Der 18. März in der deutschen Geschichte
Die zeitgenössische Lithografie zeigt Barrikadenkämpfe in der Breiten Straße in der Nacht vom 18. zum 19. März 1848 in Berlin. (© bpk/Kunstbibliothek, SMB/Knud Petersen)
Die zeitgenössische Lithografie zeigt Barrikadenkämpfe in der Breiten Straße in der Nacht vom 18. zum 19. März 1848 in Berlin. (© bpk/Kunstbibliothek, SMB/Knud Petersen)
Im März 2025 forderte die Bundesstiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“, das Bewusstsein für die historische Bedeutung des 18. März in der deutschen Öffentlichkeit zu stärken. Gegenüber anderen nationalen Gedenk- und Feiertagen, wie dem 9. November als Tag des Mauerfalls 1989 und der antijüdischen Pogrome 1938 oder dem 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit, stand und steht der 18. März bis heute eher im Schatten der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultur. Dabei spielt der Tag für die historische Entwicklung der Demokratie in Deutschland eine herausragende Rolle, denn gleich drei historische Ereignisse sind mit ihm verbunden:
Erstens wurde am 18. März 1793 in Mainz der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent gebildet. Dabei handelte es sich um die erste, nach demokratischen Grundsätzen gewählte parlamentarische Versammlung in Deutschland als Teil der von März bis Juli 1793 existierenden Mainzer Republik. Der unter dem Schutz französischer Revolutionstruppen errichtete Freistaat symbolisierte die deutsche Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Französischen Revolution.
Zweitens erreichte die Märzrevolution 1848 am 18. März ihren Höhepunkt, als es zwischen der Volksbewegung in ihrem Kampf um politische Mitbestimmung und soziale Grundrechte und dem preußischen Militär in Berlin zu blutigen Barrikadenkämpfen kam.
Drittens schließlich fanden am 18. März 1990 in der DDR die ersten und zugleich letzten freien Wahlen zur Volkskammer statt. Die Wahlen waren das Ergebnis der Freiheitsbewegung der ostdeutschen Bevölkerung und markierten eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur deutschen Einheit.
Von den drei Ereignissen kommt dem 18. März 1848 eine besonders herausgehobene Bedeutung zu. Anlässlich des 175. Jahrestages der Märzrevolution von 1848 erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dass dieser Tag für „Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit“ stehe. Er sei „das Herzstück der deutschen Demokratie“. Auch dass die Bundesstiftung „Orte der deutschen Demokratie“ 2021 in Frankfurt am Main gegründet wurde und ihren Sitz bis heute dort hat, ist kein Zufall. Frankfurt war nicht nur bis 1806 der Krönungsort der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 1848 wurde die Stadt zum Ort der ersten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen deutschen Nationalversammlung. Sie tagte in der Frankfurter Paulskirche und verabschiedete dort im Frühjahr 1849 die erste Verfassung für einen deutschen Nationalstaat.
1848/49 als gescheiterte Revolution?
Einerseits erscheint uns die Revolution nah: als Moment der deutschen Geschichte, in dem Männer und Frauen in Deutschland um Freiheitsrechte, politische und soziale Teilhabe kämpften und versuchten, auf dieser Grundlage einen deutschen Nationalstaat mit Parlament und Verfassung zu schaffen. Andererseits entziehen sich die Ereignisse von 1848/49 dem Versuch, sie zur bloßen Vorgeschichte unserer eigenen Gegenwart zu machen. Schon die beiden wichtigsten Ereignisse, die Berliner Barrikadenkämpfe im März und die Eröffnung der Nationalversammlung in der Paulskirche im Mai 1848, die die Gedenkkultur zu 1848/49 bis heute dominieren, standen für sehr unterschiedliche Erfahrungen der Revolution. Auf den Berliner Barrikaden kämpften und starben überwiegend Männer und Frauen aus dem Kleinbürgertum, darunter viele Handwerker, Arbeiter und Studenten, während die Abgeordneten in der Paulskirche vor allem Bildungsbürger mit Universitätsabschlüssen waren, welche die Angst vor einer gewaltsamen Eskalation und einer sozialen Revolution umtrieb. Ob man auf eine konstitutionelle Monarchie mit Verfassung und Parlament setzte, oder ob man auch unter Einsatz von Gewalt für eine soziale Republik kämpfte, war umstritten. Die Oppositionsbewegung, die sich im März 1848 gegen die überkommenen politischen Strukturen, gegen ständische Relikte und die Willkür fürstlicher Herrschaft gebildet hatte, bildete jedenfalls kein einheitliches Lager mit gleichartigen Forderungen. Ohne Weiteres lassen sich nicht alle Zeitgenossen von 1848/49 als Vorkämpfer der modernen Demokratie heranziehen.
