Während des Kalten Krieges wurde Rüstungskontrolle zum festen Bestandteil der internationalen Beziehungen. Davon sind wir heute meilenweit entfernt, warnt Dr. Oliver Thränert, er leitet den Think-Tank am Center for Security Studies der Technischen Hochschule Zürich (ETH). Während die Rivalität zwischen den größten Kernwaffenstaaten zunehme, schwinde der Wille zur Begrenzung der Atomrüstung zwischen USA und Russland. Aber auch China und andere Staaten zeigten kein Interesse an Rüstungskontrollpolitik.
Die Ankündigung des amerikanischen Präsidenten Trump, den Vertrag über das Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen (INF) aus dem Jahr 1987 zu kündigen, hat viele Beobachter aus dem Dornröschenschlaf aufgeweckt. Atomwaffen? Nukleare Abschreckung? Sind das nicht Themen von gestern, die sich erledigt haben, da diese Waffen in Rüstungskontrollabkommen begrenzt wurden? Gibt es heute nicht ganz neue Bedrohungen aus dem Cyberraum, mit denen man sich beschäftigen sollte anstatt mit Kernwaffentechnologie der vierziger Jahre? Nein, lauten die Antworten.
Wegfall vertraglicher Grenzen
Während sich die Konkurrenz der Großmächte verschärft und allenthalben nuklear aufgerüstet wird, droht die Rüstungskontrolle, die im Kalten Krieg hoch im Kurs stand, nahezu gänzlich zum Erliegen zu kommen. Sollte der INF-Vertrag tatsächlich beerdigt werden – und seit Donald Trumps Ankündigung im Oktober 2018 spricht alles spricht dafür, dass es so kommt – verbleibt nur noch ein intaktes Abkommen: der New-Start-Vertrag zur Begrenzung strategischer Kernwaffen der USA und Russlands. Diese Vereinbarung läuft jedoch 2021 aus.
Sollten sich Trump und Putin nicht auf eine Verlängerung einigen können, wäre zum ersten Mal seit 1972, als der Salt-I-Vertrag zur Begrenzung amerikanischer und sowjetischer strategischer Nuklearwaffen unterschrieben wurde, kein Rüstungskontrollabkommen mehr in Kraft. China und andere Nuklearmächte haben sich an entsprechenden Bemühungen ohnehin nie beteiligt. Das Ende der Rüstungskontrolle käme zur Unzeit, da zugleich durch moderne Technologien und fortgeschrittene Datenverarbeitung die nukleare Abschreckung vermindert wird.
Im Kalten Krieg boten die USA ihrem Kontrahenten, der Sowjetunion, Verhandlungen über neue Atomraketen an, die sie noch gar nicht stationiert hatten. Dies geschah im Nato-Doppelbeschluss von 1979 über die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa und die Verhandlungen darüber. Heute sind Vorstöße dieser Art nahezu undenkbar. Weder Trump noch der Kreml denken daran, neue nukleare Systeme schon vor ihrer Bereitstellung zur Disposition zu stellen. Lieber modernisieren beide Seiten ihre nuklearen Arsenale ohne Behinderungen durch diplomatische Initiativen.
Mit der Rüstungskontrolle ist auch ihr Kerngedanke in Vergessenheit geraten: dass man im Nuklearzeitalter immer auch an die Sicherheit des Gegenübers denken muss. Denn es nützt wenig, wenn man selbst über überlegene Atomstreitkräfte verfügt. Dies kann den Kontrahenten in Krisensituationen unter Zugzwang setzen. Er könnte glauben, seine eigenen, unterlegenen Nuklearwaffen einsetzen zu müssen, bevor sie durch einen Angriff zerstört würden. Die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Kernwaffen stiege.
Dies zu verhindern, war während des Kalten Krieges zentrales Ziel zahlreicher Rüstungskontrollgespräche. Dabei konnten wichtige Ergebnisse erreicht werden. In mehreren Verträgen zwischen den USA und der Sowjetunion und später Russland wurden Obergrenzen für die strategischen Kernwaffen beider Seiten vereinbart.
