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(Spät-)Aussiedler aus Polen | (Spät-)Aussiedler in der Migrationsgesellschaft | bpb.de

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(Spät-)Aussiedler aus Polen

Marius Otto

/ 18 Minuten zu lesen

Bis 1989 stellten Zuwandernde aus Polen, speziell aus der Grenzregion Oberschlesien, die größte Gruppe der Aussiedler nach Deutschland. Ihre Lebenswelt bewegt sich dauerhaft in einem Spannungsfeld aus Integration in den deutschen Lebensalltag, regionaler Verbundenheit zu Oberschlesien und Sozialisierung in Polen.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verschieben sich die polnischen Grenzen auf Beschluss der Siegermächte westwärts. Circa sieben Millionen Deutsche müssen bis 1947 die nun zu Polen gehörenden Gebiete verlassen. Vertriebene aus Niederschlesien im März 1946. (© akg-images)

Migration zwischen Deutschland und Polen

Die Migration zwischen Polen und Deutschland hat seit dem Mittelalter eine lange Tradition. Die Zahl der Menschen mit polnischer Herkunft in Deutschland beträgt heutzutage schätzungsweise zwei Millionen, wobei diese Personen in unterschiedlichen Phasen unter jeweils anderen politischen und rechtlichen Voraussetzungen nach Deutschland gekommen sind.

Die Komplexität der deutsch-polnischen Migration liegt darin, dass sie durch politische Diskontinuitäten geprägt war. Ein Großteil des heutigen Staates Polen hat seine nationalstaatliche Zugehörigkeit mehrfach gewechselt, der polnische Staat wurde zeitweilig sogar aufgelöst. Häufige Grenzverschiebungen und die damit verbundene Unsicherheit der Bevölkerung über die staatliche Zugehörigkeit förderten fortwährend die Migration zwischen den Nationalstaaten, deren räumliche Ausprägungen immer wieder neu ausgehandelt wurden.

Erste größere Wanderungen zwischen den heute deutschen und polnischen Gebieten fanden im Rahmen der deutschen Ostkolonisation im Hochmittelalter statt. In Pommern und Schlesien beispielsweise stellten die deutschen Siedler im Laufe der Zeit die Bevölkerungsmehrheit. Ab Ende des 14. Jahrhunderts bildete sich ein litauisch-polnischer Unionsstaat, der bis zum 18. Jahrhundert Einfluss und Macht im östlichen Europa hatte. Sein Ende führte zur Aufteilung der Territorien unter den Nachbarstaaten Preußen, Österreich und Russland (Teilungen Polens 1772–1795).

In der Folgezeit wanderten bis 1914 aufgrund hohen Bevölkerungswachstums und verstärkter Armut in den Teilungsgebieten Polens 3,5 Millionen Menschen aus. In der Zwischenkriegszeit folgten weitere 1,5 Millionen. Das damalige Deutsche Reich war neben den USA, Frankreich und Kanada ein wichtiges Migrationsziel. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wanderten aus den preußischen Ostprovinzen zudem Bergarbeiter – "Ruhrpolen" genannt – in den Rhein-Ruhr-Raum aus.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der polnische Staat nach Auseinandersetzungen um Grenzfragen neu gegründet. Doch bereits 1939 wurde er nach dem Einmarsch der deutschen und sowjetischen Armee unter den Besatzungsmächten erneut aufgeteilt. Im Rahmen der Neugründung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben sich die polnischen Grenzen westwärts. Dies hatte die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten und später die Aussiedlermigration zur Folge.

Migration von Vertriebenen und Aussiedlern nach 1945

Das Ende des Zweiten Weltkrieges markiert den Beginn der für die Migration zwischen Deutschland und Polen so bedeutenden Wanderung von Vertriebenen und später von Aussiedlern. Ab 1944/45 übernahm die "Polnische Arbeiterpartei" die Macht und leitete den Übergang Polens in die sozialistische Ära ein. Aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten wurden zunächst bis Ende der 1940er-Jahre als "deutsch" eingestufte Personen vertrieben.

Mit Abschluss der Vertreibungen Ende der 1940er-Jahre änderten sich die Rahmenbedingungen für die Migration. Ausreisen wurden von der Regierung in Polen erschwert bzw. verwehrt, weil sie nicht zur polnischen Nationalitätenpolitik passten. Die polnische Verwaltung verfolgte das Ziel, die nach 1945 neu hinzugewonnenen Gebiete zu "repolonisieren". Sie sah ihre Aufgabe darin, die "polnisch autochthone Bevölkerung" zu "verifizieren" und damit eine möglichst homogene polnische Bevölkerung zu schaffen.

Gewöhnlich reichten für eine Verifizierung Sprachkompetenz in Polnisch oder polnisch klingende Nachnamen. Viele Menschen, die sich nicht Polen, sondern Deutschland zugehörig fühlten oder vor allem eine regionale Zugehörigkeit empfanden, wählten aufgrund möglicher Diskriminierungen und mit dem Wunsch, bleiben zu dürfen, den Weg der Verifizierung. Aus diesem Grund war der in der Folgezeit massiv auftretende Wunsch vieler Menschen, unter anderem nach Deutschland auszureisen, ein politisches Problem, denn offiziell hatte sich die verifizierte Bevölkerung zum polnischen Nationalstaat bekannt.

QuellentextDie Region Oberschlesien in Polen

Die Region Oberschlesien (Go´rny Sla˛sk) im Süden Polens ist ein gutes Beispiel für eine Region, die immer wieder durch Grenzverschiebungen geprägt war. Daraus ergab sich ein mehrfacher Wechsel der nationalstaatlichen Zugehörigkeit. Oberschlesien war lange Teil der preußischen Provinz Schlesien und gehörte zum Deutschen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg und nachdem der polnische Staat neu gegründet wurde, kam es zur Teilung der Region im Jahr 1921.

Es entstand mitten in diesem Gebiet eine Grenze zwischen Deutschland und Polen. Familien und Freundeskreise waren plötzlich durch eine nationale Grenze getrennt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Oberschlesien schließlich nahezu vollständig an Polen angegliedert und in zwei Woiwodschaften (Provinzen) aufgeteilt. Diese Geschichte Oberschlesiens förderte komplexe und hybride Identitäten seiner Bewohner und auch eine ausgeprägte regionale Identität, die von völkischen Forschern als "schwebendes Volkstum" bezeichnet wurde und heute als "Transidentität" bezeichnet werden könnte. Die Menschen fühlten sich entweder Deutschland und Polen oder auch keinem Nationalstaat, sondern ihrer regionalen oberschlesischen "Heimat" zugehörig. Aufgrund dessen stellte die "Repolonisierungsstrategie" der polnischen Regierung nach 1950 besonders die Bevölkerung in Oberschlesien vor eine harte Entscheidung, denn diese musste sich nun offiziell für die Zugehörigkeit zum polnischen Staat entscheiden, um in ihrer Heimat bleiben zu dürfen. Allein in Oberschlesien wurden 850.000 Menschen verifiziert und damit als polnische Bevölkerung klassifiziert. Von 1950 bis 1994 sind dann im weiteren Verlauf 600.000 Menschen aus Oberschlesien nach Deutschland ausgesiedelt. Mitgebracht haben sie sehr unterschiedliche Identitäten und Vorstellungen davon, was für sie "Heimat" bedeutet.

