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„Dienst und Freiheit“ – Die Neubesinnung auf das christliche Leben in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre | bpb.de

„Dienst und Freiheit“ – Die Neubesinnung auf das christliche Leben in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre

Andreas Stegmann

/ 17 Minuten zu lesen

Für die meisten DDR-Bürger war das Leben in diesem Staat nicht ihre eigene Wahl, sondern Schicksal. Wie man sich darauf einzulassen versuchte, ohne sich den ideologischen Zwängen einfach zu unterwerfen, zeigt eine Diskussion im ostdeutschen Protestantismus, die um das Jahr 1960 geführt wurde.

Kirchgänger verlassen die Thomaskirche in Leipzig, Aufnahme aus den 1960er Jahren (© picture-alliance/dpa – Bildarchiv, Foto: Günter Bratke)

Die Friedliche Revolution – eine „protestantische Revolution“?

Beobachter und Beteiligte der Friedlichen Revolution in der DDR schrieben der evangelischen Kirche große Bedeutung für den Umbruch zu. Mancher sprach sogar von einer ,protestantischen Revolution‘, um auf die Rolle der Kirche als institutionellem Schutzraum der Opposition und auf den christlichen Glauben als Motivation für viele Oppositionelle hinzuweisen. So rasch, wie diese Etikettierung aufkam, verschwand sie allerdings auch wieder, angesichts der insgesamt ambivalenten Haltung der evangelischen Kirche gegenüber der DDR. Zudem überlagerte die Fokussierung auf den Beitrag der evangelischen Kirche deren tatsächliche Bedeutung für die Ereignisse. Allerdings steckt bei aller Übertreibung und Vereinseitigung ein bedenkenswertes Moment in dieser Etikettierung, profitierte die Revolution, wenn sie auch nicht von der evangelischen Kirche ermöglicht, initiiert und getragen wurde, doch von deren mentalen und organisatorischen Ressourcen.

Die Bedeutung des ostdeutschen Protestantismus für die Friedliche Revolution bestand vor allem in seiner institutionellen Verfasstheit: Die evangelischen Landeskirchen standen dem SED-Staat 40 Jahre lang als einzige nichtstaatliche Großorganisation mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung gegenüber. In einer eigentümlichen Mischung aus Widerstand, Anpassung und Rückzug – den drei möglichen Strategien, mit denen Religionsgemeinschaften auf die Herausforderung durch einen totalitären Staat reagieren – gelang es dem DDR-Protestantismus, gegen die antichristliche Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) seine volkskirchlichen Strukturen und einen nicht unerheblichen Teil seiner Mitgliedschaft zu halten. 1945 waren circa 90 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer evangelischen Landeskirche, 1989 immerhin noch circa 25 Prozent. Dabei war es nicht ein bestimmter Glaube, sondern die institutionelle Verfasstheit und das Bemühen um die Wahrung der Institution, was die Beharrungskraft von Religion im totalitären Staat ausmachte, ähnlich wie es sich in der Sowjetunion mit der russisch-orthodoxen und in Polen mit der römisch-katholischen Kirche als der jeweiligen Mehrheitskonfession verhielt.

Erfahrungen und Traditionen

Die sich gegenüber der totalitären Herausforderung behauptende institutionelle Verfasstheit der Kirche war allerdings nicht denkbar ohne die Glaubensinhalte, die zudem die besondere Art und Weise, wie sich einzelne Religionsgemeinschaften verhielten, mitbestimmten. Für den DDR-Protestantismus gilt, dass für ihn zum einen die Tradition des reformatorischen Christentums und zum anderen die Erfahrungen der Bekennenden Kirche während des Drittens Reichs das Verhalten gegenüber dem SED-Staat geprägt haben. Diese Tradition und Erfahrungen waren während der ganzen Zeit der DDR gegenwärtig und bestimmten den Blick auf die Wirklichkeit und den Umgang mit ihr. Immer wieder wurden sie auch offen zur Diskussion gestellt und vor allem im Zusammenhang mit den Weichenstellungen für den weiteren Weg des ostdeutschen Protestantismus für neue Herausforderungen nutzbar gemacht. Zu nennen sind hier etwa die innerkirchlichen Diskussionen Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Selbstfindung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR und die Diskussionen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre um das kirchliche Engagement für Menschenrechte, Friedenserhaltung und Umweltschutz. Grundlegend für diese Diskussionen und auch für den Beitrag des ostdeutschen Protestantismus zur Friedlichen Revolution aber war eine Debatte, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre geführt wurde und in einem im März 1963 veröffentlichten Papier gipfelte.

