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Wahlkampf in Polen Parlamentswahl 2023

Wojciech Rafałowski

/ 11 Minuten zu lesen

Am 15. Oktober haben die Polinnen und Polen ein neues Parlament gewählt. Welche Themen bestimmten die Wahlkampagnen der Parteien und was sind die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe?

Eine zivilgesellschaftliche Organisation hat im Vorfeld der Parlaments- und Senatswahl 2023 mit der Plakat-Kampagne zur Wahlbeteiligung aufgerufen. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Beata Zawrzel)

Die Parlamentswahl in Polen wurden von Staatspräsident Andrzej Duda für den 15. Oktober 2023 festgelegt. Die gesetzliche Bekanntmachung zur Festlegung des Wahltermins wurde am 8. August veröffentlicht, was den offiziellen Beginn der Wahlkampagne darstellt. Die Wahlkampfanstrengungen polnischer Politiker:innen und die parteiübergreifenden Gespräche über Wahlbündnisse hatten jedoch schon viele Monate vorher begonnen. In Polen finden während der gesamten Legislaturperiode wahlkampfähnliche Aktivitäten statt, bei denen bestimmte politische Themen hervorgehoben oder vermieden werden. Daher ist es nicht einfach, den eigentlichen Vorwahlkampf von der alltäglichen Politik zu unterscheiden. Doch die erwähnten Aktivitäten ermöglichen es, einige der Wahlkampfthemen schon lange vor der Wahl zu identifizieren.

Wahlsystem und rechtlicher Rahmen

Externer Link: Gemäß der polnischen Verfassung, besteht die Legislative aus zwei Kammern: dem Sejm (Unterhaus) und dem Senat (Oberhaus). Der Sejm setzt sich aus 460 Abgeordneten zusammen und spielt bei der Kabinettsbildung eine zentrale Rolle. Der Senat besteht aus 100 Senator:innen und hat begrenzte Veto- und Änderungsrechten. Sejm und Senat werden alle vier Jahre gleichzeitig gewählt, es sei denn, der Sejm wird aufgelöst und es werden vorzeitige Wahlen ausgerufen.

In den Artikeln 96 und 97 der Verfassung heißt es „Die Wahl zum Sejm ist eine allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Verhältniswahl“ und „Die Wahl zum Senat ist allgemein, unmittelbar und geheim“. Die genauen Wahlbestimmungen sind seit 2011 im Wahlgesetzbuch enthalten.

Alle 460 Mitglieder des Sejm werden in 41 Mehrpersonenwahlkreisen (MPW) mit 7 bis 20 Sitzen pro Kreis über halboffene Parteilisten gewählt. Parteien, Parteikoalitionen und Wähler:innen müssen einen Wahlausschuss bilden, um Kandidat:innen vorschlagen zu können. Mindestens 35 Prozent der vorgeschlagenen Kandidat:innen müssen in einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis stehen. Die Reihenfolge der Kandidat:innen auf dem Stimmzettel der Partei wird vom Wahlausschuss selbst bestimmt, wobei die Reihenfolge der Ausschüsse nach dem Zufallsverfahren festgelegt wird. Jedes Komitee muss eine 5-Prozent-Hürde auf nationaler Ebene überschreiten, um an der Sitzverteilung teilnehmen zu können, mit Ausnahme von Wahlbündnissen, die eine 8-Prozent-Hürde überschreiten müssen. Den Ausschüssen werden die Sitze in jedem Wahlkreis proportional zur Anzahl der in diesem Wahlkreis erhaltenen Stimmen nach dem D'Hondt-Verfahren zugeteilt. Die Kandidat:innen mit den meisten Stimmen innerhalb ihrer jeweiligen Liste erhalten die zugeteilten Sitze. 100 Senator:innen werden in Einpersonenwahlkreisen (EWB) mit einfacher Mehrheit gewählt. In jedem Wahlkreis gewinnt der oder die Kandidat:in mit den meisten Stimmen. Es gibt keine Stichwahl.