Otto, 2015: S. 81, auf Grundlage von: Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit 2011; Wanatowicz 2004. (© H.-J. Ehrig, Marius Otto)

Die restriktive polnische Ausreisepolitik wurde vor allem über politische Verhandlungen zwischen Deutschland und Polen gelockert. Die Aussiedlermigration wurde entsprechend zum "politischen Spielball". Insgesamt sind zwischen 1950 und 1989 über 1,2 Millionen aus Polen stammende Aussiedler nach Deutschland gekommen. In den 1950er-Jahren wanderten etwa 292.000 Menschen aus Polen in die Bundesrepublik. In den 1960er-Jahren waren es lediglich 112.618. In den 1970er-Jahren stiegen die Zahlen dann deutlich, nachdem sich die politischen Beziehungen verbessert hatten. Die Migration war nun eingebettet in die Entspannungspolitik zwischen Ost und West (Neue Ostpolitik Deutschlands unter Willy Brandt).

Als die Zahl der Ausreisegenehmigungen ihren Tiefpunkt erreichte, wurden im Jahr 1975 mehrere bilaterale Abkommen zwischen Deutschland und Polen ("Schmidt-Gierek-Vereinbarung") unterzeichnet. Darunter fielen ein Finanzkredit für Polen und eine Ausreisegenehmigung für 120.000 bis 125.000 Antragsteller. Allerdings verließen viele Aussiedler Polen ohnehin inoffiziell über ein Touristenvisum. Die Entwicklung der hohen Ausreisezahlen setzte sich in der Folgezeit fort: In den 1980er-Jahren reisten circa 633.000 Aussiedler aus Polen aus.

Damit dominierten Aussiedler aus Polen bis 1989 die gesamte Aussiedlung nach Deutschland. Von den 1 948.175 Aussiedlerinnen und Aussiedlern, die im Zeitraum 1950–1989 nach Deutschland migrierten, stammten fast zwei Drittel aus Polen. Besonders viele von ihnen kamen aus der Region Oberschlesien, im Zeitraum 1950–1994 waren es etwa 600.000. Mit der Wende verschob sich dann der Herkunftsschwerpunkt. Im Zeitraum 1988–1998 waren 68 Prozent der fast 2,5 Millionen Aussiedlerinnen und Aussiedler Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. den GUS-Staaten.

Aussiedlung aus Polen. (© Bundesverwaltungsamt)

"Rückkehr der Deutschen?" – Perspektiven der frühen Aussiedlerforschung

Als die Zahl der Aussiedler in Deutschland ab den 1970er-Jahren deutlich zunahm, betrachteten Fachleute aus Wissenschaft und Politik aufmerksam den Integrationsprozess dieser Migrantengruppe. Da die polnischen Aussiedlerinnen und Aussiedler dominierten, widmeten sich die wissenschaftlichen Untersuchungen zunächst schwerpunktmäßig dieser Gruppe.

Insbesondere in den frühen 1970er-Jahren wurde die Aussiedlerintegration oftmals als "unproblematisch" angesehen und die Aussiedler selbst galten als "deutsche Rückkehrer". Nicht selten wurde die Komplexität des Aussiedlungsprozesses und der Migrationsmotive auf ein bloßes "Zurückkehren" und auf den Wunsch reduziert, als "Deutsche unter Deutschen" zu leben. Den Aussiedlerinnen und Aussiedlern wurde eine deutsche Identität attestiert und dementsprechend eine vermeintlich reibungslose soziale Integration prognostiziert – auch, weil die Integration dieser Gruppe durch unterschiedliche Maßnahmen und Programme gefördert wurde.

Erst als sich zeigte, dass die Integration schwieriger verlief als angenommen, erfuhren ihre Herkunftsländer eine stärkere Berücksichtigung. Insbesondere ab Ende der 1970er-Jahre wuchs die Erkenntnis, dass die Aussiedlerinnen und Aussiedler zum Teil über Jahrzehnte hinweg durch ein anderes politisches, wirtschaftliches und soziales System beeinflusst und ihre Migrationsmotive somit komplex waren. Studien kamen zum Ergebnis, dass sie teilweise ohne jegliche deutsche Sprachkenntnisse nach Deutschland gekommen waren und auch andere Motive zur Ausreise geführt haben konnten als der Wunsch, unter Deutschen zu leben. Die Bedeutung von wirtschaftlichen Motiven wurde genauso hervorgehoben wie der häufig auftretende Migrationsdruck durch Ausreisen innerhalb von Familiennetzwerken.

Besonders bezüglich der Ende der 1980er in großen Zahlen Ausgesiedelten wurde erkannt, dass sich diese deutlich von denjenigen der 1950er- und 1960er-Jahre unterschieden. Sie hatten Jahrzehnte in Polen gelebt und gehörten zur Folgegeneration, die in Polen geboren war und Eltern bzw. Großeltern mit entsprechender deutscher Vergangenheit hatte. Häufig migrierten auch Eheleute, bei denen lediglich ein Partner über "deutsche Wurzeln" verfügte. Die Fachleute, die sich mit der Aussiedlerintegration beschäftigten, kamen daher zu dem Schluss, dass Aussiedler nicht per se als "Deutsche" gesehen werden könnten.

Ab Ende der 1980er-Jahre zeigten die Studienergebnisse auch eine Verschlechterung der strukturellen Integration. Der Erfolg auf dem Arbeitsmarkt hing vom Alter, den Sprachkenntnissen, der Familiensituation und der beruflichen Qualifikation ab. Damit war klar: Die Position der Aussiedler auf dem Arbeitsmarkt unterschied sich nicht stark von derjenigen der Migrantinnen und Migranten aus anderen Ländern. In den 1990er-Jahren wurden zudem die Unterschiede zwischen den "Kulturen" als gravierend angesehen. Von deutschen "Rückkehrern" war nun nicht mehr die Rede. Was die Integrationsdebatte betrifft, verwischten allmählich die Unterschiede zwischen Aussiedlern und Ausländern. Die Aussiedler wurden plötzlich Teil der postulierten Multi-Kulti-Gesellschaft.