Johannes Hamel und die Diskussion über das christliche Leben im ostdeutschen Protestantismus der 1950er Jahre

Dass aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein eigenständiger deutscher Teilstaat werden würde und die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hier auf Dauer durch die Sowjetisierung bestimmt sein würden, war Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre für viele nicht absehbar. Auch für die evangelischen Landeskirchen in der SBZ und der DDR, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung Mitglied war, war die sich abzeichnende deutsche Teilung und die Eingliederung des östlichen Teilstaats in den sowjetischen Machtblock kaum mehr als eine aktuelle Herausforderung, auf die man ad hoc reagieren musste. Gedanken darüber, wie man auf Dauer in einem Gemeinwesen mit totalitärem Charakter existieren könnte, machte man sich kaum. Nur vereinzelt wurden Stimmen laut, die über den begrenzten Horizont aktueller Herausforderungen hinausdachten. Eine dieser Stimmen war die von Johannes Hamel, der bis 1955 als Studentenpfarrer in Halle (Saale) und seit 1955 als Dozent am Katechetischen Oberseminar Naumburg wirkte. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Bekennenden Kirche und angeregt von dem Schweizer Theologen Karl Barth erkannte Hamel, dass sich die evangelische Kirche in der DDR auf die gegebene Situation einlassen musste und entwickelte Leitlinien für ein zugleich kritisches und konstruktives Verhältnis zu dieser gegebenen Situation.

Bedeutsam für Hamels Konzeption war, dass er nicht die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat und die damit zusammenhängenden Fragen nach der Legitimität der weltlichen Obrigkeit oder nach der politischen Verantwortung der Kirche in den Mittelpunkt stellte, wie es der Protestantismus üblicherweise im Anschluss an Römer 13 tat, sondern vom einzelnen und seinem Leben in der DDR ausging. Bereits in einem 1952 gehaltenen Vortrag finden sich die drei Grundgedanken seiner in den Folgejahren weiter ausgeführten Konzeption. Erstens die Leitfrage: „[W]as heißt es, heute unter der Herrschaft eines kommunistischen Staates als ein Christ zu leben?“; zweitens die Unterscheidung der theologischen und der politischen Dimension dieser Frage mit der Betonung der Priorität der theologischen Dimension; und drittens die Erfahrung der Unmittelbarkeit der Bibel, die den einzelnen Christen und die Kirche dazu befähige, trotz des äußeren Drucks durch den SED-Staat die falsche Alternative von Widerstand oder Anpassung hinter sich zu lassen, in der „Freiheit der Kinder Gottes“ in der gegebenen Situation Zeugnis abzulegen und die Nächstenliebe zu praktizieren.

1957/58 entfaltete Hamel diese Überlegungen zum christlichen Leben in der DDR in mehreren breit rezipierten Publikationen, in denen er die seiner Meinung nach für das christliche Leben in der DDR maßgebliche Dialektik von Gehorsam und Freiheit vor Augen stellte. Im Glauben an Gott, der auch und gerade in der DDR der 1950er Jahre gegenwärtig sei, sollten die Christen in der gegebenen Situation in Wort und Tat Zeugnis für Gott ablegen und der in diesem Gehorsam beschlossenen Freiheit teilhaftig werden, die sie gerade auch gegenüber dem totalitären Staat frei mache und es ihnen ermögliche, sich auf ihn einzulassen, ohne sich ihm preiszugeben.

Ein vierfaches ,Ja'

Hamel sah in der Bibel ein vierfaches ,Jaʻ und ein einfaches ,Neinʻ bezeugt, das genauso damals wie heute Leitlinie christlichen Lebens in der Welt sei. Das vierfache ,Jaʻ besage erstens, dass die innerweltlichen Machthaber von der Warte Gottes aus gesehen stets nur „Instrumente“ seien: so etwa die Israel bedrohenden Herrscher Assyriens, Babyloniens oder Persiens, so etwa die Jesus zum Tode verurteilenden und hinrichtenden römischen Autoritäten, und so auch die marxistischen Machthaber des Ostblocks.

