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Institutionelles Risikomanagement | Risikokompetenz | bpb.de

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Institutionelles Risikomanagement

Martin Voss

/ 17 Minuten zu lesen

Institutionelles Risikomanagement betrifft nicht nur die Risikoeinschätzung durch Organisationen und Behörden. Im Gegenteil: In einer Demokratie sollten Bürgerinnen und Bürger über geeignete Verfahren aktiv in Prozesse der Risikobewertung einbezogen werden.

Bei vielen Themen gilt, dass sich, je genauer man hinschaut, mehr und mehr entzieht, wonach man eigentlich sucht. Obwohl allenthalben vom Management von Risiken gesprochen wird, ergibt sich beim genaueren Hinsehen nur ein heillos unübersichtliches Durcheinander von zahllosen Risikokonzeptionen, Risikobewertungsverfahren oder Risikopolitiken. So gibt es zum Beispiel ein Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Das klingt, als gäbe es eine Einrichtung, die genau das verkörpert und betreibt, was hier im Folgenden beschrieben werden soll: institutionelles Risikomanagement. Tatsächlich bewertet dieses Institut aber keineswegs Risiken an sich. Sein gesetzlicher Auftrag ist die Bewertung der Risiken "von Lebens- und Futtermitteln sowie von Stoffen und Produkten als Grundlage für den gesundheitlichen Verbraucherschutz der Bundesregierung". Das Umweltbundesamt (UBA) wiederum bewertet eine Reihe von Umweltrisiken, etwa von Chemikalien oder von Verkehr und Lärm, und folgt dabei jeweils gegenstandsbezogen spezifischen Vorgehensweisen. Aber es deckt damit mitnichten sämtliche Umweltrisiken ab. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) schließlich hat eine Methode zur Analyse von Risiken entwickelt, die aber keineswegs das ganze Spektrum an Risiken für die Bevölkerung bewertet. Die Methode und ihr jeweiliger Betrachtungsgegenstand sind das Resultat eines "fachlichen Austausches mit den Ländern, zahlreichen Bundesbehörden sowie Wissenschaftseinrichtungen", in dessen Zuge spezifische Risiken als besonders relevant identifiziert wurden.

Allein auf Bundesebene lassen sich zahllose, jeweils ganz eigenen Risikoverständnissen und Heuristiken folgende institutionelle Arrangements finden. Jedes Bundesland hat seine eigenen Ansätze und jede Organisation oder jedes private Unternehmen sowieso. Auch wenn sich die meisten dieser Einrichtungen wissenschaftlicher Methoden bedienen, bedeutet dies noch nicht, dass sie Risiken "objektiv" bewerten würden – wenn man damit zum Ausdruck bringen will, dass die Sichtweisen und die Ergebnisse unabhängig seien von sozialen Einflussfaktoren, die das Ergebnis in die eine oder die andere Richtung beeinflussen können. Vielmehr ist schon das institutionelle Arrangement an sich Produkt dieser Einflüsse. Kurzum: Das institutionelle Risikomanagement gibt es tatsächlich gar nicht. Was es gibt, ist ein sozialhistorisch entstandenes, mal mehr, meist aber weniger bis gar nicht integriertes Sammelsurium von Bewertungsschemata und Handlungspraktiken, die mit dem Begriff "Risikomanagement" zusammengefasst werden.

Risikoperzeptionen

Risiken existieren nicht einfach. Risiken sind, wie alle Begriffe und Kategorien, mit denen wir die Welt begreifen, das Produkt einer Kulturgeschichte. Was wir als Risiko wahrnehmen, ist nicht einfach gegeben, sondern hängt davon ab, wie wir uns selbst und die Welt an sich erfahren und interpretieren. Ein Risiko kann in unserem Alltag im Grunde alles sein: vom Risiko, den Regenschirm im Zug zu vergessen bis zum Risiko, Opfer eines Terroranschlages zu werden. Wir bewerten Risiken ganz unterschiedlich, mal "aus dem Bauch heraus", mal durch die Befragung von Ingenieuren, die sich bei ihren Berechnungen zur Wahrscheinlichkeit eines atomaren GAUs auf komplizierte wissenschaftliche Methoden berufen. Welche Heuristik am Ende die "richtige" ist, lässt sich nicht außerhalb gesellschaftlicher Bezüge sagen. Risiko ist ein "Beziehungsbegriff" – nur in Bezug auf etwas, nur für jemanden und nur innerhalb eines bestimmten kulturellen Rahmens "gibt" es Risiken.