Gleichzeitig erhielten ab Ende der 1980er-Jahre nicht mehr die aus Polen zugewanderten Aussiedler eine besondere Beachtung, sondern diejenigen, die aus der Sowjetunion bzw. nach deren Auflösung aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen. Dies war auf die Verschiebung des Herkunftsschwerpunktes zugunsten des GUS-Raumes zurückzuführen. Mit der Wiedervereinigung und der Zuwanderung von Flüchtlingen (in Folge der Jugoslawienkriege) kreisten öffentliche Diskussionen um die grundsätzliche Frage, wie viel Migration Deutschland vertragen könne – die Aussiedler wurden in die allgemeine Zuwanderungsdebatte einbezogen. Später rückte die Kontroverse um "Parallelgesellschaften" mit Blick auf die zunehmende religiöse Vielfalt in Deutschland in den Fokus (z. B. "Kopftuchdebatte"). In dieser Debatte ging es nun stärker um die Symbolik und Sichtbarkeit von kulturellen Unterschieden. Dabei verlor die Aussiedlermigration an Relevanz.

Was die Frage der Integration betrifft, zieht sich die vermeintlich objektive Beurteilung der Aussiedlerintegration durch statistische Indikatoren wie ein roter Faden durch die Studien der 1970er- bis 1990er-Jahre. Häufig vergessen wurde dabei die eigene Perspektive der Aussiedler. Nur wenige Studien widmeten sich der subjektiven Wahrnehmung der Migranten. Einige dieser Studien zeigen, dass die Aussiedler sich in sozialer Hinsicht grundlegend umstellen mussten. Sie trafen vor allem auf eine durch kulturelle Vielfalt geprägte Gesellschaft. Mit Blick auf ihre als wesentlich homogener wahrgenommene Herkunftsgesellschaft stellte dies eine neue Erfahrung dar.

Integration der polenstämmigen Aussiedler – aktuelle Perspektiven

Mehr als 25 Jahre nach der Hochphase der Migration von Aussiedlern aus Polen nach Deutschland stellt sich die Frage, ob die Integration dieser Migrantengruppe aufgrund der langen Aufenthaltsdauer nun als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Frage der Aussiedlerintegration schlichtweg untergegangen ist in der politischen, medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsverlagerung nach 1989 in Richtung der Wiedervereinigung, der Integration von Geflüchteten (Anfang der 1990er-Jahre und besonders in der Gegenwart) sowie der zunehmenden religiösen und kulturellen Vielfalt in Deutschland?

Wann ein Integrationsprozess als abgeschlossen bezeichnet werden kann, ist grundsätzlich nicht festgelegt. Da Integration viele verschiedene Lebensbereiche betrifft, lässt sich ein solcher Prozess auch nur unzureichend bewerten, ohne die jeweilige Perspektive zu präzisieren. Zu unterscheiden ist die vermeintlich objektive Integrationsmessung über statistische Indikatoren von der subjektiven Wahrnehmung des Integrationsprozesses durch die Migrantinnen und Migranten selbst.

Wichtig ist zudem die Differenzierung in eine kulturelle Integration (vor allem hinsichtlich des Spracherwerbs), eine strukturelle Integration auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie im Bildungssystem, eine soziale Integration über die Beziehungen in der Aufnahmegesellschaft und eine emotionale Integration, in der es um Zugehörigkeitsgefühle geht. Besonders die soziale und emotionale Integration der polenstämmigen Aussiedler wirft auch heute noch Fragen auf. Es ist mehr als fraglich, ob sich Integration mit der Zeit automatisch ergibt.

Als das Interesse für die Aussiedlermigration und vor allem für diejenigen, die aus Polen gekommen waren, in den 1990er-Jahren abnahm, veränderten sich die Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Beziehungen in drastischer Weise. Durch den Zusammenbruch des sozialistischen Systems erhielten die Aussiedlerinnen und Aussiedler wieder die Möglichkeit, unkompliziert nach Polen zu reisen. Neue Kommunikationstechnologien und Transportmöglichkeiten erleichterten zunehmend die Kontaktpflege und das Reisen. In Deutschland entwickelte sich ab den 1990er-Jahren durch Bildungs- und Arbeitsmigration zwischen Polen und Deutschland zudem eine große polnische Community mit zahlreichen Angeboten wie speziellen Radiosendern, zum Beispiel S´la˛skie Radio und Radio Bercik mit regionalem Bezug zu Oberschlesien, Printmedien wie info&tips, Geschäften, mobilen Lebensmittelversorgern und Begegnungsmöglichkeiten. Die genannten Medien greifen sowohl deutsche als auch polnische Themen auf und informieren über Angebote für die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland. Dass die Aussiedler sowohl Anbieter wie Nutzer der Angebote sind, verdeutlicht den Stellenwert ihrer polnischen bzw. oberschlesischen "Wurzeln" im Alltag.

Neueste Untersuchungen zur Integration der Gruppe der oberschlesienstämmigen Aussiedler aus Polen der 1970er- und 1980er-Jahre zeigen, dass diese Entwicklungen eine große Rolle spielen und die Integration dieser Gruppe als ein fortwährender Prozess gesehen werden kann, in dem sich die Lebenswelten der Aussiedler dauerhaft in einem Spannungsfeld aus lokaler Integration in Deutschland, regionaler Verbundenheit zu Oberschlesien und Sozialisierung in Polen bewegen.

Drei Phasen der Aussiedlerintegration
Die Integration der oberschlesienstämmigen Aussiedler der 1970er- und 1980er-Jahre verlief vielfach – grob gegliedert – in drei Phasen: Unmittelbar nach der Aussiedlung stand in einer ersten Phase der Aufbau des neuen Lebensmittelpunktes im Fokus. Wohnungssuche, Arbeitsmarkteingliederung, die schulische Eingliederung der Kinder und der Spracherwerb standen hier im Mittelpunkt eines Zeitabschnitts, der von verschiedenen Anlaufschwierigkeiten und Ängsten geprägt war. Problematisch konnten zu Beginn die längeren Übergangszeiten in Aussiedlerunterkünften und Notwohnungen sein, aber auch die Integration in den Arbeitsmarkt, denn manche Aussiedler mussten Umorientierungen und berufliche Abstiege in Kauf nehmen. Hinzu kamen die sprachlichen Barrieren. Diese und andere Startschwierigkeiten wurden jedoch kompensiert durch die allgemein als "reibungslos" empfundene Aufnahme durch "die Deutschen", erste Anschaffungen sowie ein Empfinden von neuer "Freiheit". Diese wurde insbesondere in Form von Urlaubsreisen genossen.

