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Der KSZE-Prozess als Katalysator einer transnationalen Menschenrechtsbewegung | bpb.de

Der KSZE-Prozess als Katalysator einer transnationalen Menschenrechtsbewegung

Sarah B. Snyder

/ 15 Minuten zu lesen

Die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki gab den Dissidentengruppen in Osteuropa Auftrieb und hatte weitreichende Auswirkungen im gesamten Ostblock. Es bildete sich ein länderübergreifendes Netzwerk, das vom Westen unterstützt wurde.

Die Schlussakte von Helsinki der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 enthielt die Vereinbarung, sich 1977 zu einer Folgekonferenz in Belgrad zu treffen, bei der die Einhaltung des Abkommens überprüft werden sollte. Die 35 teilnehmenden Staaten hatten also zwei Jahre Zeit, die in Helsinki getroffenen Beschlüsse in die Praxis umzusetzen. Nach der Unterzeichnung der Schlussakte entwickelten staatliche wie nichtstaatliche Organisationen offizielle und inoffizielle Mechanismen, um die Umsetzung der Vereinbarungen zu überwachen. Die zahlreichen internationalen Aktivitäten bildeten den Beginn eines transnationalen Helsinki-Netzwerks, insbesondere mit Blick auf den sogenannten Korb III der Schlussakte, in dem es um Menschenrechte und Grundfreiheiten ging.

In den Vereinigten Staaten nahm die legislative Einbindung in den KSZE-Prozess schon bald nach der Rückkehr von US-Präsident Gerald Ford aus Helsinki an Fahrt auf. Das Engagement begann mit der Reise einer Kongressdelegation nach Moskau und gipfelte in der Bildung eines gemeinsamen Ausschusses von Legislative und Exekutive – der Commission on Security and Cooperation in Europe, kurz „Helsinki Commission“. Die Kommission achtete jedoch nicht nur auf die Einhaltung der Schlussakte, sondern förderte vor allem die Entwicklung eines Netzwerks, in dem Gruppen und Einzelpersonen auf Verstöße hinwiesen und sie öffentlich machten. Durch das Engagement dieser nichtstaatlichen Menschenrechtsgruppen im Ausland entfaltete der Helsinki-Prozess im Laufe der Jahre eine immer größere Wirkung.

Die Helsinki Commission in den USA

Den Anstoß für die Bildung der Kommission gab die Republikanerin Millicent Fenwick, Abgeordnete im Repräsentantenhaus für New Jersey, die sich bei der Reise der Kongressabgeordneten nach Moskau mit sowjetischen Bürgerinnen und Bürgern getroffen hatte. Dabei hatte sie auch den Physiker Juri Orlow kennengelernt, der später die Moskauer Helsinki-Gruppe gründen sollte. Mit ihm hatte sie über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion und die Bemühungen gesprochen, die sowjetische Führung zur Einhaltung der Helsinki-Schlussakte zu bewegen. Orlow erzählte später, er habe Fenwick damals vorgeschlagen, dass „der Westen die Helsinki-Vereinbarungen nutzen sollte, um die sowjetische Regierung unter Druck zu setzen, damit sie ihre Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte einhält, und zu prüfen, wie gut sie diese einhält.“ Nach dem Gespräch sei Fenwick voller Überzeugung für die Sache in die USA zurückgekehrt.

Zurück in Washington legte Fenwick einen Gesetzentwurf für die Einrichtung einer Kommission aus Mitgliedern der Legislative und der Exekutive vor, die über die Einhaltung der Helsinki-Schlussakte wachen sollten. Die Vorlage wurde im Repräsentantenhaus mit 240 zu 95 Stimmen und kurz darauf auch im Senat angenommen. Gleich im ersten Jahr ihres Bestehens unternahmen die Kommissionsmitglieder eine Reise nach Europa, um sich Anregungen zur Evaluierung des Helsinki-Prozesses zu holen, Kontakte zu anderen KSZE-Staaten zu knüpfen und den Auftrag der Kommission zu erläutern. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand darin, auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, in der Hoffnung, dass die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit die betreffenden Staaten von weiteren Verstößen abhalten würde. Die Kommission konzentrierte sich in erster Linie auf die Notlage von politischen Gefangenen, Refuseniks und Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Durch die Abhaltung von Anhörungen zur Einhaltung der Helsinki-Vereinbarungen und die Erstellung einer umfangreichen, breit angelegten Studie gewann die Kommission an Einfluss und trieb ihre Agenda entsprechend voran. Als zentrale Clearingstelle war sie über viele Jahre die maßgebliche Informationsquelle für Verstöße gegen die Helsinki-Vereinbarungen.