Das Spektrum unserer Wahrnehmungsformen von Risiken ist ebenso schwer zu greifen wie das der auf Risiken bezogenen Maßnahmen. Anders gesagt: Wie wir Risiken "managen", ist durchaus vielfältig. Aber unsere Art und Weise, Risiken zu beobachten und mit ihnen umzugehen, ist nicht beliebig. Was wir hier und heute in Deutschland unter "Risiko" verstehen, hat sich über Jahrhunderte formiert. Ein Korpus an Aussagen darüber, wie die Welt beschaffen ist – eine Kugel, wie man heute weiß, die weniger durch das Wirken eines Gottes als vielmehr mit Naturgesetzen zu erklären ist –, bildet unseren Beobachtungs- und Erklärungsrahmen. Vorstellungen von Leben und Tod, von Vernunft und Rationalität, von Subjekt und Objekt, von Gut und Böse, Ideologien, die zu wissen vorgeben, wie der Mensch seiner Natur nach sei – all dies hat sich in endlosen, miteinander verschachtelten Debatten herausgebildet. Es hat unsere Vorstellungen davon beeinflusst, was wir fürchten, und es hat einige Bereiche hervortreten lassen, auf die bezogen sich ein institutionelles Risikomanagement entwickelt hat. Was ein Risiko ist und wie wir damit umgehen, hängt an diesen Bedingungen. Das heißt aber auch: Unter anderen Bedingungen würden wir andere Risiken sehen, Risiken anders begreifen und auch anders mit ihnen umgehen.

Ob Geflüchtetenkrise 2015/2016, Coronapandemie oder das Hochwasser im Juli 2021: In immer kürzeren Abständen wird die Leistungsfähigkeit des Katastrophenschutzes in Deutschland diskutiert, und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch den Zivilschutz, die zweite Säule des Bevölkerungsschutzes in Deutschland, wieder verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Der institutionalisierte Schutz der Bevölkerung wird im Folgenden als ein Beispiel für institutionelles Risikomanagement im Allgemeinen betrachtet. Es wird zu zeigen sein, dass es dieses institutionelle Risikomanagement nur als vielschichtiges, sozial strukturiertes Arrangement, nicht aber als ein wohlgeordnetes, nach rationalen Kriterien organisiertes und integriertes Ganzes gibt – wie sehr man es sich vielleicht auch wünschen würde. Um sinnvoll darüber sprechen zu können, wie gut oder wie schlecht unser institutionelles Risikomanagement ist, ist es wichtig, sich von dem Gedanken zu befreien, dieses sei das rationale Resultat wissenschaftlicher Analysen, das sich fortwährend nur noch etwas weiter optimieren müsse. Dieser Denkrahmen hindert uns nämlich daran, die uns gefährdenden Risiken und das, was wir ihnen entgegenzusetzen haben, realistisch zu bewerten. Solange man glaubt, es gäbe bereits ein sich selbst nach und nach optimierendes Arrangement zum Management von Risiken, geraten nur die immer gleichen Antworten in den Blick. So aber gelingt es uns nicht, ganz anders gelagerte, möglicherweise sehr viel effizientere oder gar existenziell notwendige Antworten überhaupt erst in Betracht zu ziehen. Deshalb soll im Folgenden zunächst – exemplarisch anhand des Bevölkerungsschutzes – ein Blick darauf geworfen werden, wie es zu unseren heutigen Formen des Umgangs mit Risiken überhaupt kam. Anschließend wird unser heutiges institutionelles Risikomanagement strukturell analysiert, um darauf aufbauend perspektivisch zu skizzieren, wie es sich aus den tradierten Pfaden lösen und in ein zukunftsfähigeres Arrangement weiterentwickeln könnte.