Die Neuankömmlinge entwickelten unabhängig von ihren Migrationsmotiven recht häufig Integrationsstrategien, die sie heute als "Anpassungsstrategien" bzw. "Mittel zum Ankommen" bezeichnen. Solche Strategien hatten zum Ziel, einen erfolgreichen Aufbau des neuen Lebensmittelpunktes zu ermöglichen. Die Aussiedler versuchten akribisch, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, verzichteten im Alltag teilweise bewusst auf ihre polnische Muttersprache und bemühten sich, soziale Anknüpfungspunkte zu schaffen. Für ein erfolgreiches Einleben vor Ort sahen sie die Verantwortung vor allem bei sich selbst. Zu Beginn führte für viele von ihnen die hohe Aufgaben- und Verantwortungsdichte in Bezug auf Spracherwerb (Sprachkurse), bürokratische Prozesse, die Eingliederung in Beruf und Schule und die Suche sowie Ausstattung des ersten eigenen Wohnraumes dazu, sich auf das Einleben in Deutschland zu konzentrieren und dadurch Sehnsuchtsgefühle und Rückkehrgedanken zu verdrängen.

QuellentextIntegrationsstrategien der Aussiedler unmittelbar nach der Aussiedlung

Gabi Piontek, 1988 im Alter von 42 Jahren mit ihrem Ehemann nach Aachen ausgesiedelt
zum Thema: Kontakt zu den Deutschen
Wir wollten hier direkt rein in das Umfeld. Damit die Deutschen nicht direkt sagen, wir würden uns segregieren. Dass wir da im polnischen Laden einkaufen, ist das Einzige. Aber wir gehen zu keinen polnischen Veranstaltungen […]. Wir waren viel im deutschen Umfeld verankert. Und wir gehen auch in die deutsche Kirche. Wir haben uns anfangs schon etwas gefürchtet, da sagte man, wenn man zu viel mit Polen zusammenhängen würde, wäre das nicht gut.

Thomas Krawczyk, 1988 im Alter von 21 Jahren mit seinen Eltern nach Düsseldorf ausgesiedelt
Zum Thema: Einleben in allen Lebensbereichen
Ich saß auf dem Bett und hab gelernt wie ein Wilder, also ich hatte mir die Grammatik fast selber angeeignet damals, weil ich wusste, das musst du draufhaben, sonst wird das nichts! Also das war ’ne spannende Zeit, aber es war sehr ungewiss, wobei man nicht wirklich die Zeit hatte, sich damit zu beschäftigen. […] Aber ich muss auch sagen, dass ich sehr, sehr schwer dafür gearbeitet hab. Vor allem Sprache lernen. Sich anpassen. Ich hatte in Polen auch mal eine Fußballmannschaft. Ich bin ja fußballverrückt. Ich hab gesagt, so jetzt bist du in Düsseldorf, Fortuna ist deine neue Mannschaft. Also ich brauchte diese Ankerpunkte. […] Ich wollte wirklich quasi rüber wechseln auf die andere Seite. Und ein neues Leben aufbauen, aber halt nicht als der Ausländer. Sondern schon als einer von den Deutschen.

Richard Feldmann, 1978 im Alter von 38 Jahren mit seiner Ehefrau nach Heinsberg ausgesiedelt
Zum Thema: Integration als selbsternannte Aufgabe
Wir sind jetzt hierhin gekommen und uns hat hier niemand gewollt in dem Sinne. Niemand gerufen, wir wollten es. Also bist du hier, dann musst du dich jetzt anpassen, einleben und so weiter. Nicht warten, bis dir jemand was gibt. Nein. Du musst das selber machen. Also haben wir uns erst mal gekümmert, wie gesagt, die Sprache zu lernen, einigermaßen zu beherrschen, dass die Kinder weiterkommen, Arbeit zu kriegen. Arbeiten. Richtig einleben. Nach zwei Wochen in Deutschland hab ich im Prinzip entschieden, es wird gebaut. […] Auf jeden Fall wir waren keine fünf Jahre in Deutschland, da haben wir begonnen, hier zu bauen.

Sofie Feldmann, 1978 im Alter von 37 Jahren mit ihrem Ehemann nach Heinsberg ausgesiedelt
Zum Thema: Sprache als Integrationsfaktor
Wir begannen achtundsiebzig abrupt, Deutsch zu reden. Wie wir konnten. Ob das grammatisch oder nicht grammatisch war, ohne Artikel oder mit Artikel. Eher ohne Artikel. Polnische Sprache ist ja ohne Artikel. Aber bei einer Sache, wenn wir aufgeregt waren, fluchen wollten, schimpften, da kam das Polnische sofort. Da fehlten uns die deutschen Wörter. Nachdem wir uns dann auch noch auf Deutsch gestritten haben, das war der Durchbruch.

Katharina Musiol, 1988 mit 27 Jahren nach Essen ausgesiedelt
Zum Thema: Eingliederungshilfe als Integrationsansporn
Und das Arbeitslosengeld. Ich bekam dann einfach kostenlos Geld. Ich hab vorher noch nie Geld umsonst bekommen. Ich hab noch zu meiner Tante gesagt: "Ich kann das Geld doch nicht nehmen. Ich hab doch hier nie gearbeitet." Und die so: "Aber es steht Dir zu, du hast in Polen gearbeitet". Jedenfalls als ich das Arbeitslosengeld gesehen hab, so viel Geld, da dachte ich, wie viel ich wohl verdienen würde, wenn ich später arbeiten gehen würde. Das war ein Haufen Geld. Und das war dieser Ansporn. Es lohnt sich, zu bleiben. Es lohnt sich, das alles durchzustehen. Weil es wird besser.

Marius Otto, Zwischen lokaler Integration und regionaler Zugehörigkeit: Transnationale Sozialräume oberschlesienstämmiger Aussiedler in Nordrhein-Westfalen (Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2015, S. 162–163, 347–349 u. 372

Die Beziehung zu Polen und den jeweiligen Herkunftsorten war in dieser Zeit vor dem Fall des "Eisernen Vorhangs" gering ausgeprägt. Reisen in die ehemalige Heimat waren selten. Der wichtigste Grund hierfür waren rechtlich-formale Hindernisse: Besuche der Herkunftsländer waren mit erheblichem bürokratischem Aufwand verbunden. Zudem herrschte gerade bei denjenigen, die ihr Land nicht offiziell verlassen hatten, Unsicherheit darüber, inwieweit ein Besuch oder eine Rückkehr zu rechtlichen Schwierigkeiten führen konnte. Die Kommunikationsflüsse waren vor der verstärkten Nutzung des Internets auf seltene Telefonate, Briefe und die bis heute verbreitete Praxis der Paketsendungen beschränkt.