Zweitens besage dieses ,Jaʻ, dass diese Instrumente Werkzeuge von Gottes Gerichtshandeln seien: Die Bedrückung durch die innerweltlichen Machthaber sei nicht bloß unverschuldetes Leiden, sondern auch Gottes Aufruf zur Umkehr; sie werde zum Anlass, sich selbst zu hinterfragen und das Selbstverständnis und die Praxis der Kirche auf den Prüfstand zu stellen.

Drittens besage dieses ,Jaʻ, dass Gott durch die Indienstnahme der innerweltlichen Mächte für seine Zwecke und den hier laut werdenden Ruf zur Umkehr eine „neue Stunde“ für die Christen ankündige, ja, dass er diese neue Stunde bereits heraufführe, indem gerade die äußere Bedrängnis der Gemeinde ihr neue Wirkungsmöglichkeiten erschließe.

Viertens meine es die Bejahung der gegebenen, wenn vielleicht auch schwierigen oder gar verzweifelten Situation der Christen. Wie der Prophet Jeremia den Deportierten schreibe, sich in Babylon eine neue Existenz aufzubauen und das Beste ihrer Stadt zu suchen, so gelte auch für die Christen in der DDR, dass hier der Ort ihres christlichen Lebens und dass es gerade Gott sei, der wolle, dass sie ihren Alltag hier unter der Parteidiktatur der SED lebten. Hamel ist sich sicher, dass „der Glaube an Jesus Christus […] überall Möglichkeiten zu verantwortlichem Tun“ eröffne. Und was Paulus in Römer 13 fordere, dass die Christen nämlich den römischen Autoritäten untertan sein sollen, gelte auch für die DDR: „Im Glauben sollen wir nicht zu einem ,Systemʻ Ja oder Nein sagen, sondern sollen nach dem jeweils gebotenen Ja und Nein in concreto suchen.“

Das alles will keine theologisch verbrämte Kapitulation vor dem SED-Staat sein, sondern versteht sich als biblisch begründete Anleitung zum christlichen Leben in der DDR: zur verantwortlichen Wahrnehmung des Berufs, zum freundlichen Umgang mit den Mitmenschen, zur Fürsorge für die Schwachen, zur „Mitwirkung an der Gestaltung und Füllung“ der „Ordnungen der Gesellschaft“, und zwar gerade auch „einer vom Marxismus-Leninismus geprägten und geführten Gesellschaft“.

Ein klares ,Nein'

Dass Hamel mit seiner Einschärfung des christlichen Gehorsams im Zeichen des Evangeliums nicht vor dem SED-Staat kapituliert, wird gerade auch durch den fünften Punkt – das „Nein zum Götzendienst“ – deutlich. Denn es gebe auch Grenzen, selbst wenn davon erst im Anschluss an das vierfache ,Ja' und nur in einem einzigen Punkt die Rede ist. Die Grenze, die Hamel hier zieht, ist weniger eine Grenze für die innerweltlichen Machthaber als vielmehr eine Grenze für die Gemeinde. Der Götzendienst – sprich: „Übernahme fremder Gottesbilder (aus politischen oder anderen Gründen), Tarnung faktischer Anbetung des Geschaffenen durch fromme Vokabeln und frommes Tun, Verharmlosung von Rechtsbruch und Gewalttat, von Lebensgenuß unter Mißachtung der Armen und Elenden, von Selbstüberhebung wie von Verzagtheit“ – sei mehr ein Problem der Christen als der Nichtchristen. Gleichwohl impliziert dieses an die Christen adressierte ,Nein' auch eine Grenzziehung in ihrem Verhältnis zur Welt: Wenn sich Christen zum zugleich gnädigen und richtenden Gott bekennen, dann verbietet das für Hamel jede falsche Beanspruchung Gottes für fragwürdige weltliche Zwecke und damit auch eine kritiklose Hinnahme des ideologischen Anspruchs des SED-Staats. Gerade weil die Christen „sich ihrer Erkenntnis gemäß am politischen Leben im weitesten Sinne aktiv zu beteiligen“ haben, ist ihm der Hinweis auf diese Grenze wichtig. Einerseits ermöglicht Hamel mit dem vierfachen ,Jaʻ ein christliches Leben in der DDR, andererseits gilt für dieses christliche Leben in der DDR, dass es in ihm letztlich um Gott geht, weshalb man neben dem ,Ja‘ auch um das ,Nein‘ wissen muss. Christliches Leben in der DDR steht für Hamel zwar im Zeichen einer Dialektik von Ja und Nein – von Sich-Einlassen auf den SED-Staat und der nicht preiszugebenden Freiheit des Glaubenden –, aber es handelt sich dabei um eine bewusst asymmetrisch konzipierte Dialektik, die mit ihrer Überbetonung des Ja christliches Leben auch im totalitären Staat ermöglichen will.