Vom sozialen Ursprung des Umgangs mit Risiken

Wie also kam es zu unserem heutigen Umgang mit Risiken? Als erstes sei erwähnt, dass es bei der Entstehung institutionalisierten Risikomanagements nicht nur wenig rational, sondern insbesondere auch wenig fair zuging. An den vielschichtigen Debatten, die die Grundlage unseres Verständnisses von Risiken bilden, waren hierzulande wenigstens seit der Antike kaum jemals alle potenziell Betroffenen beteiligt. Meist war der größte Teil derer, die Risiken ausgesetzt waren, von diesen Verhandlungen ausgeschlossen. Gestalten konnte, wer über besondere Ressourcen (Geld, soziale Netzwerke, Prestige) verfügte, er (es waren meist nur Männer) konnte definieren, was von der Obrigkeit zum Schutze der Untertanen getan werden sollte; nur selten konnte das normale Volk hierauf wenigstens in geringem Maße Einfluss ausüben. Wer im materiellen Sinne mehr zu verlieren hatte, konnte definieren, worum sich alle, also auch die, die "nur" das nackte Leben zu verlieren hatten, zu kümmern hatten. So ist das, was wir heute gleichsam für "natürlich" halten, historisch gewachsen.

Eine detaillierte Geschichte institutionalisierten Risikomanagements in Deutschland muss erst noch geschrieben werden. Aber es kann exemplarisch veranschaulicht werden, wie sich unsere Risikowahrnehmung herausgebildet hat und welche Antworten auf Risiken wir institutionalisiert haben. So entstanden beispielsweise die ersten "Feuerwehren" auf Initiative reicher Römer, die Sklaven dafür abstellten, um ärmeren Bürgern im Falle eines Falles "Löschgeld" abzupressen: Solange es keine Einigung über den zu zahlenden Betrag gab, wurde auch nicht gelöscht. Aber einmal in der Welt, entwickeln Lösungen mitunter eine eigene Dynamik. Nach und nach entwickelte sich eine der Allgemeinheit dienende Institution, allerdings eher als zufälliges Nebenprodukt: Denn zunächst ging es nicht einfach um den Schutz von Menschen – und schon gar nicht aller Menschen gleichermaßen – oder das Abwenden eines "objektiven" Risikos. Erst die Idee, dass mit dem Angebot einer auch für ärmere Schichten tätigen Feuerwehr Wahlen zu gewinnen waren, führte zur ersten kostenlosen Feuerwehr.

Diese sozialen, von Ungleichheit durchdrungenen, also alles andere als natürlichen Verhältnisse erklären unseren aktuellen Handlungsrahmen aber nicht vollständig. Ohne Ereignisse wie die großen Brände innerhalb der römischen Stadtmauern oder auch die verheerenden Sturmfluten an der Nordseeküste hätte sich das institutionelle Risikomanagement nicht auf diese Weise entwickelt. Und ohne die Entwicklung von Feuerlöschtechniken oder des Deichbaus sähe unser institutionelles Katastrophenrisikomanagement heute anders aus. Ereignisse und Technologieentwicklungen beeinflussten die Entwicklung des institutionalisierten Risikomanagements. Wichtig ist, nicht ausschließlich auf das Ereignis selbst, auch nicht auf die diesem ursächlich zugeschriebene und für natürlich gehaltene Gefahr zu schauen. Welche Deutungen und welche Umgangsweisen sich entwickelten, war maßgeblich nicht durch die Ereignisse, sondern durch die sozialen Verhältnisse determiniert, auf die sie trafen.

Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein galten für das Denken in Bezug auf Risiken Regeln, die heute viel an regulierender Kraft verloren haben. Jahrhundertelang fand alle menschliche Furcht und Sorge ihren Bezugspunkt im Göttlichen. Was auch immer an Unglück geschah, es war Strafpredigt Gottes, zeichengebend, für welche Sünde auch immer. Alles Tun musste sich bewähren, das Abwägen "riskanter" Handlungen hatte neben der Gefahr eines Verlustes an Gütern oder gar des Lebens zugleich auch noch das Potenzial, den lieben Gott zu erzürnen. Schon bevor sich spezifische Formen und Verfahren zur Bewertung von Risiken entwickelten, wurden Wagnisse eingegangen und abgewogen, auf welche Konsequenzen man sich bei einem Unterfangen einlassen wollte und was man besser bleiben ließ. Abwägen hieß dabei meist, nicht nur "in sich" zu gehen, sondern sich im Sinne eines auf die Gemeinschaft ausgerichteten Ichs mit anderen zu beraten – mit der Familie, den Freunden, der Gemeinde, den Geschäftspartnern. Im Alltag hat sich daran gar nicht so viel verändert. Noch immer beraten wir uns mit unseren engsten Vertrauten, wenn es um risikobehaftete Entscheidungen geht. Aber über diesen Risikobewertungen des Alltags hat sich ein Arrangement entwickelt, das gänzlich anderen Regeln folgt und eigenen Methoden unterliegt. Wie ist es zu dieser Doppelung, oder vielleicht besser: Spaltung, in der Bewertung von Risiken gekommen?

Deutungs- und Handlungswandel

Im 18. Jahrhundert vollzog sich ein gravierender Wandel des Deutungs- und Handlungsrahmens, der nicht abrupt eintrat, sondern sich über Jahrhunderte anbahnte. Die Pest im 14. Jahrhundert, der in Europa vielleicht ein Drittel und im Gebiet des heutigen Deutschlands ein Zehntel der Bevölkerung zum Opfer gefallen war, mag für diesen Prozess eine wichtige Rolle gespielt haben. Dieses unfassbare Leid muss die Frage aufgeworfen haben, wer daran die Schuld trägt – einen Sündenbock fand man in den Juden, es kam zu den sogenannten Pestpogromen zwischen 1348 und 1351. Aber das Leid war so groß, dass auch die Vorstellung eines gerechten Gottes ins Wanken geriet. Die vom Bibeldruck beschleunigten konfessionellen Auseinandersetzungen, die schließlich in den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) mündeten, trieben den Zweifel immer tiefer in die ständische Gesellschaft. Die Erdbebenkatastrophe von Lissabon 1755 zerstörte das damalige Zentrum der Christenheit und verschüttete die Gläubigen während der Allerheiligenmesse, ließ aber das Rotlichtviertel weitgehend in Takt. Wie konnte Gott das zulassen? Das physikotheologische Denken vermochte eine Brücke zu schlagen zwischen den radikalen Zweiflern wie etwa Voltaire und dem konservativen Klerus, der die Leibniz-Pope’sche These von der besten aller Welten verteidigte: Die Katastrophe, so argumentierten die Physikotheologen, sei nicht nur Strafpredigt Gottes für die generelle Sündhaftigkeit des Menschen, sondern vielmehr Aufforderung zum Handeln. Gott lässt das Leid zu, auf dass sich der Mensch seiner eigenen Verantwortung bewusst werde, die er für die göttliche Schöpfung trägt. Der damalige Außenminister Portugals, Sebastião de Mello, der spätere Marquês de Pombal, nahm sich dieser Aufgabe pragmatisch an: "Und nun?", soll er gefragt haben. "Begrabt die Toten und ernährt die Überlebenden!"

Aus dieser Gemengelage heraus konnte sich nun der grundlegende Wandel vollziehen, der längst schon in der Luft lag. Für die Zeit der Vormoderne kann der symbolische Bezugsrahmen mit dem philosophischen Begriff der "Theodizee" umschrieben werden. Die Kirche hatte in Allianz mit der Obrigkeit eine hegemoniale Position im Bereich der Deutungen von dem inne, was wir heute als Risiken bezeichnen würden, insbesondere von Natur und Naturgefahren. Diese wurde nun durch eine neue Allianz aus abstraktem natur- und ingenieurswissenschaftlichem Wissen und einem sich etablierenden Feld der Politik abgelöst. Vor diesem Hintergrund konnte sich der schwedische Naturforscher Carl von Linné ans Werk begeben, alle Naturerscheinungen in eine einzige große Ordnung zu bringen, befreit von allem, was den einzelnen Formen bis dato an Mystik, Erzählungen, Mehrdeutigkeiten und Transzendenz noch zugeschrieben wurde. So entstand in einem bis heute andauernden "Reinigungsprozess" das, was wir nun als Natur bezeichnen, und es entstand zugleich ihr Gegenüber: die Gesellschaft und in ihr der Mensch, so wie wir ihn heute denken, als Individuum.

