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Das Märchen vom Multistakeholderismus | Wer regiert das Netz? | bpb.de

Das Märchen vom Multistakeholderismus

Friedhelm Greis

/ 5 Minuten zu lesen

Die Internetverwaltung durch die Icann soll im nächsten Jahr unter internationale Kontrolle gestellt werden. Gut möglich, dass der Versuch am Ende scheitern wird. Ein Kommentar von Friedhelm Geis.

Die ICANN soll ab nächstem Jahr nicht mehr von den USA geleitet werden. Ob diese Herren dann das Kommando übernehmen ist eher fraglich. (Veni) Lizenz: cc by/2.0/de

Wer sich einmal zufällig in eine Podiumsdiskussion verirren sollte, bei der nach einer halben Stunde immer noch nicht klar scheint, worüber eigentlich gestritten wird, kann sich fast sicher sein: Es geht um das Thema Internet Governance. Dabei stehen die Staatengemeinschaft, die IT-Wirtschaft und die vielbeschworene Netzcommunity unter einem zeitlichen Druck: Im September 2015 wollen die USA die Kontrolle über die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann) abgeben. Bis dann, so ist die Hoffnung, hat sich ein internationales Gremium gebildet, das diese Aufgabe übernehmen kann.

Die Debatten werden durch drei Grundannahmen bestimmt, die eine Lösung des Problems nicht unbedingt erleichtern: 1. Weil das Internet irgendwie alle betrifft, sollen auch alle darüber mitreden können. 2. Weil das Internet ein globales Netz ist, sollen alle wichtigen Fragen auch auf globaler Ebene gelöst werden. 3. Es soll nicht nur geregelt werden, dass das Internet funktioniert, sondern auch, wie es funktioniert. Stichwörter sind dabei: Netzneutralität, Netzsperren oder Massenüberwachung.

Was kann das Internet für die Jugend machen?

Die erste Grundannahme ist mit dem Schlagwort "Multistakeholder-Prozess" verbunden. Mit diesem Begriff, der fast schon zu einem Schimpfwort degeneriert ist, ist gemeint, dass alle betroffenen Interessengruppen gleichberechtigt in die Diskussionen zur Internetverwaltung einbezogen werden sollen. Was nach einer guten Sache klingt, hatte auf der diesjährigen Eurodig beispielsweise zur Folge, dass in einer Diskussion über den Fahrplan zur Internetverwaltung als wichtigster Aspekt erschien, dass keine Frauen auf dem Plenum vertreten waren. In einer Debatte über die Zukunft des Internets in Europa fragte ein junger Zuhörer ernsthaft: "Was kann das Internet für die Jugend machen?"

Kaum vorstellbar, dass auf einem Treffen der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) die Geschlechterfrage so thematisiert oder im Weltpostverein gefragt würde, wie die Briefträger die Post für Jugendliche besser austragen könnten. Der russische Vertreter auf einem Eurodig-Forum, der Duma-Abgeordnete Robert Shlegel, machte sich aus diesem Grund wenig Illusionen: "Ich gehöre wie viele von euch der Kirche des Multistakeholderismus an. Aber ich glaube nicht an Märchen. So oft man auch Multistakeholderismus, Multistakerholderismus sagt, es wird nicht passieren."

Viele Staaten sperren sich gegen Beschlüsse

Letzteres mag auch an der widerstrebenden Haltung großer Staaten wie Russland oder China liegen, die die Internetverwaltung lieber in eine internationale Organisation wie die ITU verlagern möchten. Die chinesische Regierung machte am Montag vor Beginn einer Icann-Konferenz in London deutlich, dass sie ihre staatliche Kontrolle über das Internet nicht nur behalten - sondern auch als Regel festschreiben will. Chinesische Internet-Experten plädierten in einer Staatszeitung dafür, dass Regierungen in ihren Grenzen die Hoheit über den Fluss der Daten im Netz haben sollten. Es stellt sich daher die Frage, ob sich Regeln, die über die reine Funktionalität des Netzes hinausgehen, überhaupt weltweit einheitlich vereinbaren lassen. Aus der Umweltbewegung ist die Devise bekannt: "Global denken, lokal handeln." Bei der Internet Governance scheint zu gelten: "Lokal denken, global handeln."