Die Kommission bot den wenig später gegründeten osteuropäischen Beobachtergruppen eine Anlaufstelle, an die sie sich mit ihren Informationen und Rechercheergebnissen wenden konnten. Sie unterstützte ein transnationales Netzwerk von Helsinki-Aktivistinnen und -Aktivisten und verlieh ihnen durch ihre Anhörungen und Berichte eine Stimme. Dabei stützte sie sich auf Dokumente und Berichte aus Osteuropa, lud gelegentlich auch Dissidenten zu Zeugenaussagen ein und gab den Beobachtergruppen generell Rückhalt. Die Kommission erhielt viele Samisdat-Dokumente, die sie übersetzen ließ und in andere KSZE-Staaten weiterleitete. So diente sie als wichtige Schaltstelle zwischen verschiedenen Aktivistengruppen und der Politik. Die Bedeutung der Kommission liegt vor allem in ihren Verbindungen im weit gespannten Netzwerk von Helsinki-Gruppen begründet, wodurch sie tatsächlich Einfluss auf die Einhaltung der Schlussakte und allgemein den Schutz der Menschenrechte nehmen konnte.

Unbeabsichtigte Folgen

Die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki gab den Dissidentengruppen in Osteuropa Auftrieb und hatte weitreichende innenpolitische Auswirkungen in der Sowjetunion und generell in Osteuropa. Die Beobachtergruppen, die in ganz Europa entstanden, forderten die Sowjetunion und andere Staaten auf, sich an die Beschlüsse von Helsinki zu halten, und lenkten durch ihre Berichte die internationale Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsverletzungen in ihren jeweiligen Ländern. Die Helsinki-Gruppen, unter denen die Moskauer Gruppe hervorzuheben ist, waren Teil eines größeren politischen und gesellschaftlichen Wandels, der maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges beitrug.

Zur allgemeinen Überraschung veröffentlichte die sowjetische Regierung die Schlussakte von Helsinki in den beiden wichtigsten Moskauer Zeitungen, der „Prawda“ und der „Iswestija“ mit einer Auflage von 20 Millionen. Die Beschlüsse von Helsinki wurden auch in andere Sprachen der Sowjetunion übersetzt und später als Pamphlet veröffentlicht. Anatoli Dobrynin, damals sowjetischer Botschafter in den USA, bestätigte später, dass die sowjetische Führung die anhaltende Wirkung der Veröffentlichung nicht vorausgesehen hatte. Staats- und Parteichef Leonid Breschnew glaubte, man habe die Reaktionen auf die Vereinbarung zu den Menschenrechten innenpolitisch im Griff. „Doch er täuschte sich. Die Lage der sowjetischen Dissidenten änderte sich nicht über Nacht, aber sie wurden durch diesen historischen Vertrag definitiv ermutigt. Und durch die Veröffentlichung in der ‚Prawda‘ erhielt er offizielles Gewicht.“

Dass der Inhalt der Schlussakte allgemein bekannt war, hatte weitreichende, wenn auch unbeabsichtigte Folgen. Der demokratische Kongressabgeordnete Robert Drinan (Massachusetts), der sich zur Zeit der Veröffentlichung in Moskau aufhielt, berichtete, der sowjetische Dissident Andrei Sacharow und der jüdische Refusenik Anatoli Schtscharanski seien „erstaunt, aber hoch erfreut“ gewesen, als sie den vollständigen Text der Schlussakte in einer sowjetischen Zeitung sahen. Ljudmila Alexejewa, ein Gründungsmitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe, schrieb: „Die sowjetischen Bürger, die den Text der Schlussakte in der Zeitung lasen, waren verblüfft über die Menschenrechtsartikel; sie hörten zum ersten Mal von internationalen Verpflichtungen ihrer Regierung in diesem Bereich.“ Inspiriert von den Vereinbarungen gründeten Dissidenten nun Gruppen, die darauf pochten, dass sich alle Unterzeichnerstaaten an die Schlussakte hielten.