In diesem Rahmen formierte sich das heutige Wissenschaftssystem mit seinen disziplinären Gliederungen, es konstituierten sich Verwaltungen mit ihren bürokratisch unterlegten Arbeitsteilungen, es wurden Organisationen gegründet, wie beispielsweise das Rote Kreuz, mit jeweils spezifischen Zielsetzungen. Alles, was wir derart anführen müssen, um zu verstehen, wie wir heute Risiken beobachten und wie wir uns auf Risiken beziehen, unterlag zeit- und kontextspezifischen Konstruktionsregeln. Und alles heißt: Nicht nur die lebensweltliche Sicht auf Risiken, sondern eben auch die neue wissenschaftliche Sichtweise war von Anfang an sozial und nicht objektiv-rational strukturiert. Es ist wichtig, sich dieser konstitutiven Grundlagen bewusst zu werden, bevor über Probleme des gegenwärtigen und Möglichkeiten zur Entwicklung eines zukunftsfähigen, auf Nachhaltigkeit gerichteten institutionellen Risikomanagements gesprochen werden kann. Denn die Probleme, vor denen wir heute stehen, liegen womöglich weitaus tiefer in ebendiesen sozial geprägten Strukturen begründet.

Institutionelles Risikomanagement in Zeiten existenzieller Krisen

Was wir heute als institutionelles Risikomanagement vorfinden, ist also nicht das Produkt einer auf die Abwehr oder die Bewältigung von Risiken gerichteten wissenschaftlich-rationalen Entwicklungsstrategie, sondern das Produkt sozialer, von Ungleichheit geprägter Verhältnisse. Es ist nicht das bestmögliche Arrangement, sondern das, was die Kräfteverhältnisse hervorgebracht haben. Deshalb ist es wichtig, sich dieser tradierten Strukturen bewusst zu werden, mit ungetrübtem Blick die damit einhergehenden Verengungen zu sehen und von diesen befreit das Management von Risiken im Angesicht existenzieller Gefahren optimal zu gestalten. Wie müsste ein solch optimales institutionalisiertes Risikomanagement aussehen? Was sollte es leisten? Eine umfassende Antwort kann in diesem Beitrag nicht gegeben werden; wohl aber können Überlegungen angestellt werden, wie der Weg dorthin aussehen könnte.

Im demokratischen Rechtsstaat gibt die Verfassung den Handlungsrahmen für das institutionelle Risikomanagement vor. So heißt es in Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Der Staat ist zu einem effektiven Schutz der Bevölkerung verpflichtet, und dabei sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich (Art. 3 Absatz 1 GG). Niemand darf, so Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, "wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden". Die Bewertung von Risiken für die Bevölkerung darf sich, schon um dem Grundgesetz zu entsprechen, also weder von Partikularinteressen noch von dem Rahmen tradierter disziplinärer Sichtweisen oder behördlichen Strukturen begrenzen lassen, sondern muss an den Bedarfen einer heterogenen Bevölkerung ansetzen.

Wie aber können diese oft sehr partikularen und häufig zueinander in Widerspruch stehenden Bedarfe so abgebildet werden, dass es gerechter wird? Hierzu haben Demokratien wie die unsere eine komplexe Governance entwickelt, die maßgeblich vom Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) lebt. Dieses wird durch ein System von Checks and Balances zur Aufrechterhaltung der Gewaltenkontrolle geschützt. Es findet seinen praktischen Ausdruck etwa in freien und gleichen Wahlen, aber auch in vielfältigen Formen der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Im Bereich des Managements von Risiken sind solche Verfahren jedoch kaum ausgebildet. Hier ist zuallererst anzusetzen.

