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Der Staat als neutraler Schiedsrichter

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Matthias Krahe ist Leiter der Abteilung Bildung beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg. (© Die Hoffotografen GmbH)

Im historischen Rückblick wird oft behauptet, dass die DDR ein religionsfeindlicher Staat war. Bis zur Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz am 22. August 1976 ist das zweifellos richtig, danach aber entspannte sich das Verhältnis von Staat und Kirche. Die Kirche war das staatlich tolerierte Ventil für den Missmut der Bevölkerung. Unter ihrem Dach sammelte sich die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Kirchenvertreter gestalteten deshalb die Wende mit und moderierten die Runden Tische. Unterstützt von den Kirchen gewann die Christlich-Demokratische Union die letzten Volkskammerwahlen deutlich. Seither haben die Kirchen ihren politischen Einfluss stetig ausgebaut.

Dabei schrumpfen beide Kirchen seit Jahrzehnten, bis 2060 rechnen sie mit einer Halbierung ihrer Mitgliederzahlen auf bundesweit rund 20 Millionen Menschen. Abzüglich der Angehörigen anderer Religionen bleiben dann zwischen 40 und 50 Millionen Bürger, die, um es mit Jürgen Habermas zu sagen, "religiös unmusikalisch" sind. Das wachsende Bedürfnis, ein glückliches Leben ohne Gott zu führen, ist die logische Konsequenz von Aufklärung und Moderne.

Umso irritierender, wie emotional über religiöse Symbole in öffentlichen Einrichtungen debattiert wird. Unsere Verfassung sieht ein Neutralitätsgebot vor, demzufolge sich der Staat selbst nicht mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren darf. Der Staat ordnet als Schiedsrichter das gesellschaftliche Zusammenspiel aller Akteure, das Trikot einer der teilnehmenden Mannschaften ist deshalb für ihn tabu. Kruzifixe haben daher in Gerichten, Behörden oder Schulen ebenso wenig verloren wie Halbmonde, Davidsterne oder das buddhistische Lebensrad.

Diese weltanschauliche Neutralität gilt auch für Lehrkräfte. Beim Ausüben ihrer Funktion dürfen sie nicht das Trikot einer der an der Gesellschaftsbildung beteiligten Mannschaften tragen. Weil sie den Staat repräsentieren, müssen sie Symbole ihres persönlichen Glaubens (Kreuz, Kippa, Kopftuch, Nudelsieb) im Dienst ebenso ablegen wie Parteiembleme. Dabei geht es nicht um ein Berufsverbot für bekennende Gläubige, sondern darum, dass das gesellschaftliche Anliegen der Friedensstiftung schwerer wiegt als die sichtbare Selbstverwirklichung von Lehrkräften im Dienst. Wollen Lehrer_innen aus persönlichen Gründen nicht auf das Tragen eines religiösen Symbols während ihrer Dienstausübung verzichten, fehlt ihnen die Einsicht in den friedensstiftenden Sinn der verfassungsgemäßen Neutralitätspflicht.

Religiös motivierte Forderungen wie "der Erhalt des christlich-jüdischen Abendlandes" oder die Einführung eines getrennt-geschlechtlichen Schwimmunterrichts – meist eingebracht von Hardlinern – prägen zunehmend den gesellschaftlichen Diskurs. Übrigens sehr zum Ärger moderater Gläubiger, die ihre Werte von Rechtspopulisten und fundamentalistischen Religiösen missbraucht sehen, um unsere Gesellschaft zu spalten.

Die Gretchenfrage ist seit jeher eine private. Dass damit Religion aus dem öffentlichen Raum verbannt wird, ist Unsinn. Religiöse Symbole sind im Straßenbild allgegenwärtig. Hierzulande hat jeder die freie Wahl, zu glauben oder nicht zu glauben. Diese Freiheit garantiert der weltanschaulich neutrale Staat. Als Schiedsrichter im Spiel der gesellschaftlichen Kräfte fällt ihm die Aufgabe zu, für alle die gleichen Voraussetzungen zu schaffen. Deshalb ist es wichtig, auch mit humanistischen Körperschaften Staatsverträge abzuschließen. Gleiches gilt für die Besetzung von Rundfunk- und Ethikräten. Wenn Hochschulförderung, Impfpflicht, Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch oder Genforschung diskutiert werden, müssen auch die Religionsfreien und nicht nur "Gottes Stellvertreter auf Erden" angehört werden. Parität statt Privileg muss das Motto in einer weltanschaulich bunten Gesellschaft lauten.

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