Eine zweite Phase, die mit dem Gefühl des Angekommen-Seins einsetzte, lockerte die zum Teil enge Fokussierung auf die Integration in Deutschland. Mit dem Erwerb von Immobilien, gefestigter Sprachkompetenz, beruflichem Aufstieg, einem abgeschlossenen Studium oder der zunehmenden Akzeptanz durch die "einheimischen Deutschen" im Wohn- und Arbeitsumfeld fühlten sich die Aussiedler zunehmend etabliert und sahen die persönlichen Voraussetzungen für eine Integration als erfüllt an. Sie identifizierten damit recht unterschiedliche soziale und strukturelle Meilensteine ihrer Integration in Deutschland. Wie lange es dauerte, bis sich ein Gefühl des Angekommen-Seins einstellte, reichte nach den Selbstzeugnissen der Aussiedlerinnen und Aussiedler von wenigen Monaten bis zu zehn oder fünfzehn Jahren. Das bewusste Ankommen begünstigte aber in jedem Fall die dritte Phase der Integration, in der viele Aussiedler aus einer etablierten Position in Deutschland heraus wieder neue Beziehungen zu Polen und insbesondere Oberschlesien entwickelten.

QuellentextPersönliche Meilensteine der Integration

Paul Kudela, 1976 im Alter von 21 Jahren mit seinen Eltern nach Mönchengladbach ausgesiedelt
Zum Thema: Sprache und beruflicher Aufstieg
Wenn ich sage, dass ich mich integriert habe und so weiter, meine ich ja damit, dass ich ja viel, viel besser sprechen konnte, verstehen konnte und so weiter. Und das war dieser Punkt, wo ich sage: "Ok, jetzt bin ich so weit, jetzt bin ich hier und bleib ich hier. Und fühl ich mich als Deutscher und so weiter". Anfangs war das noch so bisschen gemischt. Weil ich wusste noch nicht so recht, wo ich hingehöre. Eigentlich, das muss ich ehrlich sagen, nachdem ich die Meisterprüfung bestanden habe, da war ich von dem ganzen Ballast frei. Und dann war alles gut, da waren Aufstiegsmöglichkeiten, also da lief es für mich optimal. [...] Vielleicht zehn Jahre, dann hat sich das langsam gewandelt ins Positive. Und endgültig … vielleicht nach zwanzig Jahren oder so. Das ist nicht so einfach.

Maria Nowak, 1983 im Alter von 36 Jahren mit ihrem Ehemann nach Neuss ausgesiedelt
Zum Thema: Immobilienerwerb
Als wir das Haus gekauft haben, als ich im Garten stand, da fühlte ich mich besser. Dieser Punkt auf der deutschen Landkarte ist meiner. Ich bin zuhause.

Ilse Matysek, 1981 im Alter von 40 Jahren mit ihrer Tochter nach Mönchengladbach ausgesiedelt
Zum Thema: Arbeitsmarktintegration
Als ich die Arbeit bekommen habe. Da hätte ich mir ein Schild umhängen können: "Ich arbeite schon!" Ja. Hier interessiert sich niemand für den Anderen, aber alle wussten, dass ich arbeite. Und da denke ich, dass ich dann akzeptiert war von meinen Nachbarn. Ich war stolz, dass ich arbeite.

Thomas Krawczyk, 1988 im Alter von 21 Jahren mit seinen Eltern nach Düsseldorf ausgesiedelt
Zum Thema: Akzeptanz
Also man hat eine gewisse Sicherheit bekommen. Man weiß, dass das, was man macht, funktioniert. Dass man akzeptiert ist, dass dich keiner hier rausekelt oder sonst irgendwas. Wenn ich überlege, dass meine deutschen Kollegen mich mal fragen: "Sag mal, hab ich das richtig geschrieben?" Dann find ich das total genial. Total klasse. Otto, 2015: S. 355–366

"Erst die Integration, dann der Blick zurück"

Das Gefühl, angekommen zu sein, interpretierten die Aussiedler als Legitimation für ein stärkeres Ausleben ihrer herkunftsbezogenen kulturellen Traditionen und für ein Wiederaufleben von Beziehungen zum Herkunftsgebiet. Diese folgten somit deutlich zeitversetzt zum Zeitpunkt der Migration. In der Vermischung, Durchdringung und Überlagerung polnischer und deutscher Kulturelemente etablierten viele Aussiedler nun bewusst eine sogenannte Transkulturalität in ihrem Alltag.

Mit Blick auf neu erstarkte Beziehungen zu Polen reaktivierten sie Bekanntschaften und eine neue Sehnsucht nach verschiedenen Orten der Prä-Migrationszeit (Plätze, Spazierwege oder Stadtviertel in den Herkunftsstädten) – nach "alten Ecken", wie es die Aussiedler in Interviews mit dem Autor oft nannten, stellte sich ein. Manche Aussiedler nutzten ihre Alltagskompetenzen auch beruflich und kamen über Geschäftsbeziehungen zu neuen, intensiven Kontakten in Polen.

Für die Aussiedler waren intensive Kontakte nach Polen und ein Eintauchen in die polnische Community in Deutschland allerdings an die Erfüllung des selbst formulierten Integrationsauftrags gekoppelt. Der Anspruch, nach der Aussiedlung zunächst einmal "etwas" in Deutschland zu erreichen, sehen einige von ihnen auch darin begründet, dass sie bei ihren ersten Besuchen in Polen sichtbare Erfolge wie beispielsweise am Arbeitsplatz, beim Hausbau und/oder Autokauf vorweisen wollten.

Stark begünstigt wurden diese Rückbesinnung und die neue Emotionalität in Bezug auf den Herkunftskontext durch die Veränderungen der strukturellen und politischen Rahmenbedingungen. Nach 1989 konnten die Aussiedler problemlos nach Polen reisen und in der Folgezeit auf neue Fernbusverbindungen, später auch auf Billig-Airline-Verbindungen wie beispielsweise Wizz Air zurückgreifen.

Hinzu kamen neue Möglichkeiten der Kommunikation, mit deren Hilfe die Beziehungen zum Herkunftsland intensiviert werden konnten: Zu Beginn waren dies Chatrooms im Internet und Telefon-Flatrates, später kamen Schulklassenportale ("nasza klasa"), Facebook und WhatsApp hinzu. Das uneingeschränkte Telefonieren und die Übermittlung von Bildern reduzierten die Bedeutung der räumlichen Distanz zum Herkunftsgebiet. Der Informationsfluss stieg außerdem erheblich über das Internet und die Verfügbarkeit polnischer Fernsehprogramme und Pay-TV-Pakete in Deutschland.

In manchen Fällen folgte die stärkere Ausrichtung auf die "alten" Netzwerke in Polen aber auch aus einer langfristigen Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld in Deutschland. Dies ist vor allem bei denjenigen zu beobachten, die bereits vor der Aussiedlung eine ablehnende Haltung gegenüber Deutschland gezeigt hatten und beispielsweise auf Wunsch des Ehepartners migriert waren. Sie fokussierten sich nach der Aussiedlung vollständig auf eine strukturelle Integration in das "System Deutschland", verblieben jedoch fast ausschließlich in einem polnisch-oberschlesischen Netzwerk und konzentrierten sich im Zuge des Wegfalls der Barrieren in Transport und Kommunikation noch stärker auf ihre "alte Heimat". Aber auch Aussiedler, die zu Beginn ihrer Zeit in Deutschland bewusst den Kontakt zu Deutschen gesucht und hier teils negative Erfahrungen gemacht hatten, intensivierten mithilfe der neuen Medien Beziehungen zu alten Freunden in Polen.