Gesellschaftliche Normen, Werte und Erwartungen sowie Wissensstände verändern sich, was Risiken in verändertem Licht erscheinen lässt. Risiken müssen daher fortlaufend neu – und zwar nicht nur von den Behörden und Organisationen, sondern letztlich vor allem vom Demos, von der heterogenen Bevölkerung selbst – bewertet werden. Dazu braucht es entsprechende Institutionen und Verfahren, die einen fortgesetzten Dialog über Risiken ermöglichen. Dies wiederum setzt zweierlei voraus: zum einen, dass das für solche Entscheidungsprozesse erforderliche Wissen über potenzielle Risiken (was nicht nur die wissenschaftlich identifizierten, sondern auch die von der Gesellschaft selbst wahrgenommenen Risiken umfasst) und die zu ihrer Abwehr notwendigen und vorhandenen Ressourcen vorliegt und transparent ist; zum anderen setzt es voraus, dass dieses Wissen so aufbereitet wird, dass es nicht bloß theoretisch, sondern ganz praktisch zugänglich ist. Es muss also aktiv vermittelt werden. Ohne dieses Wissen ist nicht zu erwarten, dass Bürgerinnen und Bürger von sich aus kritisch beobachten, welche politischen oder auch wirtschaftlichen Entscheidungen zu einer zunehmenden Gefährdung ihrer selbst führen könnten. Und ohne dieses Wissen ist ihnen auch nicht vermittelbar, dass sie selbst Schutzmaßnahmen ergreifen sollten, weil ihre individuelle Resilienz im Falle einer schweren Katastrophe oder eines Krieges die wichtigste Ressource überhaupt bildet. Eine Gesellschaft, die nicht über Risiken und Ressourcen zur Risikoprävention beziehungsweise zum Risikomanagement kommuniziert, kann kein institutionelles Risikomanagement entwickeln, das nachhaltig und zukunftsgerichtet auf die Bedarfe der Gesellschaft gerichtet ist, sondern muss zwangsläufig im Rahmen von historisch geronnenen, von machtvolleren Partikularinteressen strukturierten Sichtweisen verbleiben.

Kommunikation an sich ist schon überaus anspruchsvoll, die Kommunikation über Risiken ist aber noch einmal anspruchsvoller. Moderne, arbeitsteilig ausdifferenzierte und auf betriebswirtschaftliche Effizienz "optimierte" Bürokratien und Verwaltungen können mit der Komplexität von Risiken nur schwer umgehen. Sie haben es im Zuge der politisch-ideologisch gewollten "Verschlankung des Staates" und mit dem Verweis auf die vermeintlich alles regelnden Kräfte des Marktes über Jahrzehnte vernachlässigt, der realen Risikoentwicklung mit dem Aufbau entsprechender Komplexitätskontrollkapazitäten zu begegnen. Entsprechend sind neue institutionelle und personelle Kompetenzen zu entwickeln, die den Aufbau solcher Kontrollkapazitäten überhaupt erst ermöglichen.