Das Wahlverfahren wird von der Nationalen Wahlkommission (polnisch: Państwowa Komisja Wyborcza, PKW) beaufsichtigt. Die Gültigkeit der Wahl wird vom Obersten Gericht der Republik Polen festgestellt, nachdem es geprüft hat, ob einer der erhobenen Wahleinsprüche ein Problem darstellt, das das Wahlergebnis erheblich verändern würde.

In einer kürzlich erfolgten Novellierung des Wahlgesetzes wurde festgelegt, dass die in Wahllokalen im Ausland abgegebenen Stimmzettel innerhalb von 24 Stunden nach Schließung des Wahllokals ausgezählt werden müssen (Artikel 230 §2 des Wahlgesetzes). Andernfalls gilt die Stimmabgabe in diesem Wahllokal als ungültig. Diese Regelung ist wegen ihrer einschränkenden Folgen für die Bürgerrechte polnischer Bürger:innen im Ausland problematisch (siehe dazu die Stellungnahme des polnischen Ombudsmannes).

Am 22. Oktober 2022 legte die Nationale Wahlkommission einen Gesetzentwurf zur Anpassung der Wahlkreisgröße an die Veränderungen in der räumlichen Verteilung der polnischen Bevölkerung vor. Infolgedessen würden zahlreiche überwiegend ländliche Gebiete Sitze verlieren, während Bezirke, die große Städte wie Warschau, Krakau, Posen und Danzig umfassen, Sitze gewinnen würden. Die von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz: PiS) geführte Parlamentsmehrheit ignorierte diese Initiativen vermutlich deshalb, weil ihre Wählerschaft überwiegend in ländlichen Gebieten und Kleinstädten lebt. Die Verlegung von Sitzen in städtische Bezirke könnte der Regierungspartei bei der kommenden Wahl möglicherweise Sitze kosten. Infolgedessen werden die kommenden Wahlen mit einer Fehlverteilung belastet sein, das wiederum die Gleichheit der Wähler:innen in Städten und ländlichen Gebieten gefährdet.

Die erwähnten Probleme haben die Fraktionsvorsitzenden des Europäischen Parlaments dazu veranlasst, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Externer Link: um eine umfassende Beaufsichtigung der Parlamentswahlen 2023 in Polen zu bitten. Die OSZE hat in der Tat ihre Externer Link: Delegation zur Beobachtung der Wahl entsandt.

Fußnoten

Hintergründe der Wahl

Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sind zahlreiche Ukrainer:innen ins benachbarte Polen geflohen. (© picture-alliance, NurPhoto | Dominika Zarzycka)

Nachdem die Beschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie aufgehoben wurden, sah sich Polen mit einer anderen Herausforderung konfrontiert: einem noch nie dagewesenen Zustrom von Geflüchteten aus der Ukraine als Konsequenz der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes haben seit dem 18. August 2023 über 14,6 Millionen Menschen die ukrainisch-polnische Grenze überquert. Viele von ihnen sind inzwischen in die Ukraine zurückgekehrt oder in andere Länder weitergezogen, so dass sich die Zahl der in Polen lebenden Ukrainer:innen im Juli 2023 nach Schätzungen des Innenministeriums auf etwa 1,4 Millionen belief. Die meisten von ihnen haben in Polen eine Identifikationsnummer (PESEL) erhalten, mit der sie Zugang zur Sozialversicherung und zur Gesundheitsversorgung im Land haben. Der Zustrom von Geflüchteten führte zu einer weiteren Belastung des unterfinanzierten Bildungs- und Gesundheitssystems und veränderte die Struktur des polnischen Arbeitsmarktes, da es sich bei den ukrainischen Geflüchteten überwiegend um Frauen und Kinder handelte. Nach Angaben des Statistischen Zentralamtes liegt die Arbeitslosenquote in Polen derzeit bei etwa fünf Prozent. Daher ist die Arbeitslosigkeit kein zentrales politisches Thema.

