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Geschichte und Gegenwart: Die Erbschaften der Revolution von 1848/49 | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 364/2025

Geschichte und Gegenwart: Die Erbschaften der Revolution von 1848/49

Jörn Leonhard

/ 4 Minuten zu lesen

In der deutschen Erinnerungskultur erscheint die Frankfurter Nationalversammlung oft als Vorläuferin der modernen parlamentarischen Demokratie. Aber die Erfahrung von 1848/49 geht weit darüber hinaus.

Desillusionierung, Verdrängung, Wiederentdeckung: Die Deutschen und die Revolution 1848/49

(© Thomas Plaßmann/www.thomasplassmann.de)

Wie gingen nachfolgende Generationen mit den Erfahrungen von 1848/49 um, und was verbindet uns mit dieser deutschen Revolution? In den unmittelbaren Reaktionen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf das Ende der Revolution dominierte zunächst die Kritik und Desillusionierung. Kritisierten Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) aus der Sicht der kommunistischen Bewegung den Verrat der Revolution der Massen mit der Feigheit des Bürgertums als Klasse, plädierte der Publizist und liberale Politiker August Ludwig von Rochau (1810–1873) dafür, den unpraktisch-naiven Idealismus der Revolutionäre von 1848/49 durch eine Konzentration auf die „Realpolitik“ zu überwinden, sich an gegebenen Umständen zu orientieren und erreichbare Ziele anzustreben.

Nach der Reichsgründung von 1871 sahen viele Nationalliberale, die durch die Erfahrung von 1848/49 geprägt worden waren, ihre Ziele erfüllt. Zwar stand am Beginn dieses deutschen Nationalstaates nicht mehr eine Deputation von Abgeordneten und keine Revolution von unten, sondern der Krieg gegen Dänemark von 1864, der durch die Übernahme von Schleswig und Holstein in preußische und österreichische Verwaltung die Schleswig-Holstein-Frage entschied, sowie die Proklamation des Zweiten Deutschen Reichs durch uniformierte Fürsten in einem Krieg gegen das zum Erzfeind stigmatisierte Frankreich. Aber viele National­liberale hofften dennoch, dass der nun geschaffene Nationalstaat den Rahmen für eine weitere progressive Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft bilden werde – also eine Fortsetzung der Regierungs­revolutionen der 1850er- und 1860er-Jahre in der Entwicklung von Wirtschaft, Recht und Parlamentarismus.

Dennoch entwickelte sich das Wilhelminische Kaiserreich in deutlicher Distanz zu den Erfahrungen von 1848/49. Pro-preußische Historiker und Publizisten betonten die Irrtümer und Widersprüche der Revolutionäre, nachdem der preußische Ministerpräsident und erste deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck bereits wirkungsvoll den Gegensatz zwischen „Majoritätsbeschlüssen“ und einer Praxis von „Eisen und Blut“ formuliert hatte. Eine positive Erinnerung an die Revolution entwickelte sich vor 1914 vor allem in der Sozialdemokratie, deren Anhänger die Revolution in die Vorgeschichte der Arbeiterbewegung einordneten. Das Ende des Ersten Weltkrieges und der Monarchie, die Revolution vom November 1918, vor allem aber die Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie und der Grundrechte in der Weimarer Verfassung legten positive Rückbezüge auf 1848/49 nahe. Aber dies blieb auf das sozialdemokratische und linksliberale Milieu beschränkt, während rechte und nationalkonservative Kritikerinnen und Kritiker die beiden Revolutionen von 1848/49 und 1918 in eine negative Kontinuität einordneten und ablehnten.

Nach der Erfahrung der Demokratiekrise und der nationalsozialistischen Machteroberung entwickelten sich nach 1945 unterschiedliche Deu­tungen von 1848/49. In der Bundesrepublik erschien die gescheiterte Revolution als Auftakt zu einem verhängnisvollen Sonderweg der deutschen Geschichte, mit der man die Katastrophengeschichte zwischen 1933 und 1945 zu erklären suchte. Der Misserfolg von 1848/49 habe von der Defensive des liberalen Bürgertums zur Kapitulation gegenüber dem autoritären Machtstaat Bismarcks geführt und die bürgerliche Mitte nach 1918 für die faschistische Gefahr anfällig gemacht. Während sich die Geschichtspolitik der DDR auf die Barrikadenkämpfe in Berlin, Leipzig und Dresden oder den Heckerzug in Baden konzentrierte, feierte man in der Bundesrepublik die Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung als Vorläufer der parlamentarischen Demokratie. Dazu passte seit den 1970er-Jahren die offizielle Rückbesinnung auf eigene deutsche Demokratietraditionen.

So setzte sich Bundespräsident Gustav Heinemann (1899–1976) für die Einrichtung einer Gedenkstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Raststatt ein. Für Heinemann ging es darum zu zeigen, „dass unsere heutige Verfassung durchaus eigenständige Wurzeln“ habe „und nicht nur eine Auflage der Sieger von 1945“ sei. Diese Interpretation hat seit dem 150-jährigen Jubiläum der Revolution 1998 neue Impulse erhalten. In einem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2021 persönlich mitherausgegebenen Sammelband zu „Wegbereitern der deutschen Demokratie 1789–1918“ waren acht der dreißig dort besprochenen Personen an der Revolution von 1848/49 beteiligt.