Die Rückbesinnung auf Polen ist allerdings nicht nur durch die wiederaufgenommenen grenzüberschreitenden Kontakte zu erklären. Auch am Wohnort in Deutschland nahm das Bewusstsein für die polnische bzw. oberschlesische Vergangenheit deutlich zu. Für viele Aussiedler wurde nun auch die polnische Community am deutschen Wohnort wichtiger. Die Angebote für Polenstämmige in Deutschland haben sich in den 1990er- und 2000er-Jahren rasant entwickelt. Sie umfassen heute alle Aspekte des Alltagslebens und werden durch Organisationen, Vereine, Unternehmen und Privatpersonen getragen. Es gibt stark ausgeprägte soziale Netze (z. B. religiöse Vereine), professionelle Organisationen (z. B. polnischsprachige Arztpraxen und Anwaltsbüros) und eine soziokulturelle Infrastruktur (Veranstaltungen im Sport- und Kulturbereich).

Im Alltag der Aussiedlerinnen und Aussiedler relevant sind vor allem polnische Geschäfte, Vereine, die oben angeführten polnischsprachigen Magazine/Zeitschriften sowie Radiosender und die Polnische Katholische Mission, welche ein umfangreiches polnischsprachiges Gemeindeleben in deutschen Städten organisiert.

Aus der Aussiedlerperspektive bieten diese Angebote vor allem die Möglichkeit, "ein Stück Heimat" zu erleben. Eine starke oder gar einseitige Ausrichtung auf die Angebote der polnischen Community ist allerdings selten zu beobachten. Vielmehr dienen diese zur Befriedigung einzelner Bedürfnisse wie der Sehnsucht nach polnischen Produkten oder dem Interesse für das aktuelle Zeitgeschehen in Polen. So werden die Geschehnisse rund um den ehemaligen Fußballverein in Polen im Internet verfolgt, die neue Einrichtung im Haus wird per Skype und Webcam den Verwandten in Polen präsentiert, polnische Waren sind in nahezu jeder deutschen Großstadt verfügbar.

Es geht dabei nicht nur um die Verfügbarkeit von Informationen und Produkten, sondern auch um das Gefühl der Teilhabe an der persönlichen Heimat. Diese – und das ist eine wesentliche Charakteristik transkultureller Lebenswelten – wird so nicht nur über das Reisen in den jeweiligen Herkunftsort erlebbar, sondern wird vielmehr zur alltäglichen Erfahrung.

QuellentextBedeutung der polnisch-oberschlesischen Community

Katharina Musiol, 1988 mit 27 Jahren nach Essen ausgesiedelt
Letztlich bleibt die Sehnsucht nach dem, von dem man weggegangen ist. Man ist freiwillig gegangen. Aber nach einiger Zeit kommt das so und der Mensch sucht das. Man hat sich hier alles aufgebaut, aber es ist halt anders, ne? Und dann gibt es eben solche Tage, da kommen solche Gefühle und dann geht man eben zum polnischen Laden, um ein Stück Wurst zu kaufen, und dann geht es einem besser. So kommt es mir vor.

Johanna Jasko, 1988 im Alter von 7 Jahren mit ihren Eltern nach Mönchengladbach ausgesiedelt
Ich denke, in der polnischen Kirche ist es wie … (überlegt) dort zu sein. Zuhause-Sein. [...] Meine Eltern sagen wieder, dass ich übertreibe. Dass ich hier lebe und deswegen auch zur deutschen Kirche gehen sollte. Aber ich weiß nicht. Warum? Mich zieht es dahin und Schluss.

Paul Kudela, 1976 im Alter von 21 Jahren mit seinen Eltern nach Mönchengladbach ausgesiedelt Wenn da so auf TV Silesia manchmal ein schöner schlesischer Film läuft, dann guck ich den. [...] Das ist ja nur alleine wegen der Sprache und so weiter. Weil das hört sich so schön an. [...] Das verbindet mich irgendwie zu der Zeit, wo ich da gelebt hab, die Erinnerung kommt ja, alte Freunde und so weiter, wie das alles so war. Das ist die Verbindung damit, ne? Otto, 2015: S. 271, 273 u. 276

Aktuelle Integrationsfragen in den deutsch-polnischen Lebenswelten der Aussiedler

Die Reaktivierung bzw. Intensivierung von Beziehungen zum Herkunftskontext mit kürzerem oder längerem zeitlichen Abstand zum Migrationszeitpunkt führte für die Aussiedler nur eingeschränkt zu einer Rückbesinnung auf eine "vertraute Heimat". Diese hatte sich nämlich im Laufe der Zeit, geprägt durch die Umbrüche nach 1989, deutlich verändert. Das bekamen die Aussiedler während ihrer Besuche in Polen deutlich zu spüren.

Sie hatten nach ihrer Migration Orientierungsschwierigkeiten und Fremdheitserfahrungen in Deutschland erlebt. Mit ähnlichen Begleitumständen waren sie nun, nachdem sie in Deutschland einen Lebensmittelpunkt aufgebaut hatten, auch im vermeintlichen "Heimatkontext" konfrontiert. Tatsächlich ergab sich hierdurch eine ganz neue Integrationsfrage. In Polen stießen die Aussiedler bei ihren Besuchen auf neue Sprachmuster, eine Anonymisierung in ehemals vertrauten Wohngegenden und auf rasante städtebauliche Veränderungen. Was vertraut oder fremd gewesen war, wurde nun neu ausgehandelt und konnte nicht mehr in klassischen Kategorien von "Herkunfts- und Ankunftsorten" gedacht werden.

Besonders gravierend war es für die Aussiedler, dass sie in Polen als "anders", "deutsch" oder "fremd" gesehen wurden. Zu dieser Fremdeinschätzung kam hinzu, dass viele Aussiedler selbst erkannten, dass sich ihre polnische Sprache durch deutsche Einflüsse verändert hatte und sich ihre Gewohnheiten und Werte anders entwickelt hatten als die der zurückgebliebenen Freunde und Verwandten.