So werfen auch die Feierlichkeiten zum 175. Jubiläum der Revolution 2023 und die bis in die Gegenwart reichende Diskussion um die Umgestaltung der Frankfurter Paulskirche zu einem zentralen Gedenkort die Frage auf, welcher Ort der Revolution von 1848/49 in einer Demokratiegeschichte Deutschlands und Europas zukommt.
Quellentext„Wir brauchen in Deutschland Orte, die eine demokratische Tradition begründen.“
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Interview über Konzepte zur Sanierung der Frankfurter Paulskirche.
Claus-Jürgen Göpfert: […] Teilen Sie meine Sichtweise, dass die Paulskirche ein in Vergessenheit geratener und vernachlässigter Ort ist?
Herfried Münkler: Ja. Sie ist zugleich ein Ort, der in seiner Nutzung eine Selbstbeschränkung auf Frankfurt erfährt, im Wesentlichen auf Frankfurter Anlässe – auch wenn dort zum Beispiel der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird. Das hat dazu geführt, dass ich, als ich mein Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ geschrieben habe, überhaupt nicht an die Paulskirche gedacht habe. Auch als Student der Goethe-Universität in Frankfurt habe ich die Paulskirche nicht als einen nationalen Ort, als einen zentralen Gedenkort der Demokratie, wahrgenommen und sie nicht aufgesucht. Sie geht an einem vorbei.
Göpfert: Ist die Paulskirche auch ein unterbewerteter Ort?
Münkler: Ja. Für die Nationalkonservativen ist sie ein Ort der Revolution und des Nichtzustandekommens der deutschen Einheit. Das hat erst Bismarck erledigt. Für diese Gruppe sind Bismarckdenkmäler an die Stelle der Paulskirche getreten. Für die politische und kulturelle Linke ist die Paulskirche mit dem Scheitern der Revolution von 1848 verbunden. Beide, Nationalkonservative wie Linke, haben deshalb kein besonderes Interesse an der Paulskirche gehabt. […]
Göpfert: Wird es daher schwer, die Paulskirche als nationalen Gedenkort zu begründen?
Münkler: Nein, überhaupt nicht. Wir brauchen in Deutschland Orte, die eine demokratische Tradition begründen. Und da ist die Paulskirche sicherlich eine erste Adresse. Man muss deutlich machen, dass sie Ansatzpunkte für eine spezifische demokratische Tradition bietet: die Tradition eines dem Argument verpflichteten Beratens, nicht so sehr der plebiszitär-populistischen Entscheidung. Das kann man an diesem Ort sichtbar machen. Dann darf es allerdings dort kein erhöhtes Podium aus Stein mehr geben und keine Stühle für die Zuschauer, die eine Ebene tiefer stehen. Man muss auch baulich spürbar machen, dass da Menschen miteinander reden bzw. die Abgeordneten miteinander debattiert haben.
Göpfert: Und dass es ein gleichberechtigter Diskurs ist.
Münkler: Ja. Das macht den Unterschied aus zwischen der deutschen bürgerlichen Revolution von 1848 und der französischen von 1789. In Frankreich gab es einen Mirabeau, Robespierre und Saint-Just als herausgehobene Figuren. In der Paulskirche gab es keine vergleichbar herausragenden Gestalten – auch deswegen, weil man miteinander debattierte und keine großen Reden hielt.
Göpfert: Braucht es eine bauliche Neugestaltung der Paulskirche im Inneren?
Münkler: Darüber muss man nachdenken. Zugleich sollte durchaus der Bruch sichtbar bleiben, der durch die Jahre des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 entstand. Man sollte die Paulskirche also nicht in ihrem Zustand des 19. Jahrhunderts wieder herstellen, keine historisierende Rekonstruktion vornehmen. Wohl aber könnte man einige Elemente einbringen, um die Aura von 1848 zur Geltung zu bringen. Etwa mittels der Bestuhlung. Oder man könnte in die Fenster wieder die gotischen Rippen einsetzen. Im Erdgeschoss der Kirche sollte man mit modernen, multimedialen Mitteln die Geschichte des Ortes erzählen. Und dann gibt es eine zentrale und wichtige Frage: Ob das Wandgemälde „Der Zug der Volksvertreter“ von Johannes Grützke an dieser Stelle das Richtige ist.
Göpfert: Was sind Ihre Einwände gegen dieses Bild?
Münkler: Es erzählt die Geschichte eines selbstbezogenen Scheiterns. Das Bürgertum interessiert sich in dieser Darstellung nur für sich selbst, für die Nöte der Arbeiterklasse hat es keine Aufmerksamkeit.
Göpfert: Hat das Gemälde womöglich auch einen zynischen Blick?
Münkler: Ja. Die Abgeordneten des Paulskirchen-Parlamentes von 1848 werden als ziemlich arrogante Bande dargestellt. Und was von hinten bis vorne nicht stimmt, ist die Arbeiterklasse, die da im Gemälde auftaucht. Frankfurt war keine industrialisierte Stadt. Es war eine selbstbewusste Bürgerstadt. Man wollte die Arbeiter in der Stadt nicht haben und hat sie an den Rand gedrängt. […]
Göpfert: […] Was sollte [das geplante Haus der Demokratie] leisten?