Zu Beginn der russischen Invasion war die Einstellung der polnischen Bevölkerung gegenüber ukrainischen Kriegsflüchtlingen überwiegend positiv und unterstützend. In den letzten Monaten hat sich die öffentliche Meinung jedoch in Richtung größerer Vorbehalte gegenüber den Geflüchteten verschoben. So gaben in einer Studie des IRCenter die Hälfte der Befragten an, dass sich die Regierung mehr um die Ukrainer:innen kümmere als um ihre eigenen Bürger:innen. In einer anderen Umfrage gaben 39,4 Prozent der Befragten an, dass sich ihre Haltung gegenüber den Ukrainer:innen in letzter Zeit geändert habe. Dieses veränderte Klima hängt auch mit Streitigkeiten um den ukrainischen Weizen zusammen, der in Polen bleibt, anstatt über Polen in andere Länder exportiert zu werden. Dieses Thema schwächt unter anderem die Verbindung zwischen der Regierungspartei und der ländlichen Wählerschaft. Im September 2023 verhängte die PiS daher ein Verbot für Weizen aus der Ukraine. Dies kann als Versuch gewertet werden, die Unterstützung der Landbevölkerung wiederherzustellen.

Die ersten Monate des Jahres 2023 waren in Polen durch die höchste Inflationsrate seit Mitte der 1990er Jahre gekennzeichnet. Damals erholte sich das Land von der jahrzehntelangen Planwirtschaft. Die offizielle Inflationsrate lag im Februar 2023 bei 18 Prozent und sank seither auf 10,8 Prozent im Juli 2023. Der Anstieg der Inflation wurde in der Öffentlichkeit auf die steigenden Energiepreise im Zusammenhang mit der russischen Invasion auf die Ukraine in Verbindung gebracht und auch auf die langfristigen Pandemie-Folgen sowie auf die von der Regierung in den letzten Jahren durchgeführten Programme zur Einkommensumverteilung (insbesondere die Einführung des Kindergeldes – „das Programm 500+“ und die so genannten 13. und 14. Rentenzahlungen).

Trotz Sozialhilfeprogrammen für Familien mit Kindern, sank die Geburtenrate in Polen auf den historisch niedrigsten Stand (2022: 1,261 Kindern; 1990: 1,991 Kinder). In diesem Zeitraum stieg das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes von 22,7 auf 28,8 Jahre. Laut Expert:innen gibt es langfristige Faktoren die zu den niedrigen Geburtenraten beitragen, wie kulturelle Veränderungen, die schwierige Wohnsituation junger Menschen in Polen und die Qualität und Zugänglichkeit von öffentlichen Dienstleistungsangeboten wie Gesundheitswesen, Bildung oder Kinderbetreuung. Auch die kürzlich eingeführten verschärften Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch tragen vermutlich zu den niedrigen Geburtenraten bei.

Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch

Im Jahr 1993 wurde das Recht auf Abtreibung auf drei Bedingungen beschränkt: (1) Vergewaltigung, (2) Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Frau und (3) hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Fehlbildungen des Fötus. Im Jahr 2021 erklärte das Verfassungsgericht den dritten dieser Umstände für verfassungswidrig.

Infolgedessen zögert das medizinische Personal in Polen nun einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist – denn es drohen harte Strafen für die Mithilfe bei der Durchführung illegaler Schwangerschaftsabbrüche. Die neue Verordnung berücksichtigt nicht, dass es manchmal schwierig ist, zu beurteilen, ob die Gesundheitsgefährdung vom Fötus oder von dem Körper der Frau ausgeht. Demzufolge befürchten viele Frauen, dass ihr Leben im Falle von Komplikationen nicht durch medizinisches Personal geschützt wird. Dies ist eine berechtigte Sorge: Mehrere Frauen sind bereits im Zuge der verschärften Abtreibungsrechte verstorben. Kürzlich wurde eine Liste mit ihren Namen veröffentlicht, die Fälle sind also öffentlich bekannt.

