"Eiserner Kanzler" und "Grande Nation". Selbst- und Fremdwahrnehmungen in den deutsch-französischen Beziehungen
Und schließlich ist es sein Autor, der den eingangs zitierten Satz zu einem wichtigen Puzzleteil der deutschen Frankreich-Wahrnehmung macht: Friedrich Sieburg ist eine der schillerndsten Gestalten im Labyrinth deutsch-französischer Verständigungen und Missverständnisse – vergleichbar wohl nur mit Ernst Jünger, dem es ebenso wie Sieburg gelang, trotz seines "Flirts" mit dem Nationalsozialismus im entscheidenden Moment die Distanz zu wahren.
Mythos vom unveränderlichen Bild des Nachbarn
An Intellektuellen wie Friedrich Sieburg oder Ernst Jünger wird deutlich, welche Last der Geschichte auf den Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Deutschen und Franzosen und auf ihrer leichtfertig zur "Erbfeindschaft" stilisierten Beziehung liegt – einer Beziehung, die in den vergangenen 50 Jahren womöglich ebenso leichtfertig wie vorschnell zur "(Erb-)Freundschaft" erklärt wurde.[2] Jedenfalls lohnt es sich, der Entwicklung dieser Beziehung weit vor dem Jahr 1963 (als Jahr des deutsch-französischen Vertrags) beziehungsweise vor 1945 nachzugehen: Das 19. Jahrhundert hat bezüglich der Definition des anderen als Feind zweifellos die gängigsten Stereotype hervorgebracht. Den wachen Geistern blieb der Klischeecharakter keineswegs verborgen: In seinem "Wörterbuch der Gemeinplätze" (1850) kommentiert der Romancier Gustave Flaubert den Begriff "Deutsche" wie folgt: "Volk von Träumern (alt)". Interessanter noch als die Anspielung auf das durch Madame de Staël in ihrem Buch "De l’Allemagne" (1813) geprägte Deutschland-Bild ist die Tatsache, dass man offensichtlich bereits zu Flauberts Zeiten einen gewissen Überdruss kannte an Bildern des Nachbarn, die sich längst als Klischees erwiesen hatten.Die intensiven Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und die Reflexion der Bilder des jeweiligen Nachbarn haben die Gefahr des Überdrusses ein halbes Jahrhundert nach dem Abschluss des Élysée-Vertrags keinesfalls gebannt: Anfang 2012 äußerte der Historiker Pierre Nora in einem Interview, dass sich seines Erachtens Deutschland und Frankreich nach Jahren des kulturellen Austausches und der gegenseitigen Bereicherung voneinander entfernten, weil sie sich jenseits ihrer ökonomischen Beziehungen nichts mehr zu sagen hätten.[3] Diese Feststellung ist um so erstaunlicher, ja beunruhigender, als es am Dialog zwischen beiden Ländern wahrlich nicht mangelt, weder im wissenschaftlich-künstlerischen noch im politischen Bereich und ganz zu schweigen von den vielfältigen individuellen Beziehungen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern beider Länder. Erinnert sei auch an zahlreiche erfolgreiche Klärungen von Missverständnissen.[4]
Neben der Analyse einiger eher schlichter, aber nichtsdestoweniger in der Vergangenheit wirkmächtiger Klischees[5] bestanden und bestehen diese Bemühungen größtenteils in der Auseinandersetzung mit mehrdeutigen und nur schwer übersetzbaren Begriffen, die den Dialog sowie den Ideenaustausch erschweren und offensichtlich manches Missverständnis hervorbringen: Natürlich kann und muss man über deutsche Begriffe (und ihre französischen Pendants) wie "Pazifismus", "Nation(alismus)", "Volk", "Bildung" oder "Natur(schutz)" und ihre Konnotationen im jeweiligen Land nachdenken; Orientierung findet indes nur, wer sich vor Augen führt, dass neben Begriffen und Reflexionen die Bilder des jeweils anderen stehen und dass diese unter Umständen wirkmächtiger sind als Erstere. Solche erstarrten Bilder – gemeint sind beispielsweise diejenigen von Germania und Marianne, die zwar einem gewissen Wandel unterliegen, der das Verständnis aber nicht erleichtert[6] – existieren seit Generationen. Sie sind nicht rational, sondern vorbewusst und dien(t)en immer dann als Leitlinien und Orientierung in den deutsch-französischen Beziehungen, wenn rationale Argumentationen und logisch-diskursive Begriffe versag(t)en. Der von Pierre Nora beklagte Mangel an gegenseitigem Interesse[7] hat also nichts zu tun mit einem Mangel an Bildern vom anderen. Da vielmehr das Gegenteil der Fall ist, kann von einer Art deutsch-französischen "Imagologie"[8] gesprochen werden, das heißt, die Wahrnehmungen des jeweils anderen, vor allem aber die Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Fremd- und Selbstwahrnehmungen werden analysiert.[9]