Die diesjährige Netmundial in Brasilien ist die jüngste in der Reihe der globalen Multistakeholderveranstaltungen. Während die einen ein durchaus positives Fazit ziehen, bemängeln Kritiker, das wieder keine substantiellen Schritte getan wurden. (brasil.gov.br) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Ohnehin ist sehr fragwürdig, ob sämtliche Aspekte, die eine Regulierung des Netzes betreffen, überhaupt global geregelt werden müssen. Auf dem Telefonmarkt gibt es schließlich auch in fast jedem Land andere Regeln. Entscheidend ist aber, dass Menschen weltweit miteinander telefonieren können. Kaum vorstellbar, dass die nationalen Gesetze zum Abhören von Telefonaten vereinheitlicht werden könnten. Wie der Telefonkonzern Vodafone kürzlich mitteilte, gibt es dazu schon in Europa gravierende Unterschiede, was die Rechte der Behörden betrifft. Wenn sich ein Land wie die USA andere Regeln für Netzneutralität gegeben hat und demnächst wieder gibt, ist das zunächst eine nationale Entscheidung, die respektiert werden sollte. Dies bedeutet schließlich nicht, dass Europa und andere Regionen nicht einen eigenen Weg gehen könnten. Er sei gegen zusätzliche Regulierung, nur weil alle regulieren wollen, sagte der Vorstandsvorsitzenden des Internet-Verbandes eco, Michael Rotert, in einem Gespräch mit Golem.de. Illusorisch scheint es zudem, dass über die Internet Governance die Geheimdienste weltweit plötzlich ihre Aktivitäten im Netz einstellten. Auch das wird letzten Endes den Staaten selbst überlassen bleiben.

Zu guter Letzt stellt sich die Frage, wer die vielen Interessengruppen überhaupt legitimiert, im Sinne des Netzes zu sprechen. Der IT-Sicherheitsexperte Sandro Gaycken zeichnete in einer Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses kein günstiges Bild des "Multistakeholderimus". Die Politiker, die an den Treffen zur Internet Governance teilnähmen, hätten "keine Ahnung", selbst die Lobbygruppen würden zum Teil von den IT-Unternehmen finanziert. "Die Marschmusik diktiert die IT-Industrie", sagte Gaycken. Die Gruppen, die aus weniger demokratischen Staaten an solchen Treffen teilnehmen, dürften kaum von den Positionen der dortigen Regierung abweichen. Andererseits sollen sämtliche Teilnehmer der Konferenzen die gleichen Rechte haben: der Vertreter einer demokratisch gewählten Regierung eines großen Staates genauso wie der Lobbyist eines kleinen Landes. Für Rotert stellt sich zudem die Frage, welche Gruppe sich eine Reise zu den weltweiten Treffen überhaupt leisten kann.

"Wir sollten alle etwas weniger an unsere eigenen Interessen denken und mehr an das Internet", sagte Icann-Chef Fadi Chehadé, dem eine Führungsrolle bei den Verhandlungen zufällt. "Es gibt eine Menge Beteiligter mit unterschiedlichen Interessen", sagte der Icann-Europabeauftragte Jean-Jacques Sahel, der für mehr Stimmenvielfalt sorgen soll. "Ich hoffe, wir können sie alle zusammenbringen - weil wir es schaffen müssen." Rotert ist allerdings überzeugt, "dass jeder zunächst einmal an seine eigenen Interessen denkt."

Teufel mit dem Belzebub austreiben

Es kann daher durchaus passieren, dass kein Konsens zwischen allen Parteien zu finden ist. Vielleicht nicht einmal ein sogenannter rough consensus, eine grobe Übereinstimmung. Dann würde es am Ende keine weiteren Kontroll-Mechanismen zusätzlich zu denen geben, die die Icann heute schon habe, sagte Sahel. Vielleicht komme man dann auch ohne aus - von der Aufsichtsrolle der US-Regierung habe man schließlich auch nichts bemerkt. Auch Rotert kann sich derzeit nicht vorstellen, wie in den kommenden 15 Monaten eine Einigung gefunden werden könne. Von technischer Seite wäre es ohnehin "völlig wurscht". Man stehe im Grunde vor der Wahl, den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben. Auch der Bundestag hat sich kürzlich mit dem Thema Internet Governance befasst. Die Liste der Sachverständigen wird den Verfechtern des strikten Multistakeholderismus nicht gefallen haben. Es waren nur Männer geladen.

Fussnoten

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Friedhelm Greis ist seit Juni 2013 Redakteur für Netzpolitik bei Golem.de. Er arbeitete bei der Netzeitung, als Journalist und freier Autor in New York und Berlin und als Herausgeber und Redakteur bei der Nachrichtenagentur ddp/dapd. Außerdem schreibt er für die Wikipedia und das Tucholsky-blog, Externer Link: Sudelblog.de.