Themenschwerpunkte der Wahlkampagnen

Auch wenn der soziale und politische Kontext der Wahlen eine gemeinsame Themenpalette für alle konkurrierenden Parteien nahelegen könnte, konzentrieren sich die Wahlkampagnen der jeweiligen Parteien auf die Themen, die ihnen von Vorteil sein könnten. Die zunehmende politische Polarisierung trägt ebenfalls zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten bei. Die folgenden Parteien wurden für diesen Artikel ausgewählt, da sie in den Umfragen (Stand: August 2023) durchweg die jeweiligen Wahlhürden überschritten haben.

„Recht und Gerechtigkeit“ (PiS)

Die Partei Interner Link: „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, kurz: PiS) regiert in Polen seit 2015 als dominierender Teil der Koalition der „Vereinigten Rechten“ (Zjednoczona Prawica). Nach ihrem Amtsantritt stiegen die Sozialausgaben in Polen an und die polnische Regierung begann, sich von der Europäischen Union und ihrer Politik zu distanzieren. Eine der umstrittensten Reformen, die Polen auf Kollisionskurs mit der EU brachten, Interner Link: waren vielfältige Änderungen des Justizsystems. In diesem Zusammenhang beschuldigt die PiS die EU und insbesondere Deutschland, sich in innere Angelegenheiten einzumischen und die Souveränität des Landes auf Kosten der Interessen der polnischen Bevölkerung zu gefährden. Die Partei beschuldigt auch den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, Donald Tusk, der von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates war, hauptverantwortlich für diese unerwünschte Einflussnahme zu sein.

Seit 2015 hat die PiS bei zahlreichen Gelegenheiten bewiesen, wie sie Wahlprogramme zu ihren Gunsten instrumentalisiert. 2015 nutzte sie die Fluchtbewegung aus insbesondere Syrien nach Europa, um Stimmen zu gewinnen, indem sie die einwanderungs- und islamfeindliche Stimmung in der polnischen Gesellschaft anheizte. In den Jahren 2019 und 2020 stützten sich ihre Wahlkampagnen auf die Ausnutzung negativer Vorurteile gegenüber der LGBTQIA+-Community.

Im Jahr 2023 schienen PiS-Politiker:innen zu versuchen, die Wahlagenda mit verschiedenen Themen zu bestimmen. Sie versuchten ihren Ruf als sozialdemokratische Kraft aufrechtzuerhalten, indem sie sich verpflichteten, nach den Wahlen die Familienbeihilfe von 500 PLN auf 800 PLN pro Monat und Kind zu erhöhen. Sie versuchten auch, ihre Stammwählerschaft zu mobilisieren, indem sie Rafał Trzaskowski (PO), den Stadtpräsidenten (Bürgermeister) von Warschau, beschuldigten, die Menschen zwingen zu wollen auf Fleisch und Milchprodukte zu verzichten und auf Würmer als Hauptproteinquelle umzusteigen. Trotz des großen öffentlichen Aufschreis scheiterte dieser Versuch an der Tatsache, dass Trzaskowski eine solche Strategie nie vorgeschlagen hat. Ein solcher Vorschlag war lediglich (als radikalste und unwahrscheinlichste Lösung) in einem Bericht der Externer Link: C40 Cities Group unterbreitet, zu der Warschau. Es ist erwähnenswert, dass das Thema Klimawandel zwar in den Wahlprogrammen der polnischen Parteien vorkommt, aber bei öffentlichen Veranstaltungen kaum Beachtung findet und auch während des Wahlkampfs keine nennenswerte Rolle spielt. Nur die jüngste Wählergruppe (zwischen 18 und 21 Jahren) scheint sich für das Thema Klimawandel in Polen zu interessieren.

Das wichtigste programmatische Vorhaben der PiS wurde im Juli 2023 bekannt gegeben und beinhaltete die Durchführung eines Referendums im Zuge der Wahlen. Zunächst wurde ein Referendum zum Thema Einwanderung angekündigt. Doch Mitte August wurde die Themenliste auf vier Fragen ausgeweitet: (1) Verkauf staatlicher Unternehmen, (2) Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, (3) Abriss der Sperranlagen an der polnisch-belarussischen Grenze und (4) obligatorische Umverteilung von Migrant:innen innerhalb der EU. Die PiS forderte die Wähler:innen dazu auf, sich gegen all diese Vorschläge auszusprechen. So würde die Opposition sich dazu gezwungen sehen, in diesen Fragen unbeliebte Positionen zu vertreten. Die PiS befürwortete auch die Einführung eines Rentensystems, das auf den Arbeitsjahren statt auf dem Alter basiert. Am 18. August wurde der Wahlslogan der Partei bekannt gegeben: „Die sichere Zukunft der Polen“.

