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Spitzenkandidaten bringen mehr Aufmerksamkeit für die Europawahl

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Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags im Dezember 2009 kann das Europäische Parlament die EU-Politik stärker mitprägen. Wie es diese Möglichkeiten in den vergangenen fünf Jahren genutzt hat und welche Aufgaben nach der Wahl auf die EU-Parlamentarier zukommen, erklärt der Politikwissenschaftler Wichard Woyke im Interview. Außerdem macht er deutlich, was die Aufstellung von Spitzenkandidaten für das Parlament bedeutet.

Europäisches Parlament in Straßburg (© picture alliance/chromorange)

Was hat sich seit der letzten Wahl des Europäischen Parlaments 2009 geändert?

Wichard Woyke: Die "Euro-Krise" hat die Politik in der EU während der letzten Wahlperiode eindeutig dominiert. Im Dezember 2009 wurde mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags eine neue Rechtsgrundlage für das Europäische Parlament geschaffen, das damit – im Rahmen des "ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens" – zum gleichberechtigten Gesetzgeber mit dem Ministerrat wurde. Das Europäische Parlament kann nun die meisten Politikbereiche der EU – mit dem Lissabonner Vertrag sind auch noch Landwirtschafts-, Einwanderungs- und Asylpolitik neu hinzugekommen – in großem Maße mitprägen.

Mit dem Vertrag von Lissabon vergrößerte sich der Einfluss des Parlaments. Was ist daraus in der parlamentarischen Praxis geworden?

In der laufenden Wahlperiode (2009-2014) hat das Europäische Parlament unter anderem eine neue Tabakrichtlinie maßgeblich vorangetrieben, die Zielsetzungen für die Förderung von Bio-Kraftstoffen grundlegend revidiert, die Gemeinsame Agrarpolitik reformiert und mit der Einigung zur Überwachung der größten europäischen Banken durch die Europäische Zentralbank den ersten Teil einer europäischen Bankenunion verabschiedet. Zudem hat das Europäische Parlament den bedeutsamen Mittelfristigen Finanzrahmen 2014-2020 mit verabschiedet.

Welche Rolle spielte das Parlament in der Euro-Krise?

Die Hauptakteure während der Krise waren die Mitgliedstaaten in Form des Europäischen Rats – bestehend aus den Staats- und Regierungschefs – sowie die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds (IWF), aber auch die EU-Kommission. Das Europäische Parlament hat an der Richtlinie zur Begrenzung der Banker-Boni mitgewirkt und die Einrichtung der Europäischen Bankenunion unterstützt.

Zur Person

Wichard Woyke. (© privat)

Wichard Woyke ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Autor der Infoaktuell "Wahlen zum Europäischen Parlament".



Was waren die umstrittensten Entscheidungen des Parlaments in der vergangenen Wahlperiode?

Das Europäische Parlament hat den umstrittenen Urheberrechtspakt, das sogenannte Acta-Abkommen, abgelehnt. Der internationale Vertrag, der geistiges Eigentum schützen und Produktpiraterie entgegenwirken sollte, konnte nicht ratifiziert werden. Auch die Tabakrichtlinie wie die CO2-Verordnung für Neuwagen waren umstritten.

Die europäischen Parteien können im Vorfeld dieser Wahl zum ersten Mal Kandidaten/ Kandidatinnen für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren. Was bedeutet das für das Parlament?

Das Europäische Parlament bekommt faktisch ein größeres Mitspracherecht, da sich der Europäische Rat nun bei dem Vorschlag des zukünftigen Kommissionspräsidenten an der Mehrheit im Europäischen Parlament orientieren muss. Das bedeutet, dass der Spitzenkandidat der nach der Wahl größten Parteiengruppierung – entweder der frühere luxemburgische Premierminister Juncker für die EVP oder der Präsident des Europäischen Parlaments für die Sozialdemokraten/Sozialisten, Martin Schulz, – zum Präsidenten der Kommission gewählt werden sollte.

Kann diese Neuerung den Wahlen mehr Aufmerksamkeit verschaffen und eventuell für eine höhere Wahlbeteiligung sorgen?

Diese Neuerung hat bereits mehr Aufmerksamkeit in den Medien und damit der Öffentlichkeit gefunden. Diese Mitbestimmungsmöglichkeit bei der Bestimmung der Spitze der Exekutive der EU sollte zu größerer Wahlbeteiligung führen. Eine Mehrheit der Europäer unterstützt die Idee einer Direktwahl des Präsidenten der Kommission aus Gründen der Entwicklung von Demokratie und Bürgerschaft.

Welche Konsequenzen hat die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Sperrklausel von drei Prozent verfassungswidrig ist?

Bundestag und Bundesrat müssen nun sehr schnell das Europawahlgesetz in Hinblick auf die Entfernung der Sperrklausel ändern. Praktisch bedeutet der Wegfall der Sperrklausel wohl, dass sich die 96 deutschen Abgeordneten auf mehr Parteien als bisher verteilen werden.

Welche Aufgaben kommen auf das Europäische Parlament in der kommenden Legislaturperiode zu?

Es gilt den Beitrittsprozess weiterhin zu überwachen, der sich im Augenblick auf Verhandlungen mit der Türkei und Serbien konzentriert. Auch das Freihandelsabkommen mit den USA dürfte eine wichtige Rolle spielen. Ein starkes, demokratisch legitimiertes Europäisches Parlament kann bei den innereuropäischen Entscheidungsprozessen und bei weiteren Reformvorhaben, insbesondere im Zusammenhang mit der noch nicht überwundenen Finanzkrise der EU-Staaten, am ehesten das Interesse der EU-Bürgerinnen und -Bürger zur Geltung bringen.

Fussnoten