Wichtig war zudem, dass besonders schwere Atomwaffen und die Anzahl von Mehrfachsprengköpfen reduziert wurden. Dies stärkte die Zweitschlagfähigkeit beider Seiten und damit die strategische Stabilität.
Bei den nuklearen Mittelstreckenwaffen gelang 1987 gar ein komplettes Verbot, der nun gefährdete INF-Vertrag, so das seine destabilisierende Aufrüstung in diesem Waffenbereich ausblieb. Vor allem aber trugen der permanente Dialog und die gemeinsam überprüfte Umsetzung von Vereinbarungen zu Transparenz und Vertrauen bei. Das Denken der Gegenseite wurde besser verständlich. Sowjetische Politiker und Militärs gaben als Folge ihrer Verhandlungen mit den Amerikanern ihre vom Marxismus-Leninismus geprägte Vorstellung auf, wonach der Sozialismus den Imperialismus in einem großen Krieg besiegen wird. Sie folgerten, dass es in einem großen Atomkrieg keine Sieger geben könne. Obwohl die Weiterentwicklung von Kernwaffen nie gestoppt wurde, entwickelte sich zwischen Ost und West eine gemeinsame Verantwortung für die Verhinderung eines atomaren Untergangs. Diese gemeinsame Verantwortlichkeit ist mittlerweile nahezu komplett verloren gegangen.
Bedrohliche Neuentwicklungen - auch in Asien
Dies könnte uns eines Tages teuer zu stehen kommen. Nicht nur zwischen den USA und Russland, sondern auch im asiatischen Dreieck China - Indien – Pakistan findet derzeit eine enorme nukleare Aufrüstung statt.
Politische Krisen könnten außer Kontrolle geraten und nuklear eskalieren. Ein Grund dafür ist die deutlich gesteigerte Zielgenauigkeit von Raketen. Ferner können mobile Atomraketen und nuklear bestückte U-Boote heute sehr viel besser aufgespürt und verfolgt werden.
Die gestiegenen Möglichkeiten der Datenverarbeitung erlauben es in wachsendem Masse, bewegliche Ziele nahezu lückenlos zu verfolgen. Zudem vermischen sich die von den Kernwaffen ausgehenden Herausforderungen mit Bedrohungen aus dem Cyberraum. Die Funktionsfähigkeit von Frühwarnsystemen kann durch Cyberangriffe beeinträchtigt werden. In Krisenzeiten könnten Atomwaffen daher versehentlich eingesetzt werden. Die gesicherte Zweitschlagfähigkeit wird tendenziell gefährdet. Die alte Formel aus dem Kalten Krieg «Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter» droht ausgehebelt zu werden.
Nötig ist daher eine Politik, die im Sinne der Rüstungskontrolle das gemeinsame Überleben im Nuklearzeitalter sichert. Was steht dem im Wege? Erstens verblasst die Erinnerung an die Bombenabwürfe über Japan. Anders als früheren Politikern sitzt heutigen Entscheidungsträgern auch nicht mehr der Schreck über die mit viel Glück überstandene Kubakrise von 1962 im Nacken. Atomwaffen werden als Instrumente eigener Stärke begriffen. In den Köpfen einiger Strategen könnten neue technische Entwicklungen den selektiven Einsatz von Kernwaffen mit relativ geringen Opferzahlen künftig zulassen. Mit anderen Worten: Womöglich wird ein Sieg im Atomkrieg wieder für denkbar gehalten. Zweitens fehlt es an politischer Führung. Diese wäre bei einem komplexen Thema wie der Rüstungskontrolle nötig. In den USA stehen die Bemühungen um die Modernisierung des eigenen Kernwaffenpotenzials jedoch im Vordergrund. Der Administration Trump geht es weniger darum, in einer internationalen Gemeinschaft für alle vorteilhafte Kompromisse zu erzielen.
Rüstungskontrolle nicht mehr auf Ausgleich bedacht
Ziel ist es vielmehr, in einer auf Konkurrenz angelegten internationalen Arena auf der Siegerseite zu sein. Eine auf Ausgleich angelegte Rüstungskontrollpolitik ist damit nicht vereinbar. Dies umso mehr, als die USA bei bestimmten technischen Entwicklungen, die Vorteile gegenüber konkurrierenden Atomstaatenversprechen, führend sind. Die Tatsache, dass sich Russland offenbar nicht mehr an den INF-Vertrag hält, ist zusätzliches Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Fesseln der Rüstungskontrolle sprengen wollen. Die fehlende Führung Washingtons wird von Moskau und Peking nicht kompensiert.
