Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zeit der Volksdemokratie | Polen | bpb.de

Polen Wirtschaft Wirtschaftswandel Historische Wirtschaftsentwicklungen Zahlen und Grafiken Parlamentswahl 2023 Wahlkampf in Polen Parteien und Wahlbündnisse Parteien-Analyse im Vorfeld der Parlamentswahl Justizreformen Demografie Medienlandschaft Beziehungen zwischen Deutschland und Polen Polens Rolle in der EU Migration Außen- und Sicherheitspolitik Katholische Kirche Geschichte Von den Anfängen bis 1918 1918-1945 Polnische Geschichte ab 1945 Vorreiter des Umbruchs im Ostblock Vergangenheitsbewältigung Vor 80 Jahren: Der Warschauer Aufstand Karten aktuell historisch Redaktion

Zeit der Volksdemokratie Polnische Geschichte ab 1945

Dieter Bingen

/ 7 Minuten zu lesen

1948 übernahmen die Kommunisten mit der PZPR die nahezu uneingeschränkte Macht im Land. Dennoch hatten sie es schwer ihren Herrschaftswillen durchzusetzen. Einer der Gründe war die steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die innenpolitische Entwicklung des Landes.

Unruhen in Poznan werden vom polnischen Militär am 28.08.1956 niedergeschlagen. (© AP)

Der Zweite Weltkrieg hatte Polen circa sechs Millionen Todesopfer – darunter fast 90 Prozent des jüdischen Bevölkerungsanteils – gekostet. Die 1943 als "Polnische Arbeiterpartei" (PPR) neugegründete kommunistische Partei schaltete nach ihrer Machtübernahme 1944/45 Schritt für Schritt die demokratischen Kräfte aus, so die 1945 von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten in der Provisorischen Regierung, Stanislaw Mikolajczyk, gegründete Polnische Bauernpartei (PSL), gefährlichste Konkurrentin und Sammelbecken der oppositionellen Kräfte, sowie die Sozialistische Partei (PPS), die brutalen "Säuberungen" unterzogen wurde.

Zum entscheidenden Politiker in der "Provisorischen Regierung" wurde der PPR-Sekretär Wladyslaw Gomulka (1905–1982) als Erster Stellvertretender Ministerpräsident. Der Verpflichtung zur Abhaltung freier ungehinderter Wahlen unter Beteiligung aller demokratischen und "antifaschistischen" Parteien wollten sich Kommunisten und Linkssozialisten nicht beugen. Die PSL weigerte sich hingegen, in einem "Demokratischen Block" in einer Einheitsliste anzutreten, die ihr nur 25 Prozent der Mandate zugesprochen hätte. Bei den Parlamentswahlen am 16. Januar 1947 stand die Bauernpartei dem "Demokratischen Block" (PPR, PPS, SL/Volkspartei, SD/Demokratische Partei) als einzige Oppositionspartei gegenüber und erhielt nach dem massiv gefälschten Wahlergebnis nur 10,3 Prozent der Stimmen und mit 27 von 444 Sejmsitzen weit weniger als zehn Prozent der Mandate.

Der Sejm wählte den PPR-Politiker Boleslaw Bierut (1892–1956) zum Präsidenten und den PPS-Politiker Józef Cyrankiewicz (1911–1989) zum Ministerpräsidenten. Die "Kleine Verfassung" von 1947 regelte zwar in Anlehnung an die Verfassung von 1921 die Kompetenzen der Staatsorgane formal nach dem Prinzip der Gewaltenteilung, doch wurde durch die Vereinigung legislativer und kontrollierender Funktionen der Übergang zur "Volksdemokratie" eingeleitet.