1848/49 in der Gegenwart der bedrohten Demokratie

Die Frage, was wir mit der Revolution von 1848/49 verbinden, begleitet uns bis in die Gegenwart. Die Diskussion um die Frankfurter Paulskirche als Zentralort der deutschen Demokratiegeschichte ist dafür ein Symptom. Die Forderung, das Gebäude in seinem Zustand von 1848 „authentisch“ zu rekonstruieren, um den konkreten Raum als historischen Ort der deutschen Demokratie hervorzuheben, steht dabei exemplarisch für die Versuche, eine eigene deutsche Demokratiegeschichte zu entwickeln. Sie erscheinen umso relevanter, je stärker die Errungenschaften der Demokratie in Deutschland, Europa und global angesichts des Erfolgs populistischer und autoritärer Gegenmodelle unter Druck geraten.

Doch ein Blick auf die konkreten Akteure und ihre Erfahrungen 1848/49 beweist, dass sich die Revolution vielen geschichtspolitischen Erwartungen der Gegenwart entzieht. 1848/49 ist ohne Zweifel ein Ort der deutschen Demokratiegeschichte, aber weder im Sinne einer negativen Sonderwegsgeschichte der Deutschen, noch einer geradlinigen Vorgeschichte der parlamentarischen Demokratie nach 1945. Wer sich auf ein historisches Verständnis einlässt, wird eher die vielen Orte und Erfahrungsräume und daher auch die Widersprüche der Revolution in den Blick nehmen. Die Revolution ging nicht in der Geschichte der Parlamente und besonders der Frankfurter Nationalversammlung auf, so wichtig ihre Arbeit und das Verfassungswerk auch waren. Zur Revolution gehörten das Wahllokal und das parlamentarische Plenum genauso wie der Verein, die Redaktion und die Barrikade. Zur Erfahrung von 1848/49 gehörten die Wirkungen und langfristigen Erbschaften über das kurzfristige Scheitern hinaus wie auch die vielen Wege der Achtundvierziger – in Deutschland, nach Europa oder an die vielen Orte des Exils, wo sie ihre Erfahrungen der Revolution in andere Gesellschaften einbrachten.

Quellentext„Der Blick ist diversifizierter geworden“ – Die Revolution von 1848 aus gegenwärtiger Perspektive

Die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Mirjam Wenzel, über die Debatte über Tradition, Demokratie und Paulskirche.

Michael Hesse: […] Wenn man auf die Feier des 150. Jahrestages der Revolution von 1848 zurückblickt: Muss man die Akzente am 175. Jahrestag anders setzen, allein schon aufgrund der vielen Ereignisse wie Nine-Eleven, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Pandemie und Krieg, die sich im letzten Vierteljahrhundert ereigneten?

Mirjam Wenzel: Diese Ereignisse und deren Folgen verändern natürlich die Perspektive, unter der wir heute auf das Jahr 1848 blicken. Die Paulskirche ist der Ort, an dem zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine demokratische Verfassung mit einem Grundrechtekatalog erarbeitet wurde. Der 175. Jahrestag fordert dazu auf, über die Verfasstheit von Demokratie heute nachzudenken: wie demokratisch ist unsere Gesellschaft? Wie stabil sind Demokratien in einer globalisierten Welt? Diese Fragen deuten darauf hin, dass wir uns heute in einer ganz anderen Situation als vor 25 Jahren befinden. Damals war der Kalte Krieg soeben – vermeintlich – zu Ende, die Globalisierung der Wirtschaft und die Digitalisierung ließen auf eine Welt hoffen, die zusammenwachsen könnte. Man wähnte sich „am Ende der Geschichte“. Heute haben wir es global mit einem Erstarken autoritärer Herrscher zu tun, die zumeist männlich sind, sich mehr oder weniger demokratisch legitimieren lassen und dann das, was Demokratie auszeichnet, nämlich Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit systematisch abschaffen. Zugespitzt gesagt, steht heute die Frage im Raum, ob wir in globaler wie europäischer Hinsicht nicht auf das Ende der Demokratie zusteuern. Und eben diese Entwicklung wirft die Frage auf, in welcher Gesellschaft wir leben wollen? Bzw. was wir tun können und auch müssen, um sicher zu stellen, dass die Gesellschaft von morgen weiterhin demokratisch verfasst ist?

Hesse: Vielleicht hat man vor 25 Jahren viele Dinge noch nicht so gesehen, wie wir es heute tun. Etwa die Rolle der Frauen in der Revolution. Sind viele Felder noch unterrepräsentiert in Bezug auf die Paulskirche und Demokratisierung?