Russland sieht sein Atomwaffenarsenal als Kronjuwel seines Großmachtanspruchs. Präsident Putin will mit seinen Kernwaffen Angst machen und nicht über dieses Drohpotenzial verhandeln.
Dem aufstrebenden China bleibt eine auf Ausgleich angelegte Rüstungskontrollpolitik fremd. Da es sowohl den USA als auch Russland im Bereich der Atomwaffen unterlegen ist, fürchtet es die Transparenz, die mit Rüstungskontrolle einherginge. Drittens hat sich die nukleare Landkarte grundlegend verändert. Zu den Zeiten des Kalten Krieges konnten sich Washington und Moskau auf bilaterale Übereinkünfte konzentrieren, die ihre jeweilige nationale Sicherheit fördern sollten. In einer multipolar geprägten nuklearen Welt mit neuen Atommächten wie China, Indien, Pakistan und Nordkorea funktioniert dies nicht mehr ohne weiteres.
Heute wirken Bedrohungen auf die USA und Russland ein, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem jeweiligen Gegenüber stehen, sondern von Dritten ausgehen. Gerade der INF-Vertrag ist dafür aus russischer wie auch aus amerikanischer Sicht ein gutes Beispiel. Russland ist seit langem mit diesem Abkommen unzufrieden. Es verweist darauf, dass seine asiatischen Nachbarn, besonders China, genau in dem Waffenspektrum, in dem Moskau aufgrund des INF-Vertrags Verzicht übt, aufrüsten. Es sieht diese Dynamik als Bedrohung an.
Dies mag ein Grund sein, warum – laut amerikanischen Quellen – Russland den INF-Vertrag im Zuge der Stationierung eines neuen landgestützten Marschflugkörpers verletzt. Präsident Trumps Sicherheitsberater John Bolton verwies während seines Moskaubesuchs seinerseits auch auf Chinas nukleare Aufrüstung im Mittelstreckenbereich. Dies sei für Washington ein wesentlicher Grund, warum der INF-Vertrag nicht mehr den gegenwärtigen strategischen Gegebenheiten entspreche.
Viertens verschwimmt die Trennlinie zwischen Kern- und anderen Waffen. Grund dafür sind die Entwicklung moderner konventioneller Präzisionswaffen ebenso wie neue Möglichkeiten im Cyberbereich. Auch Raketenabwehr und neue militärische Fähigkeiten im Weltraum sind von wachsender strategischer Bedeutung. Insofern wird es mehr und mehr fraglich, inwiefern eine einzig auf Kernwaffen konzentrierte Rüstungskontrolle zu strategischer Stabilität beitragen könnte.
Die Aktualität von Dr. Seltsam
Während des Kalten Krieges war Rüstungskontrolle fester Bestandteil der internationalen Beziehungen. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Anstatt über neue Rüstungskontrollabkommen zu verhandeln, werden die bestehenden von Washington und Moskau über Bord geworfen.
Andere atomare Akteure wie China, Indien oder Pakistan rüsten zwar mächtig auf, zeigen aber keinerlei Interesse an gemeinsamen Aktivitäten zur Zähmung des nuklearen Rüstungswettlaufs. Zugleich werden die Herausforderungen immer komplexer. Die gute alte nukleare Abschreckung wird zunehmend mit modernen Technologien unterlegt, die womöglich einen destabilisierenden Effekt zeitigen. Atomkriege könnten daher wahrscheinlicher werden. Wenn auch künftig nukleare Desaster verhindert werden sollen, gilt es, Stanley Kubricks Filmklassiker «Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben» umzudeuten in: Wie wir wieder lernten, die nukleare Rüstungskontrolle zu lieben.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Externer Link: NZZ, dort erschien am 30.10.2018 die Erstveröffentlichung des Texts.
Oliver Thränert leitet den Think-Tank am Center for Security Studies der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und arbeitet für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.