Die Moskauer Helsinki-Gruppe

Die bei Weitem einflussreichste Nichtregierungsorganisation, die im Gefolge der Helsinki-Schlussakte entstand, war die „Öffentliche Gruppe zur Förderung der Beschlüsse von Helsinki in der UdSSR“, die im Mai 1976 von elf bekannten Dissidentinnen und Dissidenten ins Leben gerufen und im Westen als „Moskauer Helsinki-Gruppe“ bekannt wurde. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die positiven und negativen Seiten der Umsetzung der Schlussakte in der Sowjetunion zu dokumentieren und die Bevölkerung im Land und auch den Westen über die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten in der Sowjetunion zu informieren. Orlow berichtete später, dass er die Idee zwei Monate lang mit anderen Dissidenten in Moskau diskutiert hatte, ehe sie schließlich den Text verfassten, mit dem sie die Gründung der Gruppe bekannt gaben. Die Gruppe wollte unter den Bedingungen arbeiten, denen die sowjetische Regierung mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki zugestimmt hatte, und die sowjetische Zivilgesellschaft um Unterstützung beim Monitoring bitten – in der Hoffnung, auf diese Weise den Teufelskreis aus „Arrest – Protest – Arrest“ zu durchbrechen, wie der Dissident Andrei Amalrik die Situation der Menschenrechtsbewegungen in der Sowjetunion beschrieb.

Die ursprüngliche Zusammensetzung der Moskauer Helsinki-Gruppe war der bewusste Versuch, führende Dissidenten aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen. Oder wie es Alexejewa formulierte: Der Helsinki-Prozess ermöglichte „die Vereinigung der Menschenrechtsbewegung mit religiösen und nationalen Bewegungen“, die sich alle auf die in der Schlussakte von Helsinki genannten Rechte beriefen. Entsprechend gab es unter den elf Gründungsmitgliedern jüdische Refuseniks, Menschenrechtsvertreter und Aktivisten, die sich für die Rechte nationaler Minderheiten einsetzten. Zu den Gründungsmitgliedern zählten neben Orlow, Schtscharanski und Alexejewa noch Alexander Kortschak, Malwa Landa, Witali Rubin, Jelena Bonner, Alexander Ginsburg, Anatoli Martschenko, Pjotr Grigorenko und Michail Bernschtam. Die Gruppe sollte nicht nur als Brücke zwischen Aktivistengruppen fungieren, die sich je nach Schwerpunkt für religiöse, ethnische oder wirtschaftliche Belange stark machten, sondern auch als Bindeglied zwischen Arbeitern und Intellektuellen dienen. Die Mitglieder verfügten über unterschiedliche Fähigkeiten und Verbindungen; Schtscharanski zum Beispiel sprach fließend Englisch und hatte Kontakte zu westlichen Journalisten und Diplomaten. Laut eigener Aussage war er aufgrund seiner Sprachkenntnisse der inoffizielle Sprecher der Gruppe und für den Versand der Dokumente ins Ausland zuständig.

Obwohl die Gruppe so angelegt war, dass sie sich im Rahmen der sowjetischen Gesetze bewegte, und die Schlussakte von Helsinki das Recht bestätigte, „seine Rechte und Pflichten auf diesem Gebiet [dem Gebiet der Menschenrechte und Grundfreiheiten] zu kennen und auszuüben“, rechneten die Gründungsmitglieder von Beginn an mit staatlichen Repressalien. Tatsächlich war das Komitee für Staatssicherheit (KGB) über die Pläne der Gruppe informiert, noch bevor sie ihre Absichten bekannt gemacht hatte, und verlor keine Zeit, Druck auf sie auszuüben. Um nicht schon vor der eigentlichen Entstehung aufgelöst zu werden, verkündeten die Mitglieder die Gründung am 12. Mai 1976 in der Wohnung des prominenten Physikers und Dissidenten Andrei Sacharow im Beisein eines westlichen Journalisten. Damit die Ankündigung nicht durch die Nachricht einer Verhaftung in den Schatten gestellt wurde, tauchte Orlow zwei Tage unter, bis er im Westradio von der Gründung hörte. Er hatte gehofft, dass in der westlichen Presse groß darüber berichtet würde, doch anfänglich weckte die Gruppe nur geringes Interesse. Die sowjetische Regierung hingegen reagierte fast sofort. Am 15. Mai teilte der KGB Orlow mit, seine Gruppe sei illegal und nicht verfassungskonform – er habe nicht das Recht, die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki durch die sowjetische Regierung infrage zu stellen.