Die politische Opposition wurde mit den Repressionsinstrumenten des Staatsapparates, unter anderem durch Verhaftungswellen und Schauprozesse, gewaltsam ausgeschaltet. Die PPR-Leute, die mit Bierut an der Spitze aus dem sowjetischen Exil nach Polen zurückgekehrt waren, setzten sich gegen die "Heimatkommunisten", die unter Gomulka im Untergrund gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatten, durch. Gomulka wurde 1948 als PPR-Generalsekretär abgesetzt, im November 1949 aus dem Zentralkomitee der Partei ausgeschlossen und 1951 praktisch in Haft genommen. Sein Gegenspieler Bierut übernahm die Leitung. Im Dezember 1948 wurden die beiden Arbeiterparteien (PPR und PPS) zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) zusammengeschlossen. Mit ihrer Gründung übernahmen die Kommunisten die nahezu uneingeschränkte Macht im Lande.

Hindernisse sozialistischer Alleinherrschaft

[...] Für die besonders inkonsequente Ausprägung des Kommunismus in Polen seit 1945 waren die ausgeprägte Freiheitsliebe und ein durch das Bewusstsein tausendjähriger Geschichte gestärktes Nationalbewusstsein, die Aufstandstradition in der polnischen Nation sowie die weitgehend empfundene Einheit von katholischer Kirche und Nation ausschlaggebend. Sie machten es sowohl der Sowjetunion als auch der kommunistischen Führung im Lande sehr schwer, ihren Herrschaftswillen unbedingt durchzusetzen.

Die PZPR trieb die Umgestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft rasch voran. Die am 22. Juli 1952 verabschiedete neue Verfassung trug dem Machtanspruch der Partei Rechnung. Der Sejm wurde nicht nur gesetzgebende Körperschaft, sondern auch Träger der obersten Staatsgewalt. Das Amt des Staatspräsidenten wurde durch einen Staatsrat mit einem Vorsitzenden ersetzt. Die Bestimmungen zu Justiz, Verwaltung und Kommunalordnung spiegelten das stalinistische Staatsverständnis wider. Die Parlamentswahlen vom 26. Oktober 1952 wurden aufgrund eines Wahlgesetzes durchgeführt, das lediglich eine Abstimmung über die Wahlliste der "Nationalen Front" mit der PZPR und den gleichgeschalteten Blockparteien ZSL (Vereinigte Bauernpartei, die im November 1949 aus dem Zusammenschluss von PSL und SL hervorging) und SD (Demokratische Partei) sowie den Massenverbänden vorsah. Im Ergebnis konnte die Wahlliste der Nationalen Front 99,8 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. [...]

Entstalinisierung

Stalins Tod am 4. März 1953 veranlasste Bierut nur zu halbherzigen Lockerungsschritten. Den entscheidenden Anstoß zur Entstalinisierung in Polen gab der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956. Die Geheimrede von Parteichef Nikita Chruschtschow (1894–1971) mit den Enthüllungen über den stalinistischen Terror erschütterte auch die Machtstellung Bieruts und seiner Parteigänger in Polen. Am 12. März starb Bierut überraschend während seines Moskau-Aufenthalts. Eine neue Übergangsführung sah sich angesichts der gärenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die politische und wirtschaftliche Entwicklung – die sich auch in einem gewaltsam niedergeschlagenen Streik und Massendemonstrationen in Posen im Juni 1956 Luft machte – genötigt, der allgemeinen Forderung nach mehr Freiheit und Rechtssicherheit, aber auch nach besserer materieller Versorgung zögernd nachzugeben. Außerdem entschloss sie sich, den im August rehabilitierten "Rechtsabweichler" Wladyslaw Gomulka (1905–1982) ins Politbüro der PZPR zurückzurufen und am 20. Oktober 1956 erneut zum Parteichef zu wählen.

Gomulka kündigte die Abkehr von der starren Planwirtschaft und der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, eine Erweiterung der Arbeiterselbstverwaltung und materielle Anreize für die Werktätigen an. Die neue Führung versprach ebenfalls ein demokratischeres Wahlsystem. Nach den Sejmwahlen von 1957 hatte die PZPR tatsächlich nur noch etwas mehr als 50 Prozent der Abgeordnetensitze inne, der Rest ging an die Blockparteien und an Vertreter von drei katholischen Gruppen. Aber Einfluss auf die Regierungstätigkeit der Partei hatte das Parlament nicht. [...]

