effekten auf die Lesekompetenz fragten wir auch die beteiligten Lehrer:innen und Schüler:innen nach ihrem Feedback zur KI-Lese-App. Die Schüler:innen nannten an erster Stelle den Spaß durch Gamification-Elemente (ein individuell gestaltbares Lesemonster), dicht gefolgt von einer erhöhten Motivation aufgrund ihrer verbesserten Lesekompetenz.
Die drei Projekte zeigen, dass es pädagogische Gestaltungsspielräume gibt. Pädagogische Konzepte wirken, wenn sie an die Lernausgangslagen, das informelle Wissen, die Motivationen sowie die medialen Praktiken der Kinder anknüpfen. Sie müssen jedoch durch politische Rahmensetzungen in Form von Infrastruktur, Zeitbudgets, Datenschutz und curriculare Freiräume gestützt werden. Wo diese fehlen, kippt die Verantwortung ins Individuelle.
Damit führen die empirischen Beispiele direkt zu normativen Kernfragen: Welche Menschenbilder und Erziehungsnormen leiten unsere Entscheidungen über digitale Bildung, und wie verhindern wir, dass Erziehung individualisiert oder entpolitisiert wird?
Erziehungsnormen, Menschenbilder und digitale Gesellschaft
Erziehung wird aus soziologischer Perspektive als Teilbereich der Sozialisation verstanden und umfasst die gezielte gesellschaftliche Einflussnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung der nachfolgenden Generation. Sie zielt auf die Vermittlung von Sprach- und Handlungsfähigkeit, den Erwerb von Wissen und Kompetenzen, die Aneignung von Normen und Werten sowie die Förderung emotionaler Reife.
Gesellschaftliche Transformationen verändern auch Vorstellungen von Erziehung. In einer Gesellschaft, die ein kulturelles Ideal von Autonomie und Selbststeuerung pflegt, erscheint Erziehung, verstanden als Fremdeinwirkung, suspekt. In gleichem Maße schwindet die Selbstverständlichkeit pädagogischer Autorität. Erziehung, Pädagogik und ihre Maßstäbe müssen sich neu legitimieren.
An die Stelle autoritärer Erziehung sind Leitbilder „guter Kindheit“ getreten, die eng mit Vorstellungen „guter Elternschaft“ verknüpft sind.
In der digitalen Gesellschaft erwachsen neue Anforderungen an Kommunikation, Organisation und Erziehung. Leitbilder „guter Elternschaft“ werden mit Dispositiven wie „digitaler Souveränität“ verknüpft.
Diese Verschiebungen gehen mit einem grundlegenden Wandel im Menschenbild einher. Kinder und Jugendliche werden als kompetente Akteur:innen ihrer Bildungs- und Sozialisationsprozesse gesehen. Dieses Verständnis folgt einem Paradigma, das Handlungsfähigkeit als Grundprinzip pädagogischer Theorie begreift und sich damit insbesondere von Erwachsenen-zentrierten Modellen absetzt.
Ein Missverständnis liegt jedoch darin, Agency mit vollständiger Autonomie gleichzusetzen. In der Diskussion um digitale Bildung, etwa bei der Frage, ob soziale Netzwerke für Kinder verboten werden sollten, zeigt sich diese Spannung besonders deutlich. Die Forderung nach einem Verbot wird häufig mit Verweis auf das Konzept der Agency von Kindern und Jugendlichen zurückgewiesen. Digitale Räume seien Teil ihrer Lebenswelt und dürften ihnen nicht pauschal entzogen werden. Anstelle politischer Regulierung wird gefordert, Kindern und Jugendlichen digitale Kompetenzen zu vermitteln und sie so zu erziehen, dass sie eigenständig mit Gefährdungen umgehen können. So wichtig Medienkritik, Datenschutzbewusstsein und eine reflektierte Nutzung sozialer Netzwerke auch sind, greift diese Perspektive dennoch zu kurz. Denn sie verlagert die Verantwortung einseitig auf Kinder, Eltern und Lehrkräfte. Die Tech-Industrie, KI und soziale Netzwerke sind jedoch keine neutralen Werkzeuge, sondern durch algorithmische Verstärkung und auf Nutzerbindung optimierte Designs selbst Akteure, die das Verhalten beeinflussen. Die Gestaltungsmacht im Zusammenspiel von individuellem Handeln und ökonomischen Großkonzernen ist ungleich verteilt.
Kinder handeln in familiären, schulischen und digitalen Umwelten, deren materielle und symbolische Bedingungen sie nicht frei wählen können. Ihre Agency ist daher relational vermittelt.
Schluss
Trotz paradoxer empirischer Effekte, Überforderung, subtileren Ansprüchen an Erziehung und ungelöster Machtdynamiken zwischen Politik und digitalen Plattformen sind Erziehung und digitale Bildung konkrete Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben. Erziehung bleibt, wenn auch an neue soziale und technologische Bedingungen angepasst, in ihrem Kern eine gesellschaftliche Verantwortung – wahrgenommen von Eltern, Lehrkräften und politischen Akteur:innen im Zusammenspiel mit institutionellen Rahmenbedingungen. Entsprechend bleibt auch die Frage nach der „richtigen“ Erziehung ein umkämpftes Feld, in dem um Menschenbilder und normative Zielsetzungen gestritten wird.
Das hohe Tempo technologischer Beschleunigung, die Individualisierung von Erziehung sowie die unzureichende politische Einhegung digitaler Ökonomie tragen dazu bei, dass digitale Bildung vielfach als Dystopie erfahren wird. Dystopien markieren die Punkte, an denen Gestaltung prekär und Verantwortung individualisiert wird. Im Sichtbarmachen fehlender Gestaltungsmacht liegt ihre produktive Funktion.
Handlungsfähigkeit entsteht dabei in der Interaktion zwischen Individuen, Technologien und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ohne institutionelle Rahmungen und Schutzmechanismen für Gestaltungsspielraum bleibt Agency ein Ideal, das in digitalen Gesellschaften von ökonomischen Plattformlogiken unterlaufen wird und Erziehung überfordert. Das gilt für Eltern und Lehrkräfte.
Wie das empirische Beispiel der Schulentwicklung CoTransform Freising zeigt, hängt die Motivation schulischer Akteur:innen, digitale Bildung zu gestalten, weniger von individueller Aufgeschlossenheit als von struktureller Ermöglichung ab. In unserem Beispiel waren dies Selbstbestimmung, kollegiale Unterstützung, Fortbildungsmöglichkeiten und institutionelle Rückendeckung. Erst die Erfüllung dieser Bedingungen eröffnet Handlungsräume. Die empirischen Projekte widerlegen damit die Vorstellung pädagogischer Ohnmacht, verweisen aber zugleich auf Grenzen pädagogischer Autonomie und Paradoxien ihrer Gestaltung.
Vor diesem Hintergrund wirken Hannah Arendts Analyse und Mahnung bis heute nach. Niemand möchte den Kindern wirklich sagen: „Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können.“ Wenn wir das Feld nicht der EdTech-Branche überlassen wollen, müssen wir digitale Bildung als Teil von Erziehung mitgestalten, ihre Grenzen anerkennen und Paradoxien sowie Unsicherheiten aushalten.