Trotz des staatlichen Drucks nahm die Gruppe ihre Arbeit auf, dokumentierte Menschenrechtsverletzungen und verfasste einen Bericht, in dem die Einhaltung der Schlussakte in der Sowjetunion im ersten Jahr nach der Unterzeichnung bewertet wurde. Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land wandten sich mit ihren Fällen an die Moskauer Helsinki-Gruppe und vergrößerten so auch deren Reichweite. Westliche Radiosender wie „Voice of America“ oder „Radio Liberty“ berichteten über die Gründung und Aktivitäten der Gruppe und trugen auch in der Sowjetunion zu ihrer Bekanntheit bei. In der Rückschau schätzte Orlow, dass sich pro Tag zwei oder drei Personen an ihn wandten, darunter etwa Angehörige von Religionsgemeinschaften aus dem Kaukasus oder der Ukraine und Arbeiter aus dem Baltikum. Die Gruppe nutzte diese Informationen aus erster Hand sowie ihre eigenen Recherchen für ihre Berichte, die in den Worten von Schtscharanski „die Sowjetunion daran hinderten, aus Korb III ein bloßes Lippenbekenntnis zu machen“.

Die Mitglieder der Gruppe erstellten Dossiers, in denen die Verstöße gegen die Schlussakte von Helsinki detailliert beschrieben wurden – beispielsweise das „Dokument Nummer 1“, das sich mit dem Prozess gegen Mustafa Dschemiljew befasste, der sich für die Rückkehr der Krimtataren auf die Krim einsetzte, oder das „Dokument Nummer 2“, in dem es um die Unterbrechung von Telefonverbindungen ging. Im Laufe der Zeit nahm sich die Gruppe einer Vielzahl weiterer Themen an, darunter nationale Selbstbestimmung, Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes, Recht auf Auswanderung und Rückkehr, Recht auf freie Religionsausübung, Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, Rechte politischer Gefangener sowie Missbrauch der Psychiatrie. Unermüdlich wiesen die Verfasser der Berichte auf Menschenrechtsverletzungen in allen Schichten der sowjetischen Gesellschaft hin und machten zudem auf die Behinderung des Helsinki-Monitorings aufmerksam. Im Mai 1977 dokumentierten sie etwa die Verhaftung von Mitgliedern der ukrainischen und litauischen Helsinki-Gruppen.

Transnationale Zusammenarbeit

Die Berichte sollten dafür sorgen, dass die Schlussakte von Helsinki im Fokus der internationalen Gemeinschaft blieb, und stetig daran erinnern, dass sich die Sowjetunion nicht an das Abkommen hielt. Der Moskauer Helsinki-Gruppe war dabei klar, dass sie die sowjetische Führung nicht zu Reformen bewegen konnte, weshalb sie sich darauf konzentrierte, internationale Unterstützung für ihre Agenda zu gewinnen. In den Anfangszeiten bestand ihre Strategie darin, von jedem Dokument 35 Kopien anzufertigen und sie per Einschreiben an die 34 Moskauer Botschaften der Staaten zu schicken, die an der KSZE teilgenommen hatten, sowie eine Ausfertigung direkt an Breschnew. Darüber hinaus trafen sich die Mitglieder der Gruppe mit ausländischen Journalisten. Westliche Journalisten, vor allem in Moskau stationierte Korrespondenten, verbreiteten die Berichte der Dissidenten und trugen so maßgeblich zur Entwicklung des Helsinki-Netzwerks bei.