Die Rezeption von Hamels Dialektik

Hamels Dialektik von Gehorsam und Freiheit wurde in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre von vielen evangelischen Christen in der DDR als hilfreiche Wegweisung empfunden. Kirchliche Gremien rezipierten seine Überlegungen, und 1959 begann die Evangelische Kirche der Union (EKU) mit breit angelegten Beratungen über die wesentlich von Hamel mitverfasste kirchliche Handreichung „Das Evangelium und das christliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik“. Diese Frage nach dem „christlichen Leben“ und die von Hamel und seinen Mitstreitern skizzierten Antworten erwiesen sich als das rechte Wort zur rechten Zeit. Sie zeigten gerade mit ihrer streng religiösen Fassung der zu diesem Leben anleitenden Formel Gehorsam und Freiheit, dass auch die DDR der Ort christlichen Lebens war und dass dieses Leben in der Verantwortung gegenüber Gott und der Welt geführt werden konnte.

Die SED verfolgte diese Debatten innerhalb der evangelischen Landeskirchen aufmerksam und versuchte, auch lenkend einzugreifen. Dazu übte sie nicht direkten Druck von außen aus, sondern bediente sich staatsloyaler Gruppen und Akteure innerhalb der Kirche. Da gab es etwa den Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim, der von der SED hofiert wurde, weil er ableugnete, dass das christliche Leben in der DDR überhaupt ein Problem sei, und stattdessen ein friedlich-schiedliches Nebeneinander von Kirche und Staat propagierte. Zu den von der SED gesteuerten Blockparteien gehörte die Ost-CDU, die mit ihrem „Christlichen Realismus“ die Öffnung für den Sozialismus unterstützte und das Bemühen um eine differenzierte Stellungnahme zum SED-Staat ebenfalls kritisch sah. Ähnlich bemühten sich auch ,progressive‘ innerkirchliche Gruppen wie der ,Bund evangelischer Pfarrer‘ oder der Weißenseer Arbeitskreis, die kirchliche Meinungsbildung im Sinne der SED zu beeinflussen. All diese Bemühungen blieben allerdings ohne großen Erfolg, war doch der Grundkonflikt zwischen der Religions- und Kirchenfeindschaft der SED und der christlichen Prägung großer Teile der Bevölkerung und den institutionell immer noch starken christlichen Kirchen unübersehbar.

Die Herausforderung durch den Mauerbau

Die Schließung des letzten passierbaren Teilstücks der innerdeutschen Grenze im August 1961 lenkte die Diskussion über das christliche Leben in der DDR in neue Bahnen, gab es nunmehr doch nicht mehr die Flucht als Alternative des Sich-Einlassens auf die gegebene Situation in DDR und wurde damit doch die Aufforderung zum im Glauben auf sich genommenen „Bleiben in der DDR“ funktionslos. Das glaubensgewisse ,Ja‘ zu den gegebenen Verhältnissen musste auf neue Weise plausibel gemacht und vor allem durch die Unterstreichung der Freiheit der Glaubenden gegenüber dem SED-Staat abgesichert werden. Das sollte – so die Planung in den kirchlichen Leitungsgremien – durch eine Art Bekenntnisdokument geschehen. Bis zum März 1963 zog sich die Erarbeitung dieses Papiers hin, das schließlich als „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“ von der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR verabschiedet wurde.