Währenddessen stieg die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die wieder schwieriger werdenden Lebensverhältnisse, die sich verstärkt in der Lebensmittelversorgung sowie in Arbeitsproduktivitäts- und Kaufkraftverlusten manifestierten.

Als sich im Juni 1967 während des israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieges die Warschauer-Pakt-Staaten scharf gegen Israel wandten, wollte der Innenminister Mieczyslaw Moczar (1913–1986) anscheinend diese Gelegenheit nutzen, die allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf die Juden abzulenken. Eine antisemitische, als antizionistisch deklarierte Kampagne der Partei richtete sich gegen die in Polen lebenden rund 30.000 Juden, zu denen auch alle gezählt wurden, die jüdische Vorfahren hatten, ganz besonders, wenn sie Intellektuelle oder wenn sie Partei- und Armeemitglieder waren. Über 20.000 Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, darunter Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, sahen sich gezwungen, Polen zu verlassen.

Der "Prager Frühling" 1968 zeigte rasch Rückwirkungen auf Polen, wo eine Studentendemonstration im März 1968 in Warschau von den Sicherheitsorganen niedergeschlagen wurde. Unter den mehr als 700 prominenten Opfern der anschließenden Säuberungen in Politik, Armee, Hochschulwesen und Kultur befanden sich auch der Staatsratsvorsitzende Edward Ochab (1906–1989) und Außenminister Adam Rapacki (1909–1970), die die antijüdische Hetze innerhalb der Parteiführung kritisiert hatten.

Von Gomulka zu Gierek

Der politische Immobilismus und die wirtschaftliche Stagnation in den letzten Jahren der Parteiherrschaft Gomulkas konnten auch nicht durch außenpolitische Erfolge aufgewogen werden. Zwar wurde durch die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen (7. Dezember 1970) die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze faktisch anerkannt und so ein in der polnischen Bevölkerung noch vorhandenes Gefühl der Bedrohung durch den westdeutschen "Revanchismus" abgebaut.

Kaum eine Woche danach kam es jedoch zu spontanen Protesten gegen Preiserhöhungen zwischen 13 und 36,8 Prozent für die bisher hoch subventionierten Lebensmittel, die in mehreren polnischen Industriestädten, beispielsweise in Danzig, zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und den gegen sie eingesetzten Armee- und Milizeinheiten eskalierten. Die "Dezember-Ereignisse" forderten mindestens 45 Menschenleben und 1165 Verletzte. Am 20. Dezember 1970 wurden Gomulka und seine engsten Gefolgsleute aus dem Politbüro abgewählt und ihrer Regierungsämter enthoben.

Zum neuen Parteivorsitzenden wurde der mit einem hohen Vertrauensvorschuss der Bevölkerung ausgestattete Kattowitzer Parteisekretär Edward Gierek (1913–2001) gewählt, ein pragmatischer Technokrat, der rasch seine oberschlesische Gefolgschaft im Politbüro, im ZK-Sekretariat und in der Regierung einsetzte. Eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zugeständnisse der Partei entspannte die explosive Lage.

Gierek konnte mit offenkundiger Unterstützung des sowjetischen KP-Generalsekretärs Leonid Breschnew (1906–1982) eine neue Generation der 30- bis 40-Jährigen in Schlüsselpositionen des Partei- und Wirtschaftsapparates hieven. [...]