Eine besonders produktive Beziehung entwickelte die Moskauer Helsinki-Gruppe zur eingangs erwähnten Helsinki-Kommission des US-Kongresses, die als Schaltstelle für verschiedene Gruppen und Einzelpersonen fungierte, die sich für die Einhaltung der Helsinki-Bestimmungen einsetzten.

Die Schlussakte von Helsinki bildete somit die gemeinsame Grundlage für die Arbeit von Menschenrechtsgruppen in der gesamten Sowjetunion. Alexejewa sprach in diesem Zusammenhang gar vom „kollektiven Phänomen des sowjetischen Dissidententums“. Nach dem Vorbild der Moskauer Helsinki-Gruppe entwickelten sich weitere Beobachtergruppen in der Sowjetunion: das „Christliche Komitee zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen in der UdSSR“, die „Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken“ und die ukrainische Helsinki-Gruppe. Wenig später entstanden Helsinki-Gruppen in Litauen, Georgien und Armenien; schon bald bildeten sie ein Netzwerk. Die Aktivistengruppen verfolgten alle eine ähnliche Strategie: Sie waren gewaltfrei, bewegten sich im Rahmen der Verfassung und forderten die Regierungen auf, ihre Verpflichtungen aus internationalen Abkommen einzuhalten.

Die ukrainische Helsinki-Gruppe wurde am 9. November 1976 von Mykola Rudenko gegründet, nachdem er in ausländischen Radiosendungen von der Moskauer Gruppe gehört hatte. Die Gruppe erklärte ausdrücklich, dass sie damit auf den Aufruf der Moskauer Helsinki-Gruppe reagiere, weitere nationale Gruppen zu bilden. Wenig später traf das erste Dokument der ukrainischen Gruppe bei der Moskauer Helsinki-Gruppe ein, die zugesagt hatte, die Ukrainer zu unterstützen und die von ihnen gemeldeten Menschenrechtsverletzungen ins Ausland weiterzuleiten. Kurz darauf, am 27. November 1976, verkündete die litauische Helsinki-Gruppe ihre Gründung auf einer Pressekonferenz in Orlows Wohnung. Es bildete sich auch eine georgische Helsinki-Gruppe, die ähnlich enge Beziehungen zur Moskauer Helsinki-Gruppe unterhielt.

Die Gründungen blieben nicht auf die Sowjetunion beschränkt, auch in Polen, der Tschechoslowakei und in anderen Ländern entstanden Menschenrechtsgruppen. Zu den bekanntesten Gruppen in Polen gehörte das im Frühjahr 1976 gegründete „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“, das sich in seiner Anfangsphase vor allem für eine Amnestie für all diejenigen einsetzte, die nach den Arbeiterprotesten von 1976 verhaftet worden waren. Weitere Gruppen waren die „Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte“, die im März 1977 entstand und sich auf die Überwachung der Beschlüsse von Helsinki konzentrierte, sowie das polnische Helsinki-Komitee.

In der Tschechoslowakei wurde am 1. Januar 1977 die „Charta 77“ ins Leben gerufen. In einem vierseitigen Dokument, das die Menschenrechtsverletzungen im Land auflistete, hieß es: „Daher begrüßen wir, daß die Tschechoslowakische Sozialistische Republik diesen Pakten [den Helsinki-Vereinbarungen] beigetreten ist. Ihre Veröffentlichung ruft uns aber zugleich mit neuer Eindringlichkeit in Erinnerung, wie viele Grundrechte des Bürgers in unserem Land vorerst – leider – nur auf dem Papier gelten.“ Die Charta war nicht wie die Moskauer Helsinki-Gruppe organisiert, sondern eine Graswurzelbewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, auf die Widersprüche zwischen dem tschechoslowakischen Recht, der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki durch die Regierung und dem tatsächlichen Alltag in der Tschechoslowakei hinzuweisen. Ihre Initiatoren waren sich der Vorarbeit der Moskauer Helsinki-Gruppe durchaus bewusst. Viele Jahre später sagte etwa Václav Havel, einer der Initiatoren und nach der Samtenen Revolution 1989 Staatspräsident des Landes, zu Orlow: „Ich glaube, dass die Existenz der Helsinki-Komitees in der Sowjetunion uns vor der Gründung der Charta 77 maßgeblich beeinflusst hat.“ Die überall in Osteuropa entstehenden Menschenrechtsgruppen hielten untereinander Kontakt, stimmten ihre Bemühungen wenn möglich aufeinander ab und bildeten auf diese Weise ein länderübergreifendes Netzwerk.