Die „Zehn Artikel“ gehen auf mehrere Papiere zurück, die Johannes Hamel im Auftrag des Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union für öffentliche Verantwortung im Herbst 1961 konzipiert hatte und in denen er seine in den 1950er Jahren entwickelte Konzeption den neuen Herausforderungen anzupassen versuchte. Terminologisch präziser sprach Hamel nun von der Dialektik von Dienst und Freiheit, die für die christliche Existenz in der DDR maßgeblich sei. Aus diesen Papieren wuchsen im Laufe des Jahres 1962 die „Zehn Artikel“ hervor, die in vielem Hamels Konzeption verpflichtet blieben, an einigen Punkten aber neue Akzente setzten. Die wichtigste Veränderung war die Umstellung der Reihenfolge von Dienst und Freiheit: Die „Zehn Artikel“ stellten betont heraus, dass die Freiheit des Glaubens im Verhältnis zu Gott allem Dienst der Glaubenden an der Welt vorgeordnet war und der Dienst als Realisierungsform dieser Freiheit zu begreifen war. Diese Umstellung richtete sich nicht gegen Hamel, der mit den „Zehn Artikeln“ einverstanden war, sondern gegen den Versuch einer organisatorisch-ideologischen Selbstgleichschaltung der Kirche mit dem totalitären Staat. Diesen Versuch unternahmen die als Reaktion auf die „Zehn Artikel“ entstandenen sieben „Theologischen Sätze“ des Weißenseer Arbeitskreises, die unter dem Titel „Von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ im November 1963 verabschiedet wurden. Diese von ihrem Hauptverfasser Hanfried Müller mit seinem Stasi-Führungsoffizier abgestimmten „Sätze“ reden zwar auch von Freiheit und Dienst, sie geben aber die Freiheit zugunsten des Dienstes preis und erblicken gerade in dieser Preisgabe der Freiheit die wahre Freiheit der Christen in der DDR. Das war gerade kein religiös begründetes und begrenztes Ja zum christlichen Leben in der DDR, sondern die religiös verbrämte Unterwerfung unter den SED-Staat.

Die im März 1963 verabschiedeten „Zehn Artikel“ wurden innerkirchlich verbreitet und diskutiert. Die Zensur verhinderte einen Separatdruck und eine Zeitschriftenveröffentlichung in der DDR, sodass der Text nur als Vervielfältigung für den innerkirchlichen Dienstgebrauch zirkulieren konnte. Als „der Kirche heute in Auslegung von Schrift und Bekenntnis gegebene Wegweisung“ – so die Charakterisierung der Artikel im Beschluss der Konferenz der Kirchenleitungen – stieß sie auf ein überwiegend positives Echo. Anders als erhofft etablierten sie sich aber nicht als eine Art neue „Barmer Theologische Erklärung“, also als allgemein anerkannte und auf Dauer präsente Leitlinie kirchlichen Lebens und Handelns. Obwohl die Artikel theologisch durchdacht und auf die kirchliche Praxis ausgerichtet waren, schienen sie nicht das rechte Wort zur rechten Zeit zu sein. Die 1960er Jahre waren vielmehr ein Jahrzehnt des resignativen Rückzugs des ostdeutschen Protestantismus, in dem die selbstbewusste Behauptung der christlichen Freiheit und der Aufruf zum gehorsamen Dienst in der Welt wenig Widerhall fanden. Erst ein Jahrzehnt später – nach der erzwungenen Abspaltung der Landeskirchen in der DDR von der EKD und der Bildung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) – wurde die in den „Zehn Artikeln“ gipfelnde Diskussion über das christliche Leben wieder aufgenommen und weitergeführt. In der Selbstbeschreibung als „Kirche im Sozialismus“ fand die Dialektik von Freiheit und Gehorsam eine neue, allerdings sehr unterschiedlich auslegbare Formulierung und wurde in wegweisenden Beiträgen wie etwa dem Referat Heino Falckes auf der BEK-Synode 1972 neu bedacht.

Abschluss

Wenn Rainer Eppelmann im Rückblick auf die späten 1980er Jahre feststellt, dass das politische Engagement, das sich in den 1980er Jahren im Raum der ostdeutschen Landeskirchen entwickelte, in der „evangelischen Freiheit“ gegründet habe, ist das keine fragwürdige Selbststilisierung, sondern ein ernstzunehmender Hinweis auf eine Mentalitätsprägung, die während der ganzen Zeit der DDR im landeskirchlichen Protestantismus lebendig war. Die Diskussion um das christliche Leben in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre hatte diese Prägung ins Bewusstsein gerufen und Wege gewiesen, über diese christliche Freiheit zu reden und sie im Alltag wirksam werden zu lassen. Dass es sich dabei um eine Aktualisierung reformatorischer Grundeinsichten von der christlichen Freiheit handelte, war den Beteiligten durchaus bewusst, auch wenn es selten betont wurde und erst im Rückblick wirklich klar geworden ist. Tatsächlich hatte Luthers epochale Doppelthese von 1520 ihre Wirkungsgeschichte auch in der DDR: „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandtd unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan“.