Für viele ergaben sich hierdurch zwei Heimatkonstrukte, wobei Polen vor allem als Heimat einer vergangenen Zeit und der eigenen kulturellen Wurzeln und Deutschland als das Zuhause mit "Wohlfühlfaktor" gesehen wurden. Die irritierenden Erfahrungen während der Besuche und Urlaube in Polen verstärkten bei vielen Aussiedlern das Hin-und-Hergerissen-Sein. In Deutschland fühlen sie sich zwar akzeptiert und integriert, werden jedoch beispielsweise aufgrund ihres Akzents oder ihrer kulturellen Eigenarten immer noch als "polnisch" identifiziert. In Polen werden sie als die "deutschen Besucher" und folglich als nicht "einheimisch" angesehen. Infolge dieser neuen Erfahrungen von Entwurzelung in Polen fühlen sich viele Aussiedler weder "hier" noch "dort", sondern eben "dazwischen" heimisch und integriert. Integration ist für sie damit nicht nur in Deutschland, sondern in ihrer gesamten Lebenswelt ein Thema.

QuellentextPerspektive auf die alte und die neue Heimat und das eigene Hin-und-Hergerissen-Sein

Thomas Krawczyk, 1988 im Alter von 21 Jahren mit seinen Eltern nach Düsseldorf ausgesiedelt
Ich mein, wenn wir jetzt mal Punkte verteilen würden, eine Skala von eins bis zehn. Zehn ist das Maximum. Das sag ich jetzt mal, dann bin ich ein Punkt Pole, dann bin ich acht Punkte Oberschlesier und sieben Punkte Deutscher. Irgendwie so was. […] Aber wie gesagt, wenn ich in Schlesien bin und nach Hause fahr, dann fahr ich nach Hause. Ich fahr hierhin nach Hause, also von Ost nach West fahr ich nach Hause, nicht andersrum. Aber es wird nie die Heimat sein, es wird nie so hundertprozentig sein.

Frage: Das heißt, du bist immer noch zwischen diesen Stühlen?
Ja richtig. Ich sitz vielleicht mit einer Pobacke auf dem deutschen Stuhl, oder mit vielleicht dreiviertel Pobacken.

Johanna Jasko, 1989 im Alter von 9 Jahren mit ihren Eltern nach Mönchengladbach ausgesiedelt
Schwer zu sagen das alles, weil wenn ich drei Wochen in Polen bin, zieht es mich zurück nach Deutschland. Aber hier zieht es mich dahin. Schwer zu sagen. Wir sind zweigeteilt. Heimat ist da, aber hier [...] hier leben wir schon lange.

Martin Kluczek, 1988 im Alter von 6 Jahren mit seinen Eltern nach Bochum ausgesiedelt
"Bist du jetzt Deutscher oder Pole?" Das ist immer schwer zu beantworten. Also emotional, sentimental, so vom Gefühl her, auch vom Lebensstil, von der Einstellung her, muss ich sagen, ich bin Pole. Aber ich bin sicherlich ein deutschgeprägter Pole. Ich bin nämlich überaus genau, ich bin überaus kritisch. Also man hat diese teilweise, diese typischen, ja deutschen Merkmale, wenn man das jetzt wieder so stereotypisieren will, die hat man natürlich auch. Aber emotional, da bin ich einfach Pole. Deutschland ist hier so eher kopflastig. Ja und das Herz ist eher weiß-rot.

Otto, 2015: S. 271, 322 u. 328

Soziale Integration in Deutschland: Leben in einer polnisch-oberschlesischen Blase?

Auch in Deutschland ist die Frage der Integration mit Blick auf die sozialen Netzwerke der Aussiedler nach wie vor aktuell. Die polenstämmigen Aussiedler in Deutschland sehen sich zwar insgesamt überwiegend als integriert an, sie differenzieren allerdings zwischen ihrer erfolgreichen strukturellen und einer ins Stocken geratenen sozialen Integration. Tatsächlich konzentrieren sich die sozialen Netzwerke der Aussiedler immer noch primär auf ein polnisch-oberschlesisches Umfeld – und das nach 25, 30 oder 35 Jahren in Deutschland. Die wichtigsten Kontakte im Alltag bestehen zum einen aus familiären Beziehungen und zum anderen aus Freundschaften, die bereits vor der Migration existierten oder in einem polnisch-oberschlesischen Umfeld in Deutschland geknüpft werden konnten. Untersuchungen zu den Netzwerken der polenstämmigen Aussiedler zeigen: Kontakte zu "einheimischen Deutschen" oder Personen anderer Nationalitäten haben im Gegensatz dazu weiterhin eine nachrangige Bedeutung und erreichen selten den Status zentraler Kontakte.

Schaubilder nach Otto, 2015: S. 228, 235 u. 240.

Diese offensichtliche Fokussierung auf ein herkunftsbezogenes Netzwerk hängt wiederum mit dem Gefühl zusammen, in der dritten Phase der Integration angekommen zu sein. Hier kommen sozio-kulturelle Elemente des Herkunftskontextes "Polen" immer stärker zum Tragen. Die Aussiedler stellen in dieser Zeit häufig resümierend fest, dass sie die Art und Weise, wie das soziale Miteinander in Polen funktionierte, in Deutschland nicht reproduzieren können. Aufbauend auf der Vorstellung, wie Freundschaften, Bekanntenkreise und familiäre Netze "idealerweise" in Polen aussahen und daher prinzipiell auszusehen haben, wird die Art des "deutschen" Zusammenlebens auch heute noch häufig als "fremd" und "anders" gesehen.
Polen bzw. Oberschlesien erscheint mit Blick auf die Zeit vor der Ausreise als "soziales Paradies". Im deutschen Umfeld werden grundsätzlich vermisst: die Intensität der Freundschaften, die Spontaneität der Begegnungen, die Hilfsbereitschaft und das familiäre Zusammenleben. Argumentiert wird mit Mentalitätsunterschieden, konkret festgemacht an Unterschieden in der Gastfreundlichkeit, im Humor oder in politischen Einstellungen.

Die Aussiedler nehmen aus diesem Grund trotz ihrer erfolgreichen Integration immer noch Unterschiede zu der "deutschen" Aufnahmegesellschaft wahr. Es zeigt sich: Auch wenn ein Teil von ihnen durchaus Freundschaften knüpfen und das Netzwerk in Deutschland erweitern konnte, beschreiben auffällig viele Aussiedler auch nach 20 bis 30 Jahren in Deutschland eine Parallelität von Bekanntenkreisen. Besonders drastisch zeigt sich diese bei Aussiedlern, die beispielsweise separate Geburtstagsfeiern für ihr polnisches Umfeld und ihre deutschen Bekannten organisieren.

So kommt es, dass die wichtigsten sozialen Kontakte (beste Freunde, Familie) zumeist nach wie vor einen polnischen bzw. oberschlesischen Hintergrund haben und zum Teil auch noch in Polen wohnen. Als "wichtig" werden sie gesehen, weil mit ihnen trotz der eventuellen räumlichen Distanz vertrauliche und entscheidende Angelegenheiten besprochen werden und die Beziehung auf gemeinsamen Erlebnissen und Einstellungen basiert.