Unterdrückt und doch wirksam

Die Moskauer Helsinki-Gruppe wurde vom KGB zwar von Anfang an schikaniert, aber nicht gleich vollständig unterdrückt. Von der Gründung im Mai 1976 bis zu Orlows Verhaftung im Februar 1977 ließen die Behörden die Gruppe mehr oder weniger gewähren. So entstand ein Zeitfenster von neun Monaten, in dem sich die Aktivistinnen und Aktivisten organisieren, internationale Kontakte knüpfen und 18 Dokumente zu Menschenrechtsverletzungen veröffentlichen konnten. Im Februar 1977 wurden die Repressionen gegen die Mitglieder verschärft, viele wurden verhaftet und zu längeren Haftstrafen verurteilt.

Dieses Vorgehen wurde international verurteilt, doch die sowjetischen Behörden ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie sahen in der Moskauer Helsinki-Gruppe eine ernste Bedrohung, was sich auch darin zeigte, dass der Prozess gegen Anatoli Schtscharanski im Politbüro der KPdSU erörtert wurde. Dabei erklärte Juri Andropow, der Leiter des KGB, dass Schtscharanskis Strafmaß ebenso wie das von Orlow von seinem Verhalten im Prozess abhänge. Am Ende musste Schtscharanski neun Jahre im Straflager ertragen, bis er dank der Bemühungen seiner Frau Avital und einer internationalen Kampagne im Rahmen eines Agentenaustauschs freikam und nach Israel emigrierte.

Mit ihrem harten Durchgreifen hofften die Behörden in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, in Polen und anderen Ländern, die Flut von Berichten über Menschenrechtsverstöße einzudämmen, insbesondere im Vorfeld der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad. Doch am Ende erregte die Unterdrückung von Aktivisten wie Orlow und Schtscharanski beträchtliche internationale Aufmerksamkeit. Die Moskauer und andere Beobachtergruppen verfügten über gute Kontakte zu westlichen Nichtregierungsorganisationen und den KSZE-Unterzeichnerstaaten, entsprechend konnten sie auf internationale Unterstützung zählen, wenn gegen sie vorgegangen wurde.

Im Rahmen des Helsinki-Prozesses hatte sich ab Mitte der 1970er Jahre ein internationales Unterstützernetzwerk gebildet. Wie konnte aus den Bestrebungen einer kleinen Dissidentengruppe in Moskau eine so große Bewegung werden? Dafür gibt es mehrere Gründe.

Erstens sammelten und verbreiteten die Mitglieder der Helsinki-Gruppen konkrete Informationen wie etwa ihre Berichte über Menschenrechtsverletzungen.

Zweitens gelang es den Gruppen, die Lage in ihrem Land auch fernen Beobachtern anschaulich darzulegen. So konnte etwa die Moskauer Helsinki-Gruppe mit ihren Dokumenten die schlechte allgemeine Menschenrechtssituation anhand persönlicher, bewegender Geschichten einem internationalen Publikum vermitteln. Ähnlich verfuhren auch die Familien und Freunde von politischen Gefangenen.

Drittens stützten sich die Gruppen fast immer auf einflussreiche Persönlichkeiten, die sich für ihre Ziele stark machten. Die Helsinki-Aktivisten setzten auf die internationale Diplomatie und Politik, die ihnen für ihre Arbeit den nötigen Rückhalt boten.

Viertens erinnerten die Aktivisten die jeweiligen politischen Führungen an die Verpflichtungen, die sie mit der Unterzeichnung der Schlussakte eingegangen waren. Damit nutzten sie ein grundlegendes Element des Helsinki-Prozesses, der vorsah, dass Beobachter und Folgekonferenzen die Umsetzung der im August 1975 getroffenen Vereinbarungen sicherstellen. Die Helsinki-Beobachtergruppen verwendeten all diese Instrumente, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren und die Aufmerksamkeit und Unterstützung des Auslands für ihre Sache zu gewinnen.