„Bürgerkoalition“ (KO)

Das Interner Link: Wahlbündnis „Bürgerkoalition“ (Koalicja Obywatelska, kurz: KO) wird von folgenden Hauptparteien gebildet: „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska, kurz: PO), „Moderne“ (Nowoczesna, kurz: .N), „Polnische Initiative“ (Inicjatywa Polska, kurz: IP) und die „Grünen“ (Zieloni).

Die politische Rhetorik der KO-Politiker:innen konzentrierte sich bis Mitte September auf Kritik an der Vereinten Rechten. Dabei ging es vor allem um mangelnde Kompetenz und Integrität im Umgang mit Staatsangelegenheiten während ihrer achtjährigen Amtszeit sowie um fehlende Glaubwürdigkeit der im laufenden Wahlkampf formulierten Vorschläge. Die KO verweist auf die gescheiterte Geburtenförderung, den fehlenden Zugang zu EU-Mitteln aus dem Nationalen Wiederaufbauplan im Zusammenhang mit der nicht Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit, die Verantwortung für Änderungen im Abtreibungsrecht sowie angebliche Korruption und Vetternwirtschaft unter Beteiligung prominenter Persönlichkeiten der Römisch-Katholischen Kirche.

Bis Anfang September versprach die Bürgerkoalition vor allem jene Probleme rasch zu lösen. Auf einem Kongress in Tarnów am 9. September wurde die Wahlkampagne ausgeweitet. Es wurde eine Liste mit 100 Postulaten vorgelegt, die praktisch alle Bereiche der öffentlichen Politik umfasste, darunter das Gesundheitswesen, Bildung, Steuern, Umwelt, Sicherheit und Landwirtschaft.

Aufgrund ihrer mangelnden Glaubwürdigkeit bei der Zusage direkter Sozialtransfers, vermied die Bürgerkoalition das Thema gänzlich. Dies lässt sich mit einer bekannten Äußerung von Präsident Bronisław Komorowski (PO) aus dem Jahr 2015 in Verbindung bringen. Komorowski wurde von einem jungen Mann gefragt, wie seine Schwester mit einem Einkommen von 2.000 Zloty im Monat eine Wohnung kaufen sollte. Der damalige Präsident antwortete, sie solle sich „einen neuen Job suchen und einen Kredit aufnehmen“. Die Video-Aufnahme dieser Begegnung verbreitete sich im Internet und wurde zu einem Symbol dafür, wie weit entfernt die führenden PO-Politiker:innen von den Problemen wirtschaftlich benachteiligter Menschen waren. Mit dem Versprechen einer Steuerreform einschließlich der Anhebung des Freibetrags versuchte die KO, mit der „Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ (s.u.) um die marktorientierte Wählerschaft zu konkurrieren. Das Programm der Partei richtet sich an die Mittelschicht, die nicht der Hauptempfänger der PiS-Sozialpolitik ist.

Das von der PiS-Partei vorgeschlagene Referendum sollte die Bürgerkoalition in eine strategisch schwierige Lage bringen, da diese damit gezwungen werden sollte, unpopuläre Positionen zu den darin gestellten Fragen einzunehmen, um der Regierung zu widersprechen. Die KO wird etwa damit in Verbindung gebracht, Privatisierungen zu unterstützen, in der Vergangenheit das Renteneintrittsalter angehoben zu haben und in Bezug auf die EU-Migrationspolitik aufgeschlossen zu sein. Stattdessen hat die KO es bisher erfolgreich vermieden, zu irgendeinem der Themen Stellung zu beziehen, indem sie das Referendum insgesamt als manipulativ diskreditiert und sich auf Themen von sekundärer Bedeutung konzentriert hat.

„Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ (KON)

Unter den politisch relevanten Parteien in Polen ist die „Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ (Konfederacja Wolność i Niepodległość, KON) die einzige, die offen EU-skeptisch ist. Ihre konsequent rechte Ausrichtung zeigt sich sowohl in der Kritik an der PiS, als auch an der PO in Bezug auf die Höhe der öffentlichen Ausgaben für Sozialprogramme wie das Kindergeld (das so genannte Programm 500+) und die Steuerpolitik. Sie fordern eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben für die Verwaltung und eine Senkung der Steuern. Anstelle des bestehenden öffentlichen Gesundheitssystems schlagen sie vor, jedem:r Bürger:in einen jährlichen Gutschein in Höhe von 4340 Zloty für gesundheitsbezogene Leistungen auszustellen und ein System privater Krankenversicherungen einzuführen, die auf dem freien Markt miteinander konkurrieren würden.

Die KON ist die einzige relevante Partei, die sich offen auf die anti-ukrainische Stimmung in der polnischen Gesellschaft stützt. Obwohl ihre Vertreter:innen in letzter Zeit darauf verzichtet haben Argumente der russischen Propaganda zu wiederholen, schlagen sie immer noch vor, alle Programme zur Unterstützung von Geflüchteten zu streichen. Sie sind auch gegen Umweltschutzmaßnahmen wie das geplante Verbot von nicht-elektrischen Autos in der EU nach 2035 sowie gegen die Idee, die physische Währung abzuschaffen.

Ihr einziger Vorschlag, der höhere Ausgaben für den Haushalt bedeuten würde, ist die Senkung der Immobilienpreise. Für den Wahlkampf hat die KON ihre nationalistische und xenophobische Rhetorik zurückgeschraubt. Ihr Konservatismus in Bezug auf die Moral bleibt ebenfalls versteckt, abgesehen von einzelnen transphoben Anspielungen in den sozialen Medien. Dennoch ist dieser Konservatismus nach wie vor ein wichtiger Teil ihrer Identität. Dieser schafft eine gemeinsame Basis mit der PiS-Partei.

Beide Parteien haben während des Wahlkampfs die Bildung einer Regierungskoalition abgelehnt, aufgrund der Unterschiede in ihren Wirtschaftsprogrammen. „Die Linke “hat bisher die größten Anstrengungen unter den bestehenden Parteien unternommen, um die Wähler:innen an das nationalistische und fremdenfeindliche Profil der KON zu erinnern. Dies und die Andeutungen, dass die KON mit der PiS eine Regierung bilden würde, führten Mitte September zu einem deutlichen Rückgang der öffentlichen Unterstützung für die Partei (unter zehn Prozent) im Vergleich zum Juli (15 Prozent).

„Der Dritte Weg“

„Der Dritte Weg“ (Trzecia Droga) ist ein Wahlbündnis zwischen „Polska 2050“ und der „Polnischen Bauernpartei“ (Polskie Stronnictwo Ludowe, kurz: PSL). Erstere ist eine relativ neue Partei, die sich um den Journalisten Szymon Hołownia gebildet hat, der bei den Präsidentschaftswahlen 2020 13,87 Prozent der Stimmen erzielen konnte. In den 2000er Jahren wurde er mit der römisch-katholischen Weltanschauung in Verbindung gebracht und war Programmdirektor eines religiösen Fernsehsenders. Zu dieser Zeit war er nicht als Politiker aktiv. Die PSL ist eine landwirtschaftliche Partei, die in den 1920er Jahren gegründet wurde und die in den letzten 30 Jahren an zahlreichen Regierungskoalitionen beteiligt war.