Zitierweise: Andreas Stegmann, „Dienst und Freiheit“ – Die Neubesinnung auf das christliche Leben in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, in: Deutschland Archiv, 15.3.2018, Link: www.bpb.de/266152

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einen Rückblick auf die Diskussion bietet: Sebastian Kranich, 1989/90: Protestantische Revolution?, in: Klaus Tanner (Hg.), Konstruktion von Geschichte. Jubelrede – Predigt – Protestantische Hagiographie, Leipzig 2012, S. 347–361; eine im Grundsatz nach wie vor überzeugende Kritik bietet: Detlef Pollack, Der Umbruch in der DDR – eine protestantische Revolution? Der Beitrag der evangelischen Kirchen und der politisch alternativen Gruppen zur Wende 1989, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Protestantische Revolution? Kirche und Theologie in der DDR, Göttingen 1993, S. 41–72.

  2. In der zwischen ungerechtfertigter Überschätzung und vorschneller Marginalisierung schwankenden Bestimmung der Bedeutung des landeskirchlichen Protestantismus für die Friedliche Revolution formuliert Klaus-Dietmar Henke eine plausible Mittelposition, indem er „die Existenz einer evangelischen Kirche“ zu den „[z]ehn günstige[n] Voraussetzungen“ der Revolution zählt (Ders., 1989, in: Ders. [Hg.], Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 23 f.).

  3. Der folgende Beitrag klassifiziert die DDR in Anlehnung an gewichtige ältere und neuere Forschungsbeiträge als „totalitär". Klaus Schroeder hat die Berechtigung des totalitarismustheoretischen Deutungsansatzes wiederholt unterstrichen, etwa in seinem Standardwerk: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, Köln u. a. 2013; gleichwohl ist auf die vielgestaltige Forschungsdiskussion zu verweisen, hierzu: Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2010, S. 89–100 und die notwendigen Differenzierungen zwischen NS- und SED-Staat, kurz zusammengefasst bei: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 414–419.
    Üblicherweise finden sich bei größeren Religionsgemeinschaften unterschiedliche Mischungen aller drei Strategien, während kleinere Religionsgemeinschaften vorrangig auf eine Strategie setzen. So zog sich die römisch-katholische Kirche in der DDR vor allem auf sich selbst zurück und verzichtete um der institutionellen Selbsterhaltung willen auf die nur um den Preis von Konflikt mögliche Öffentlichkeitswirkung. Die Zeugen Jehovas dagegen – teils aus echter Überzeugung, teils erzwungen durch die brutale Verfolgung durch den Staat – widersetzten sich dem SED-Staat und sicherten ihr Überleben gerade durch den fortdauernden Konflikt mit dem Staat. Die Herrnhuter Brüdergemeine hingegen ließ sich über die Zeit stärker auf die Avancen und Vorgaben des SED-Staats ein und überdauerte die DDR vorrangig durch die Anpassung.

  4. Zu Hamels Person und Werk: Michael Hüttenhoff, Art. Hamel, Johannes, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 36 (2015), S. 518–522; Andreas Stegmann, Theologische Gegenwartsdeutung im ostdeutschen Protestantismus der 1950er Jahre. Der ,Christliche Realismusʻ der Ost-CDU und Johannes Hamels Dialektik von Gehorsam und Freiheit, in: Michael Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte und Gott, Leipzig 2016, S. 622–656, hier S. 634–655.

  5. Karl Barth (1886–1968) gehört zu den wichtigsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts und spielte eine Schlüsselrolle für die Bekennende Kirche. Nach seiner Vertreibung aus Deutschland, wo er bis 1934 als Professor in Göttingen, Münster und Bonn gelehrt und sich für die SPD engagiert hatte, beobachtete er von Basel aus die Situation in Deutschland aufmerksam und übte starken Einfluss auf den deutschen Protestantismus aus.

  6. Im Brief des Paulus an die Römer heißt es in Kapitel 13: „(1) Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. (2) Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. (3) Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. (4) Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. (5) Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. (6) Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. (7) So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.“ (Lutherbibel 2017).

