Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit widerspricht der Wertvorstellung von Gleichwertigkeit. Sie rechtfertigt Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihrerseits soziale Ungleichheit langfristig zementieren können.Einleitung
Zu den zentralen Werten einer demokratischen Gesellschaft gehören die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Sicherung der physischen und psychischen Unversehrtheit ihrer Mitglieder. Diese Prinzipien sollen ein möglichst angstfreies Zusammenleben von Individuen und Gruppen unterschiedlicher ethnischer, religiöser, kultureller oder sozialer Herkunft sichern. Menschenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen, welche die Mitglieder von sozialen Gruppen abwerten und ausgrenzen, widersprechen der Norm- und Wertvorstellung von Gleichwertigkeit, gerade weil sie die Ungleichwertigkeit rechtfertigen und die Integrität von Gruppen und ihren Mitgliedern infrage stellen. Dabei beeinflussen zentrale gesellschaftliche Entwicklungen die Befürwortung von Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihrerseits soziale Ungleichheit langfristig zementieren können. Wir haben in dem Bielefelder Projekt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (GMF) in Deutschland[1] über viele Jahre hinweg in jährlichen repräsentativen Umfragen beobachtet, wie beispielsweise eine zunehmende Ökonomisierung von sozialen Beziehungen oder wirtschaftliche Krisen negative Vorurteile gegenüber Gruppen und Diskriminierungsabsichten befördern. Im Folgenden beschreiben wir vornehmlich das Syndrom der GMF. Es basiert auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, die sich in der Abwertung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen manifestiert und soziale Ungleichheit zementiert. Zentral ist hier jene Ungleichwertigkeit, die sich in Stereotypen, Vorurteilen und Feindseligkeiten ausdrückt.Syndrom der Ungleichwertigkeit
Menschenfeindlichkeit markiert und legitimiert die Ungleichwertigkeit von Individuen und Gruppen, sodass deren Diskriminierung wahrscheinlicher wird. Der Begriff Menschenfeindlichkeit bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Gruppen und meint kein interindividuelles Feindschaftsverhältnis. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit umfasst Stereotype, Vorurteile und Diskriminierungen gegen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu schwachen Gruppen in unserer Gesellschaft, kurz: die Abwertung von Gruppen. Das besondere Kennzeichen unseres Begriffsverständnisses ist seine Spannbreite. Einerseits umfasst die Abwertung negative Stereotype, kognitiv überformte Vorurteile, aber auch emotionale soziale Distanzierungen oder Absichten, eine Fremdgruppe zu schädigen: Es markiert eine Differenz zwischen Gruppen. Andererseits ist die Spannbreite markiert durch die Reichweite der Abwertungen: Nicht nur Personen fremder Herkunft erleben Abwertung, Diskriminierung und Gewalt, sondern auch solche gleicher Herkunft, die als abweichend stigmatisiert werden.Neben Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und der Abwertung von Menschen, die Asyl suchen oder Sinti und Roma angehören, umfasst das Konzept auch die Abwertung von Menschen mit religiösen Überzeugungen wie das Judentum und den Islam, also Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Einbezogen ist auch die Herabsetzung von Menschen mit anderem Geschlecht oder einer anderen sexuellen Orientierung sowie von Menschen, die obdachlos oder arbeitslos sind. Daneben umfasst das Konzept auch ganz allgemein die Abwertung von allen, die neu hinzugekommen sind, also Etabliertenvorrechte als Prototyp des Vorurteils.[2]
Ein wesentliches Merkmal ist, dass diese Abwertungen, welche die Ungleichwertigkeit von Gruppen erzeugen und zugleich etablieren, in einem Syndrom verbunden sind. Die Abwertungen, die wir als Elemente des GMF-Syndroms verstehen, hängen untereinander zusammen und haben einen gemeinsamen Kern, der durch die generelle Ideologie, dass Ungleichwertigkeit von Gruppen die Gesellschaft bestimmt und dies auch gut sei, beschrieben ist.[3] Das bedeutet, dass eine Person, sofern sie Zustimmung zur Abwertung einer bestimmten Gruppe äußert, mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit dazu neigt, auch andere schwache Gruppen abzuwerten und zu diskriminieren.[4]
Zweitens gehen wir davon aus, dass das GMF-Syndrom kein Phänomen ist, das allein am extremen Rand des politischen Spektrums angesiedelt ist, sondern ein breites, weithin geteiltes Meinungsmuster in der deutschen Bevölkerung widerspiegelt. Drittens kann ein Element dann Teil des GMF-Syndroms werden, wenn die Gleichwertigkeit der entsprechenden Gruppe in der Gesellschaft zur Disposition gestellt wird. Mit Blick auf die Verbreitung der Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung und die Frage, wie sich empirisch die Abwertungen entwickeln, zählen wir seit 2011 zwölf soziale Gruppen zum GMF-Syndrom (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version).[5] Zugleich entspricht die Abbildung einer empirischen Modellprüfung des Syndroms mit den Daten des repräsentativen Surveys aus dem Jahre 2011, welches die Passung des Modells unterstützt.