Beide Parteien haben ein gemeinsames Programm formuliert, das u. a. vorsieht, die Eingriffe der PiS in Rechtsstaat und Justiz rückgängig zu machen, das Abtreibungsverbot aufzuheben, die Löhne im öffentlichen Dienst zu erhöhen, umweltfreundliche Energieerzeugungswege zu fördern und die Besteuerung zu vereinfachen. Die Politiker:innen des Dritten Weges wenden sich auch an die traditionelle Wählerschaft der PSL, d. h. aus der Landwirtschaft, die ländliche Bevölkerung im Allgemeinen sowie an höher gebildete Bevölkerungsgruppen, indem sie die Notwendigkeit betonen, die rechte Indoktrination an öffentlichen Schulen zu beenden. Sie sind in Bezug auf soziale Werte konservativer als die Bürgerkoalition. Ihre Hauptwählerschaft liegt zwischen der liberaleren Bürgerkoalition und der rechten Linie der PiS.

„Die Linke“

Nach dem Verlust ihrer parlamentarischen Repräsentanz im Jahr 2015 sind die Parteien der politischen Linken in Polen sehr darauf bedacht, eine gemeinsame Liste von Kandidat:innen auf einer einzigen Parteiliste zu präsentieren, um von der Fünf-Prozent-Hürde zu profitieren. Diese Strategie hat sich 2019 bewährt, als „Die Linke“ (Lewica) wieder im Parlament vertreten war.

Die wichtigsten Kräfte des Bündnisses sind die „Linke Demokratische Allianz“ (Sojusz Lewicy Demokratycznej, kurz: SLD), die sich in den letzten Jahren die Partei „Frühling“ (Wiosna) einverleibte, und die Partei „Linke Gemeinsam“ (Razem). Die Hauptthemen der Linken betreffen Themen, die für sozialdemokratische Parteien in Westeuropa typisch sind, wie z.B. Arbeitsrechte, Beschäftigungsstabilität (Verbot zivilrechtlicher Verträge), das Gesundheitssystem (insbesondere im Hinblick auf die Kosten für Medikamente), Wohnungsbau und öffentliche Verkehrsmittel.

Die Linke positioniert sich in ultimativer Opposition zur KON, indem sie deren Idee der Gesundheitsgutscheine ablehnt sowie eine strikte Trennung von Kirche und Staat fordert, und zwar durch die Beendigung der Finanzierung des Religionsunterrichts an Schulen und Priesterrenten sowie die Abschaffung eines Artikels im Strafgesetzbuch über die Verletzung religiöser Gefühle und Abtreibungslegalisierung.

An den Wahlvorschlägen der polnischen Linken mag ein umfassendes Programm zu militärischen und sicherheitspolitischen Fragen ungewöhnlich wirken, dass sie im Zusammenhang mit der russischen Invasion in die Ukraine vorgelegt hat. Mit der letztgenannten Strategie soll die Vereinnahmung dieses Themas durch die rechten Parteien verhindert werden. Auf dem Parteitag am 9. September versprach die Linke eine 20-prozentige Lohnerhöhung für die stark unterbezahlten Lehrkräfte an öffentlichen Schulen und ein Krankengeld in Höhe von 100 Prozent des Gehalts. Die Linke unterstützt die Bürgerkoalition beim Boykott des Referendums.

Zusammenfassung

Die Parteien, die bei den Parlamentswahlen 2023 in Polen antreten, haben Programme vorgelegt, die sich an verschiedene, aber genau definierte Bereiche der Gesellschaft richten. Dies zeigt, dass sie gut auf den Wettbewerb in einem demokratischen Umfeld vorbereitet sind. Die Parteien Recht und Gerechtigkeit und Die Linke schlagen Lösungen für die Probleme der weniger wohlhabenden Bürger:innen vor, während die Bürgerkoalition, die Konföderation und Der Dritte Weg sich auf die Interessen der Mittelschicht und der Unternehmer:innen konzentrieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Karolina Golimowska

Weitere Inhalte

Dr. habil. Wojciech Rafałowski ist Politischer Soziologe an der Universität Warschau. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Wahl- und Parteisystemen, Wahlkampagnen und untersucht das Erbe der kommunistischen Vergangenheit in Osteuropa. In den Jahren 2019-2020 war er Gastwissenschaftler an der Washington University in St. Louis, gefördert durch den Fulbright Senior Award. E-Mail Link: rafalowskiw@is.uw.edu.pl