  7. Abgedruckt in: Johannes Hamel, Seid nüchtern und wachet, Göttingen 1958, S. 15–22.

  8. Zu nennen sind hier vor allem zwei in mehreren Auflagen verbreitete und zum Teil ins Englische und Französische übersetzte Sammelbände Hamels: Christ in der DDR, Berlin 1957; Christenheit unter marxistischer Herrschaft, Berlin 1959. Im letztgenannten Sammelband findet sich der 1958 erstmals erschienene Aufsatz „Die Verkündigung des Evangeliums in der marxistischen Welt“ (S. 3–56), der Hamels Konzeption eingängig präsentiert. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diesen Aufsatz.

  9. Ebd., S. 49.

  10. Johannes Hamel, Erwägungen zur urchristlichen Parainese über das politische Verhalten der Christen, in: Ernst Wolf (Hg.), Christusbekenntnis im Atomzeitalter?, München 1959, S. 151–163, hier S. 162.

  11. Johannes Hamel, Vom Auftrag der Christenheit in der Welt, in: Potsdamer Kirche, 44 (1964).

  12. Hamel, Die Verkündigung des Evangeliums in der marxistischen Welt (Anm. 8), S. 21.

  13. Ebd., S. 55.

  14. 1960 verabschiedete die Synode der EKU als einen ersten Text aus der 1959 vorgelegten und mittlerweile in Überarbeitung befindlichen Handreichung das von Horst Lahr konzipierte Papier „Unser Bleiben in der DDR“, das in engem Anschluss an Hamel für die bewusste Entscheidung der evangelischen Christen und vor allem der kirchlichen Amtsträger gegen eine Flucht in die Bundesrepublik warb.

  15. Kirchliches Jahrbuch 90 (1963), S. 181–185.

  16. Vom September bis zum Dezember 1961 legte Hamel dem Ausschuss der EKU für öffentliche Verantwortung drei inhaltlich eng miteinanderhängende und als Einheit verstandene Papiere vor: 1. „Dienst und Freiheit der ev. Christenheit in der DDR heute“; 2. „In der Stunde der Versuchung“; 3. „Zwölf Artikel evangelischer Lehre“. Alle drei Texte sind ediert in: Andreas Stegmann und Henning Theißen (Hg.), Christliches Leben in der DDR, Leipzig 2018 (im Druck).

  17. Die wichtigsten Stationen der Umarbeitung von Hamels Vorlagen sind ein Zehn-Punkte-Papier des EKU-Ausschusses für Öffentliche Verantwortung vom Januar 1962, ein daraus entwickeltes Zehn-Punkte-Papier des Theologischen Sonderausschusses der EKD vom Februar 1962, das von diesem Ausschuss bis Mai 1962 zu „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der angefochtenen Kirche“ umgearbeitet und der Konferenz der Kirchenleitungen übergeben wurde. Aus diesem ersten Entwurf wurden über mehrere Zwischenstationen dann die im März 1963 verabschiedeten „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“. Die genannten Texte sind ediert in: Stegmann und Theißen (Anm. 16).

  18. Die auf der Bekenntnissynode vom 29. bis 31. Mai 1934 in Wuppertal-Barmen verabschiedete „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ war das theologische Fundament der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Karl Barth wirkte wesentlich daran mit.

  19. Heino Falcke, Christus befreit – darum Kirche für andere, in: Christoph Demke u. a. (Hg.), Zwischen Anpassung und Verweigerung. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Leipzig 1995, S. 14–33.

  20. Arnd Brummer, Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche Revolution begann in den Kirchen, Frankfurt a. M. 2009, S. 12.

  21. Vgl. etwa Heino Falckes Vortrag anlässlich der Ehrenpromotion in Siegen im Jahr 2012, der unter dem Titel „Drei Freiheitstexte Martin Luthers – heute wiedergelesen“ zu Recht diese Rezeptionsgeschichte thematisiert, in: Ders., Einmischungen. Aufsätze, Reden und Vorträge aus 40 Jahren, Leipzig 2014, S. 309–322.

  22. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, Weimar 1897, S. 21.

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Dr.; Privatdozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Reformationsgeschichte sowie die Geschichte des west- und ostdeutschen Protestantismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.