Grundlegend dafür ist die kommunikative Entwicklung eines Bewusstseins für das Entstehen und für die Verringerung von vernetzten Risiken. Den Menschen heute und zukünftig existenziell gefährdende Risiken treten nur in Ausnahmefällen isoliert auf, meist sind sie komplex mit vielfältigen Prozessen verwoben. Weder haben sie in den meisten Fällen eine identifizierbare alleinige Ursache, noch sind ihre Konsequenzen determiniert. Schon deshalb braucht es eine Haltung beziehungsweise eine "Kultur" und entsprechend daraufhin ausgebildete Kräfte, die in der Lage sind, das Entstehen von Risiken in der Wechselwirkung so unterschiedlicher Bereiche wie etwa der Landwirtschaft, dem Wohnungsbau, der Technologieentwicklung, der Energieversorgung, der globalen Verflechtung von Lieferketten, außenpolitischen Beziehungen und anderem mehr unter sich dynamisch verändernden gesellschaftlichen Bedingungen zu bewerten. Solche "Komplexitätskompetenz" erwächst in versäulten, disziplinären Strukturen und nicht miteinander kommunizierenden Ressorts aber nicht von alleine, sondern sie muss grundlegend geschaffen werden. Es braucht nicht zuletzt viel Erfahrung in vielen verschiedenen, miteinander vielleicht nur auf den zweiten Blick erkennbar zusammenhängenden Bereichen. Entsprechend bedarf es auch dafür geeigneter institutioneller Arbeitsbedingungen: der Freiheit, über den Tellerrand blicken zu dürfen; Ressourcen, um sich über viele Jahre mit großen Teams an spezifischen Themenfeldern abarbeiten zu können; Publikationsorgane, die komplexe Analysen abzudrucken bereit sind, obwohl ihnen vielleicht die empirische Evidenz fehlt, weil ja gerade bislang nicht Beobachtetes berücksichtigt werden soll. Und es bräuchte unternehmerische Verantwortung sowie eine Öffentlichkeit, die sich in entsprechend zu entwickelnden und anzubietenden Formaten engagiert, sich in diese Prozesse mit hineinbegibt, sich aktiv beteiligt und selbst zur Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Risikokultur beiträgt. Problematisch und undemokratisch wäre es hingegen, solche Prozesse der kollektiven Risikobewertung von vornherein mit dem Argument knapper Mittel zu beschneiden. Im Vordergrund sollte die Frage stehen, welchen Schutz die Gesellschaft will und braucht – um dann erst in einem zweiten Schritt danach zu fragen, welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit ist.

Noch vor wenigen Jahren galt als Alarmist, wer vor dem gleichzeitigen Auftreten gesellschaftspolitischer Verwerfungen, einer Pandemie, einem Hochwasser und einem (realistischer werdenden) Zivilschutzfall gewarnt hätte. Von "Integriertem Allgefahrenmanagement" oder "Multi-Risikomanagement" spricht man neuerdings aber nicht mehr nur in der Forschung. Ziel müsse es sein, so ist es etwa in dem sogenannten Sendai-Rahmenprogramm der Vereinten Nationen zur Reduktion von Katastrophenrisiken formuliert, die vielfach miteinander verwobenen Kausalketten und Kaskaden von vielfältigen (Katastrophen-)Risiken auch in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension zu beobachten. Bislang ist die Bewertung von Risiken jedoch institutionell gänzlich auf Einzelrisiken ausgerichtet, und sie ist statisch angelegt: Was einmal als Risiko identifiziert wurde, wird kaum einer weiteren Bewertung unterzogen. Dass die Folgen technischer Entwicklungen aber zum Beispiel kaskadierende, in zunächst gar nicht bedachte gesellschaftliche Sphären hineinwirkende Effekte haben können, dass die Auswirkungen von Risikoentscheidungen hierzulande vielleicht positive, in anderen Weltregionen aber möglicherweise negative Folgen haben können, all diese komplexeren Effekte finden bislang keine nennenswerte systematische Berücksichtigung. Das institutionelle Risikomanagement muss gleichsam selbst dynamisch und systemisch werden, also die Kompetenz entfalten, sich im Prozess entwickelnde Effekte zu beobachten und sie reflexiv in die fortlaufend zu revidierenden Risikobewertungen einzubeziehen.

Ein derart aus der Gesellschaft heraus entwickeltes Risikomanagement könnte zu gänzlich anderen Antworten gelangen. Wo bislang kaum etwas anderes in den Blick geraten kann als Technik, würden vielleicht strukturelle gesellschaftliche Faktoren in den Vordergrund rücken: Pufferkapazitäten, Flexibilitäten, Handlungs- und Gestaltungsfreiheiten; eine grundlegende soziale Absicherung, die alle Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, weiter in die Zukunft zu denken; Lebensqualität anstelle von Wachstum als Leitidee; Maßnahmen, die auf den Erhalt beziehungsweise den Ausbau von Vertrauen und Solidarität zielen – all dies könnte zum Dreh- und Angelpunkt des Risikomanagements werden.