Mit Blick auf die Integrationsdebatte darf aus der gefühlten Distanz zur deutschen Aufnahmegesellschaft, von der viele polenstämmige Aussiedler im Interview sprachen, jedoch nicht ein Gefühl von Ausgeschlossenheit gefolgert werden. An der persönlichen Überzeugung, integriert zu sein, ändern die Barrieren in den Kontakten zur deutschen Aufnahmegesellschaft jedenfalls nichts. Aus Sicht der Aussiedler müssen insbesondere die "Schlüsselkontakte" intakt sein, damit das übergeordnete Ziel der Integration erreicht werden kann. Dazu zählen vor allem gute Kontakte zu Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, zu Nachbarn und zu Lehrkräften der Kinder, die sich jedoch selten zu intensiven Freundschaften entwickeln. Kulturelle Barrieren existieren damit in der sozialen Integration nach wie vor.

QuellentextSoziale Barrieren im Kontakt zu "den Deutschen"

Barbara Zaja¸c, 1987 im Alter von 33 Jahren mit ihrem Ehemann nach Mönchengladbach ausgesiedelt
Also echte Freunde sind drüben und Bekannte hier. Und das ist das, was mir einfach fehlt. […] Weil meine beste Freundin sagt immer: "Du weißt, wenn es dir schlecht geht, du kannst immer zu uns kommen. Du hast immer bei uns ein Zimmer". Also solche Freunde, die man schon so lange kennt, die finde ich hier nicht.

Alexandra Hurdalek, 1989 im Alter von 15 Jahren mit ihren Eltern nach Krefeld ausgesiedelt
Zum Beispiel mit meinen Arbeitskolleginnen. Ich komme mit denen sehr, sehr gut zurecht. Wir treffen uns auch regelmäßig. Auch richtig zuhause. Und dann ist das wirklich herzlich. Aber dass ich irgendeine deutsche Freundin hätte? Ich habe keine deutsche Freundin. Ich denke, die Mentalität ist eine andere. Ich kann das nicht in Worte fassen. Mit den Arbeitskolleginnen, ich weiß, ich kann denen alles sagen. Aber ich hab keine deutsche Freundin. Ich hab nur Freundinnen aus Polen oder Schlesien.

Eheleute Feldmann, 1978 mit 38/37 Jahren nach Heinsberg ausgesiedelt
Die Leute halten hier nicht viel vom Nachbarn oder was. Wir haben zum Beispiel hier einen sehr guten Kontakt zu allen Nachbarn, aber nur "Guten Tag", "Guten Morgen" und "Auf Wiedersehen" und so was Ähnliches. Da gibt es keine gegenseitigen Besuche. Wie das in Schlesien war. Dass man sich da einmal in der Woche oder zwei Mal im Monat oder was getroffen hat. Oder ein Fußballspiel gemeinsam angeschaut hat vor dem Fernseher oder was. So was haben wir hier nicht erlebt. Hier lebt jeder praktisch für sich. […] Und das hat gefehlt. Und manchmal fehlt das noch bis heute. Denn gerade jetzt, wenn man so alleine sitzt, man hat Zeit, man ist im Rentenalter, man ist noch fit, da fehlt das schon. [...] Und so der Kontakt hier mit den Nachbarn, wenn wir fahren in Urlaub, Schlüssel geben wir ab, sollte was sein, auch Post nehmen sie für uns an. Und wir gegenseitig. Da haben wir gar keine Probleme. Aber auch keine Freunde.

Johanna Jasko, 1988 im Alter von 7 Jahren mit ihren Eltern nach Mönchengladbach ausgesiedelt
Weil irgendwie … ich weiß auch nicht. Es gibt nicht so diese Sympathie. Ich habe nix gegen die Deutschen. Ich komme klar. Aber es ist anders. Das Verhalten ist anders, die Traditionen sind andere. So die … manche Sachen eben. Ich hatte immer Freundinnen aus Polen oder Ausländer. Ich weiß nicht, warum das so war. Es ist keine Antipathie. Aber es gab da keine Berührungspunkte. Oder es passte einfach nicht. […] Mir kommt es so vor, dass bei den Deutschen dieses Familiäre fehlt. Man hört das oft. Unsere Nachbarn zum Beispiel. Familie ist an zweiter Stelle. Das Wichtigste sind die Freunde, so Bekannte. Weil dieser Spruch "eine Familie kannst du nicht aussuchen". Ich kann mir sowas nicht vorstellen.

Otto, 2015: S. 234, 236 u. 242–243

(Aussiedler-)Integration als fortwährender Prozess

Nachdem sie sich unmittelbar nach ihrer Migration zunächst strikt auf ihre erfolgreiche Integration in allen Lebensbereichen in Deutschland fokussiert haben, ist für die polenstämmigen Aussiedler heute klar: Ein erfolgreiches Leben in Deutschland und die Pflege herkunftsbezogener kultureller Traditionen und Werte sowie Beziehungen zu Polen müssen sich nicht ausschließen. Selbstbewusst positioniert zwischen der neuen und alten "Heimat" verbinden sie Elemente ihrer polnischen bzw. oberschlesischen "Heimat" mit den Elementen ihres neuen Zuhauses in Deutschland.

Doch trotz der Reaktivierung von Beziehungen zu Polen, häufigeren Besuchen der Heimatstädte und des selbstbewussteren Umgangs mit der eigenen transkulturellen Identität, bleibt für die Aussiedler ein Mindestmaß an erfolgreicher struktureller und sozialer Integration, festgemacht an einer Einbindung im deutschen Umfeld (Arbeitsplatz, Schulumfeld, Nachbarschaft), eine grundlegende Voraussetzung für ein zufriedenes Leben in Deutschland. Als nicht integriert zu gelten, sehen viele als Scheitern an, vor allem auch, weil sie sich von den Integrations- und Ausländerdebatten abgrenzen wollen.

Der Integrationsprozess geht damit weiter. Zum einen bestehen weiterhin kulturelle Barrieren gegenüber der deutschen Aufnahmegesellschaft. Zum anderen machen die Aussiedler auch Fremdheitserfahrungen in Polen. Dies stärkt ihre grenzüberschreitende und transkulturelle Positionierung zwischen ihren zwei Heimatwelten Polen (bzw. Oberschlesien) und Deutschland.

Dr. Marius Otto, geb. 1985, ist Sozialgeograph. Zu seinen Forschungs-interessen gehören die geographische Migrations- und Stadtforschung. Im Jahr 2015 hat er am Geographischen Institut der RWTH Aachen Uni-versity zu Integrationsprozessen oberschlesienstämmiger Aussiedler in Deutschland promoviert. Aktuell ist er als Sozialplaner der Stadt Aachen tätig.