Wenzel: Ich denke schon. Der Blick, den wir auf die Vormärz-Bewegung und die Nationalversammlung von 1848 werfen, ist diversifizierter geworden. Heute fällt es allgemein auf, dass die Frauen 1848 auf der Tribüne saßen, während die Männer debattierten. Frauen werden in unseren Diskursen um die Diversität unserer Gesellschaft ja gerne in einem Atemzug mit gesellschaftlichen Minderheiten genannt, also als eine Minderheit verstanden (was sie nicht sind).

Das Aufregende an der Nationalversammlung in puncto Diversität waren indes weniger die Zwischenrufe der Frauen von der Tribüne, sondern die sieben jüdischen Abgeordneten, von denen einer, nämlich der Hamburger Jurist Gabriel Riesser, sogar zum Vizepräsidenten avancierte und eine entscheidende Rolle im Verfassungsausschuss spielte. Die Nationalversammlung und die Vormärz-Bewegung, deren Vordenker ja der Frankfurter Ludwig Börne war, spielten eine entscheidende Rolle im Kampf der deutschen Juden um Gleichberechtigung. […] Die von ihnen eingeforderte Gleichberechtigung an einer politischen Praxis, die Minderheitsperspektiven berücksichtigt – das ist ein Aspekt der Geschichte, der heute sehr viel stärker wahrgenommen wird als noch vor 25 Jahren.

Hesse: Jetzt gibt es Stimmen, die sagen: Eigentlich steht die Paulskirche für etwas Nationales und vor allem für Parlamentarismus. Dieses solle man würdigen, wie man es früher auch getan hat. Gibt es dafür gute Gründe?

Wenzel: Die Frage ist immer, worüber wir sprechen, wenn wir über die Paulskirche reden. Über die Nationalversammlung, die hier tagte? Oder über den Wiederaufbau von 1948 und das, was seither an dem symbolischen Ort stattgefunden hat? […]

Die interessante Frage aber ist weniger, welche Bedeutung die Idee einer deutschen Nation heute hat, sondern vielmehr, ob die Grundrechte, die in der Nationalversammlung verabschiedet wurden, heute jenseits von Nationalstaatlichkeit garantiert werden können. Ob also etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die genau 100 Jahre später von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, eine globale Gültigkeit hat? Und ob diese Gültigkeit überstaatlich durchgesetzt werden kann, wo der Internationale Gerichtshof, der dies könnte, doch davon abhängig ist, dass die Nationalstaaten ihn anerkennen? Die Nationalstaaten sind ja heute in überstaatlichen Organisationen der UNO oder der UNESCO die entscheidenden Handlungsträger. Das birgt Konfliktpotenzial. Wie können Grundrechte also jenseits nationalstaatlicher Interessen durchgesetzt werden? Das finde ich eine relevante Frage, gerade weil wir zurzeit ein Erstarken der Nationalismen erleben. Deswegen finde ich es wichtig, die Geschichte von 1848 auch unter diesem Aspekt zu beleuchten. Denn wir können heute nicht mehr über die Idee der deutschen Nation sprechen, ohne über die Vorstellung einer deutschen Überlegenheit und die beiden Weltkriege zu sprechen, in denen sie mündete.

Hesse: Wenn das Nationale schwierig ist, welche Bedeutung messen Sie dann dem Parlamentarismus in der Geschichte von 1848 bei?

Wenzel: Die Nationalversammlung von 1848 war parlamentarisch organisiert. Es gab verschiedene Parteien, die sich in Fraktionen organisierten und nach den Häusern benannten, in denen sie sich versammelten, und es wurde in Ausschüssen gearbeitet sowie im Plenum diskutiert. Man stritt sich, debattierte und handelte Kompromisse aus, um Mehrheiten zu gewinnen. Es wurde also ebenso gearbeitet, wie dies ein Parlament heute tut. Das Parlament ist eine zentrale Säule unserer Demokratie; ohne das Parlament gäbe es keine Gesetzgebung. Mit der Tatsache, dass die Rede und die einzelne Person im Parlament eine zentrale Rolle spielen, ist jedoch auch eine Gefahr verbunden – Stichwort Populismus oder Fake News. Nicht selten finden nämlich die Reden von Personen mehr Gehör, die Tatsachen vereinfachen oder verdrehen und Ängste in der Bevölkerung schüren, für die sie dann Abhilfe schaffen wollen. In Demagogie und Populismus bestehen sicherlich die größten Gefahren für die liberalen Demokratien westlicher Prägung – zumal angesichts der Macht von Social Media. […]

Michael Hesse, „Debatte über die Paulskirche: ‚Wir müssen die Perspektive verändern‘“, Interview mit Mirjam Wenzel, Frankfurter Rundschau von 27. Oktober 2022. Online: Externer Link: www.fr.de/kultur/gesellschaft/debatte-ueber-die-paulskirche-wir-muessen-die-perspektive-veraendern-91878399.html

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. 2024 erhielt er für seine Forschungen zur politischen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im internationalen Vergleich den Gottfried-Wilhelm-Leibniz Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften.

Kontakt: E-Mail Link: joern.leonhard@geschichte.uni-freiburg.de