Ziel dieses Beitrages war nicht die Ausformulierung eines idealen institutionellen Risikomanagements. Ziel war es vielmehr, die Sichtweise auf das institutionelle Risikomanagement zu weiten, damit neue Handlungsoptionen in den Blick geraten. Angesichts einander überlagernder existenzieller Risiken mit gänzlich offenem Ausgang erscheint dies wichtiger denn je.

Fussnoten

Fußnoten

  1. BfR, Gesetzlicher Auftrag, o.D., Externer Link: http://www.bfr.bund.de/de/gesetzlicher_auftrag-7465.html.

  2. Vgl. Externer Link: http://www.umweltbundesamt.de/tags/risikobewertung.

  3. Vgl. UBA, Umweltrisikobewertung, 20.4.2020, Externer Link: http://www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/biozide/umweltrisikobewertung#wie-werden-umweltrisiken-ermittelt.

  4. BBK, Risikoanalysen Bund und Länder, o.D., Externer Link: http://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Risikomanagement/Risikoanalysen-Bund-Laender/risikoanalysen-bund-laender_node.html.

  5. Ich differenziere in diesem Beitrag um der besseren Lesbarkeit willen nicht zwischen Risiken und Gefahren, wie ich es an anderer Stelle getan habe. Siehe hierzu Martin Voss, Symbolische Formen. Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe, Bielefeld 2006, S. 44–58.

  6. Vgl. Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2021.

  7. Zur Geschichte des Risikoverständnisses siehe Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995.

  8. Vgl. Wolfram Geier, Strukturen, Akteure und Zuständigkeiten des deutschen Bevölkerungsschutzes, in: APuZ 10–11/2021, S. 16–22.

  9. Dass es in der Welt entweder immer schon ungleich zuging oder aber der Mensch mit der Sesshaftigkeit den Zustand des "edlen Wilden" verlassen habe und in der Ungleichheit gelandet sei, ist beides gleichermaßen falsch, zieht sich aber als Hintergrundannahmen durch zentrale gesellschaftliche Debatten. Seit der Antike aber ist Ungleichheit zu einem dauerhaften Strukturmoment der Gesellschaft geworden. Siehe hierzu z.B. David Graeber/David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022.

  10. Vgl. Karl-Wilhelm Weeber, Alltag im Alten Rom. Das Stadtleben, Mannheim 2010.

  11. Vgl. Voss (Anm. 5).

  12. Vgl. Wolf R. Dombrowsky, Risiko als Ideologem der Moderne, in: Ökologisches Wirtschaften 4/2005, S. 27ff.

  13. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte bekanntlich sinngemäß argumentiert, dass die von Gott geschaffene Welt das Übel enthalte, weil es ohne dieses das Gute nicht gäbe. Alexander Pope schrieb den berühmten, von Hegel aufgegriffenen Satz: "Whatever is, is right." Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, Frankfurt/M. 1986 [1879]; Alexander Pope, An Essay on Man, Indianapolis 1985 [1734]. Voltaire hatte für beider Optimismus nur beißenden Spott übrig.

  14. Quelle unbekannt.

  15. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1985.

  16. Es wird häufig eingewendet, dass der Staat nicht für alle potenziellen Gefahren in die Verantwortung genommen werden könne. Grundsätzlich ist diese Schutzpflicht aber grundrechtlich definiert, und es ist an der Gesellschaft, darüber zu entscheiden, wie weit dieses Versprechen auszulegen ist – insbesondere auch hinsichtlich der Frage, wie viele Steuergelder ihr dieser Schutz wert ist.

  17. Vgl. Martin Voss, Krisenmanagement in Deutschland: Kompetenz für Katastrophen, in: Die Zeit, 9.5.2022, S. 42.

  18. Vgl. United Nations Office for Disaster Risk Reduction, Sendai Framework for Disaster Risk Reduction 2015–2030, Externer Link: http://www.preventionweb.net/files/43291_sendaiframeworkfordrren.pdf.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Martin Voss für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Weitere Inhalte

ist Professor für Sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung und Leiter der Katastrophenforschungsstelle (KFS) an der Freien Universität Berlin.
E-Mail Link: martin.voss@fu-berlin.de