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Editorial | bpb.de

Editorial

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Jutta Klaeren

In der Bundesrepublik Deutschland leben derzeit schätzungsweise 200000 Juden. Rund 105000 von ihnen sind in den insgesamt 108 jüdischen Gemeinden organisiert, die ein weit gefächertes religiöses Spektrum aufweisen und vom Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten werden.

Jüdisches Leben in Deutschland schien nach den Schrecken der Schoah lange Zeit kaum vorstellbar. Die meisten Mitglieder der kleinen Nachkriegsgemeinden lebten denn auch bis in die dritte Generation hinein in Deutschland bildlich gesehen auf gepackten Koffern, um jederzeit das "Land der Täter" verlassen zu können. Erst seit Mitte der 1980er Jahre verstärkte sich die Zuversicht, in Deutschland eine Zukunft aufbauen zu können. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Bundesrepublik Deutschland in den 1990er Jahren zur Zufluchtsstätte für jüdische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Heute steht für viele Juden neben Skepsis und einer aus den Erfahrungen der Vergangenheit gespeisten Wachsamkeit für öffentliche Stimmungen das Bewusstsein, dass Juden seit nahezu 2000 Jahren die Kultur des europäischen Raums mitgestaltet haben.

Bereits im 4. Jahrhundert sind Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschland bezeugt. Entlang der großen Handelsstraßen und Flüsse entstanden jüdische Gemeinden. Die Juden lebten lange Zeit weitgehend unbehelligt inmitten der christlichen Mehrheitsgesellschaft und hatten eine wichtige Funktion für die Entwicklung der Städte und des Wirtschaftslebens. Die Pestpogrome Mitte des 14. Jahrhunderts zerstörten schließlich die blühenden Gemeinden, wobei neben religiösen auch soziale und wirtschaftliche Motive Ursache für Verfolgungen waren. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden die Juden aus fast allen Reichsstädten vertrieben und wohnten bis ins 19. Jahrhundert hinein überwiegend im ländlichen Raum, wo sie aufgrund der ihnen auferlegten Beschränkungen unter zumeist ärmlichen Verhältnissen ihren Lebensunterhalt als Hausierer, Handwerker, Viehhändler sowie Geber von Kleinkrediten verdienten. Einigen wenigen wohlhabenden Juden erlaubten die Landesherren - wie 1671 in Preußen - den Zuzug in ihre Residenzstädte, weil sie sich von ihnen wirtschaftliche Vorteile versprachen.

Die Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfasste auch die jüdischen Gemeinden. Ihr bekanntester Befürworter war Moses Mendelssohn. Er bemühte sich einerseits, seine Glaubensgenossen für eine Öffnung zur europäisch-christlichen Kultur zu gewinnen, und forderte andererseits von der christlichen Gesellschaft rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung für das Judentum.

Im 19. Jahrhundert erhielten die deutschen Juden schrittweise staatsbürgerliche Rechte. Die Chancen, die die rechtliche Emanzipation und der industrielle Fortschritt im 19. Jahrhundert boten, nutzten viele von ihnen zum Aufstieg ins Bürgertum. Sie leisteten wichtige Impulse für Wissenschaft, Kunst und Kultur der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Die meisten Juden verstanden sich als deutsche Patrioten, trafen jedoch vielfach auf Neid und Vorurteile ihrer Umgebung. Seit den 1870er Jahren entstand eine starke antisemitische Bewegung, die auch die gesellschaftlichen Eliten erfasste.

Die Darstellung Arno Herzigs vermittelt einen anschaulichen Eindruck der langen und produktiven deutsch-jüdischen Geschichte und belegt, dass es in ihr nicht nur Perioden der Entzweiung und Ausgrenzung gegeben hat, sondern auch der Annäherung und Zusammenarbeit. Immer wieder wird exemplarisch deutlich, wie schwer es der christlichen Mehrheitsgesellschaft fiel, die Eigenständigkeit ihrer jüdischen Mitbürger zu tolerieren und zu respektieren. Letztlich wurde Anpassung gefordert und in vielen Bereichen auch freiwillig geleistet. Ob man, insbesondere für die Zeit des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts, von einer deutsch-jüdischen Symbiose sprechen kann, ist allerdings - ebenso wie der Begriff selbst - umstritten. Sie war zwar, wie der Historiker Reinhard Rürup meint, "eine gesellschaftliche Realität, aber sie blieb eine einseitige Angelegenheit, betraf das Denken und Handeln der deutschen Juden, nicht des deutschen Volkes insgesamt".

Auch heute noch gibt es Antisemitismus. Er zeigt sich teilweise offen und in neuen Formen. Diesen Tendenzen entgegenzuwirken und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland den Ort zu bewahren, dem sie seit Jahrhunderten zugehört, ist eine bleibende Aufgabe für unsere demokratische Gesellschaft.

Jutta Klaeren

Fussnoten