Die weltweite Energiekrise nach Oktober 1973 und die sich danach in den westlichen Industriestaaten ausbreitende Konjunkturabschwächung zeigten direkte Rückwirkungen auch auf Polen, das im "Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe", der östlichen Wirtschaftsgemeinschaft (COMECON), den Platz als drittstärkste Volkswirtschaft nach der Sowjetunion und der DDR einnahm. Wegen des nachlassenden Importbedarfs der kapitalistischen Länder waren die Anfang der siebziger Jahre stark angestiegenen, devisenbringenden Westausfuhren kaum noch zu steigern, während bei stetig wachsendem Einfuhrbedarf an hochtechnisierten Produktionsmitteln immer größere, nur durch Kredite abzudeckende Außenhandelsdefizite in Kauf genommen wurden. Die Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln bereitete zunehmend Schwierigkeiten.

Arbeiterunruhen

Am 24. Juni 1976 wurden drastische Preiserhöhungen (Zucker 100 Prozent, Fleisch 60 Prozent) bekanntgegeben, die Hamsterkäufe und – für die Parteiführung völlig unerwartet – Unruhen mit Zentren in Radom und Ursus bei Warschau zur Folge hatten. Hunderte von Arbeitern wurden verhaftet, Tausende entlassen, 78 Personen in Sondergerichtsverfahren wegen "Rowdytums" zu Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt. Aber die Preiserhöhungen mussten zurückgenommen werden.

Die Brutalität der Polizei gegenüber den Arbeitern und die hohen Haftstrafen führten Ende September 1976 zur Gründung eines "Komitees zur Verteidigung der Arbeiter" (KOR), dessen Mitglieder (unter anderem der Politiker und Publizist Jan Józef Lipski, der Schriftsteller Jerzy Andrzejewski, der Politiker Jacek Kurón und der Historiker Adam Michnik) gegen die Verletzung der Verfassungsnormen protestierten. Das KOR benannte sich 1977 in "Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung" (KSS-KOR) um und verstand sich nunmehr als eine Bürgerrechtsbewegung, die es sich zum Ziel setzte, eine demokratische Gegenöffentlichkeit auszubauen. [...]

Die katholische Kirche entwickelte sich immer mehr zu einem Kristallisationspunkt alternativen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Denkens. Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyla (1920–2005) zum Papst Johannes Paul II. im Oktober 1978 und dessen triumphale Polenreise im Juni 1979 beschleunigten noch die Machterosion der PZPR.

Gleichzeitig verschärften sich die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen. Als die Fleischpreise zum 1. Juli 1980 kräftig angehoben wurden, kam es nach einer durch Lohnerhöhungen kurzfristig besänftigten Streikwelle Mitte August zu einer zweiten, landesweiten Streikbewegung. Sie war eine Reaktion auf die Entlassung der Kranführerin Anna Walentynowicz auf der Danziger Lenin-Werft, die dem seit 1978 bestehenden, von KSS-KOR-Mitgliedern beratenen "Gründungskomitee unabhängiger Gewerkschaften" angehörte. Nach den 17000 Arbeitern der Danziger Lenin-Werft legten auch die Beschäftigten in den anderen Küstenstädten, im oberschlesischen Industrierevier und in den großen Kombinaten des Landes die Arbeit nieder.

Ein überbetriebliches Streikkomitee unter Führung des Elektrikers und Mitglieds der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Lech Walesa (geb. 1943) wurde beauftragt, die Forderungen der Arbeiterschaft der Regierung gegenüber zu vertreten. Die am 31. August 1980 zwischen dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczyslaw Jagielski und Lech Walesa geschlossene Vereinbarung dokumentierte ein weitgehendes Einlenken der Staatsmacht. Erstmals wurden in einem kommunistischen Land unabhängige Gewerkschaften mit Streikrecht und Zugangsberechtigung zu den Massenmedien anerkannt.

Auszug aus: Information zur politischen Bildung Heft 273

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Direktor des Deutschen Polen Instituts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Polnische Zeitgeschichte und Politik, Politisches System Polens, Politische Systeme und Systemtransformation in Ostmittel- und Südosteuropa, Deutsch-polnische Beziehungen sowie Integrationspolitik in Europa.