Münkler: Nun, es muss sich an ein heterogenes Publikum wenden. An Schulklassen, aber auch an einzelne Besucherinnen und Besucher mit historischem Interesse. An Menschen, die keine Spezialisten sind für die Geschichte des Ortes. Das Haus der Demokratie sollte die Geschichte der Paulskirchen-Versammlung erzählen. Und zwar auch als eine Geschichte der Vertreibung der Abgeordneten ins Exil. Oder ihrer Ermordung. Robert Blum war da nur das prominenteste Opfer. Die Paulskirchen-Abgeordneten sind buchstäblich verstreut worden unter die Völker, sie landeten in Belgien, in Frankreich, in der Schweiz, in den USA und in England. Das Haus der Geschichte [gemeint ist das Haus der Demokratie] kann also kein triumphalistischer Ort sein. Hier können keine Heldengeschichten erzählt werden. Der Ort wird einen melancholischen Unterton besitzen. […]
Göpfert: Wie weckt man in jungen Menschen Interesse für die Paulskirche und das Haus der Geschichte?
Münkler: Als alter Hochschullehrer sage ich: Das Staunen, das Wundern und das Bewundern stehen am Anfang von Interessiertsein. An der Humboldt-Universität in Berlin bin ich mit meinen Studenten zur Einführung erst einmal in die Galerie der Nobelpreisträger gegangen. Im Haus der Geschichte wird es mit Blick auf die Jugend von zentraler Bedeutung sein, wie gut die Ausstellungen dort sind, wie einladend der Ort und von welcher Qualität das Personal des Hauses sein wird.
Claus-Jürgen Göpfert, „Herfried Münkler: ‚Die Paulskirche geht an einem vorbei‘“, Interview mit Herfried Münkler, Frankfurter Rundschau vom 3. November 2020. Online: Externer Link: www.fr.de/kultur/gesellschaft/herfried-muenkler-die-paulskirche-geht-an-einem-vorbei-90088115.html
Lange Zeit wurden die Ereignisse 1848/49 als eine gescheiterte deutsche Revolution interpretiert, weil sich weder die politischen oder sozialen noch die nationalen Ziele der Männer und Frauen von 1848/49 durchgesetzt hätten. Dass erst in einem Krieg gegen Frankreich im Januar 1871 ein deutscher Nationalstaat geschaffen werden konnte, erschien im Vergleich zu den auf den ersten Blick erfolgreichen Revolutionen in England 1688/89, in Nordamerika 1776 und in Frankreich 1789 als Beweis für eine gegenüber Westeuropa und den USA abweichende Entwicklung Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert. Diese Deutung eines „Sonderwegs“ hob besonders auf die angebliche politische Schwäche des deutschen Bürgertums und des Liberalismus ab, die sich als Folge der gescheiterten Revolution 1848/49 ab den 1860er-Jahren der Politik des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815–1898) und dem preußischen Machtstaat gebeugt habe. Langfristig, so die These, seien daraus auch Belastungen für die Weimarer Republik nach 1918 entstanden. Eine insgesamt defizitäre Freiheitsgeschichte seit 1848 sei so zu einem Faktor geworden, der wesentlich zum Scheitern der Demokratie 1933 beigetragen habe.
Doch lässt sich 1848/49 heute noch so deuten? Ein differenzierter Blick auf die deutsche Revolution lohnt aus unterschiedlichen Gründen: Er erlaubt ein genaueres Verständnis für die Geschichte politischer und sozialer Teilhabe und die Art und Weise, wie Menschen Politik um die Mitte des 19. Jahrhunderts konkret erfuhren und gestalteten, wie sie ihre Interessen organisierten und welche Hoffnungen sie damit verbanden. Eine solche historische Ortsbestimmung der Revolution wird die Männer und Frauen von 1848/49 nicht vorschnell zu Vorläufern der modernen Demokratie machen, sondern versuchen, ihre Errungenschaften, aber auch die Handlungsgrenzen und die Gründe für Misserfolge aus der Zeit heraus zu verstehen, Erfolg und Scheitern also nicht an heutigen Maßstäben zu messen.
Schließlich eröffnet die Beschäftigung mit 1848/49 auch eine differenzierte Perspektive auf deutsche Geschichte seit dem 19. Jahrhundert in einer europäischen Perspektive: Was zeichnete die deutschen Erfahrungen der Revolution besonders aus? Wie wirkte sie über 1848/49 hinaus? Ist die bis heute häufig verwendete Charakterisierung als „gescheiterte Revolution“ überhaupt berechtigt, oder müssen wir nicht eher zwischen kurzfristigem Scheitern und langfristigen Wirkungen unterscheiden? Was haben die Erbschaften von 1848/49 mit unserer eigenen Gegenwart zu tun?