Insbesondere im Vorfeld der nahenden Belgrader Folgekonferenz 1977 dokumentierten Beobachtergruppen in einer Reihe von osteuropäischen Staaten Verstöße gegen die Schlussakte von Helsinki und arbeiteten daran, ihre Ergebnisse international zu kommunizieren. Sie wussten, dass die Konferenz eine ideale Gelegenheit bot, um auf ihre Notlage und die Probleme in ihren Ländern hinzuweisen. Viele der Helsinki-Aktionsgruppen waren zu diesem Zeitpunkt auch schon außerhalb Osteuropas sehr bekannt. Durch ihre Arbeit lieferten sie wichtige Hinweise und Belege für Menschenrechtsverletzungen, deckten Repressionsmaßnahmen auf und sorgten vor allem bei besonders beunruhigenden Fällen für die nötige internationale Aufmerksamkeit. Nach und nach zeigte ihr Einsatz Wirkung: Am Ende verhalf das transnationale Helsinki-Netzwerk der Schlussakte von Helsinki zu mehr Geltung und sorgte für eine bessere Überwachung der Menschenrechte. Für diese Sache war die Arbeit der osteuropäischen Helsinki-Gruppen von entscheidender Bedeutung – doch um einen umfassenden Wandel herbeizuführen, brauchte es weitere Verbündete auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“. Dieser Wandel sollte erst noch kommen.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag beruht auf Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, © Cambridge University Press 2011. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

  2. Interview der Autorin mit Juri Orlow, 27./28.3.2008. Vgl. auch William Korey, The Promises We Keep: Human Rights, the Helsinki Process and American Foreign Policy, New York 1993.

  3. „Refuseniks“ (abgeleitet vom Englischen refuse, verweigern) bezeichnet Personen, denen die Ausreise aus der Sowjetunion verwehrt wurde (Anm. d. Red.).

  4. „Samisdat“ lässt sich mit „selbst herausgegeben“ übersetzen und bezeichnet Texte, die nicht systemkonform waren, etwa verbotene Literatur oder Berichte über Missstände, und deshalb heimlich verlegt und verbreitet wurden.

  5. Anatoli Dobrynin, In Confidence: Moscow’s Ambassador to America’s Six Cold War Presidents, New York 1995, S. 346.

  6. Anatoli Schtscharanski änderte seinen Namen nach seiner Auswanderung nach Israel 1986 in Natan Scharanski. Vgl. Robert F. Drinan, The Mobilization of Shame. A World View of Human Rights, New Haven 2001.

  7. Ljudmila Alexejewa, Soviet Dissent. Contemporary Movements for National, Religious, and Human Rights, Middletown 1987, S. 336.

  8. Vgl. Pjotr G. Grigorenko, Erinnerungen, München 1981.

  9. Vgl. Juri Orlow, Ein russisches Leben, München 1992, S. 229.

  10. Vgl. Andrej Amalrik, Aufzeichnungen eines Revolutionärs, Frankfurt/M. 1983, S. 385.

  11. Alexejewa (Anm. 7), S. 345f.

  12. Vgl. Amalrik (Anm. 10), S. 387.

  13. Vgl. Walter Parchomenko, Soviet Images of Dissidents and Nonconformists, New York 1986.

  14. Interview der Autorin mit Natan Scharanski, 19.11.2008.

  15. Schlussakte von Helsinki, 1.8.1975, Externer Link: https://www.osce.org/files/f/documents/6/e/39503_1.pdf.

  16. Interview Orlow (Anm. 2).

  17. Interview Scharanski (Anm. 14).

  18. Alexejewa (Anm. 7).

  19. Charta 77, 1. Januar 1977, in: Hans-Peter Riese (Hrsg.), Bürgerinitiative für die Menschenrechte: Die tschechoslowakische Opposition zwischen dem „Prager Frühling“ und der „Charta ’77“, Frankfurt/M. 1977, S. 45.

  20. Human Rights Watch Records, Havel Day, 22.2.1990.

ist Professorin für Geschichte an der School of International Service der American University in Washington, D.C. Sie forscht unter anderem über den Einfluss nichtstaatlicher Akteure auf die Außenbeziehungen der USA.