Idealisierung und Dämonisierung
Das Bild, das sich die Deutschen von Frankreich machten, rief bei den einen Bewunderung, bei den anderen Ablehnung hervor, und beide gegenläufigen Tendenzen existierten gleichzeitig. Die französischen Deutschland-Bilder hingegen waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Idealisierung durch Germaine de Staël dominiert, auf die erst nach der Rheinkrise 1840 und schließlich durch den Krieg von 1870/1871 eine Ernüchterung, ja ein Umschwung folgte: Madame de Staëls "De l’Allemagne" und der Krieg Otto von Bismarcks gegen das Kaiserreich Napoleons III. sind somit Wegmarken der Entwicklung des Bildes beziehungsweise der Bilder, die man sich in Frankreich vom Nachbarn im Osten machte. Die zwei aufeinanderfolgenden Bilder – zunächst das durch de Staël geprägte Bild Deutschlands als ein Land, dessen friedliebende Bewohner sich vor allem für philosophische Ideen begeistern und dann, nach dem Krieg von 1870/1871, die Dämonisierung der Deutschen als kriegslüsternes Volk – verschmolzen zu einer Art Doppelgesichtigkeit Deutschlands. Zu jener Zeit entstand nicht nur die despektierliche Bezeichnung der Deutschen als boches;[10] in der Janusköpfigkeit des Deutschland-Bildes liegen auch die Wurzeln für das von vielen französischen Politikern im 20. Jahrhundert favorisierte Paradigma, Deutschland sei nicht als Einheit denkbar: Notwendigerweise müsse es in zweifacher Form existieren ("les deux Allemagnes").[11]Diese aus der Erfahrung der Niederlage von 1871 geborene französische Wahrnehmung der Deutschen, in der Deutschland und sein Kanzler Bismarck geradezu ineinander verschmolzen, hat ein wirkmächtiges Phänomen bewirkt, das der Historiker Claude Digeon "die deutsche Krise im französischen Denken" nannte,[12] eine Krise, die zwei französische Generationen und ihr Deutschland-Bild bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges beeinflusste. Durch diese Prägung erklärt sich die Tatsache, dass Bismarck und seine Epoche in der französischen Deutschland-Wahrnehmung bis zum heutigen Tag eine größere Rolle spielen als die napoleonischen Kriege oder die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung. Gerade Letzteres ist umso erstaunlicher angesichts der menschlichen Grausamkeiten und materiellen Verwüstungen der 1940er Jahre, für die exemplarisch das Mahnmal von Oradour-sur-Glane steht.[13] So ließ auch die deutsche Wiedervereinigung 1990 fast reflexhaft Erinnerungen an Bismarcks Einigung zum Kaiserreich wieder aufkommen.[14] Doch abgesehen davon repräsentiert Bismarck für viele französische Politiker und Historiker eine enttäuschende Abkehr vom alten deutschen Modell, die man nur überwinden zu können glaubte, indem man das Deutschland Johann Wolfgang von Goethes gegen dasjenige des Kanzlers und der Politik von "Blut und Eisen" hervorhob und Deutschland somit quasi "verdoppelte". Diese Doppelgesichtigkeit wird um die Jahrhundertwende und bis zum August 1914 für französische Intellektuelle[15] zu einer Art Leitmotiv: Das "gute" Deutschland der Vergangenheit konnte nun gegen die verachtenswerten Eigenschaften ausgespielt werden, die man den zeitgenössischen Nachbarn im Osten zuschrieb.
Bezeichnenderweise taucht dieses doppelte Deutschland-Bild als bestimmendes Moment für die französische Wahrnehmung des Nachbarn zwischen 1949 und 1989 wieder auf: Während der Zeit des Kalten Krieges boten die beiden deutschen Staaten den an Deutschland interessierten französischen Intellektuellen die Möglichkeit, ihre eigenen politischen Überzeugungen in dem einen oder dem anderen politischen Modell gleichsam zu spiegeln und zu konturieren. Eine Parteinahme für die DDR, womöglich sogar Sympathie mit diesem Staat, konnte innerhalb Frankreichs als Akt des Protests gegen die eigene politische Klasse gewertet werden, während die Zustimmung zur Bundesrepublik eher einer gaullistischen Position entsprach.
Die Schärfung, ja Spiegelung eigener politischer Überzeugungen im Bild des Nachbarn legt indes auch gewisse verborgene Unterströmungen des politischen Denkens in Frankreich offen, die eher unbewusst sind und daher von Eric Weil zurecht "Komplexe" genannt wurden:[16] Der aus Deutschland stammende Philosoph, der 1933 nach Frankreich emigrierte, nennt die Religionskriege,[17] die "verratene" Revolution[18] sowie die Besetzung des eigenen Landes[19] als einschneidende Erfahrungen, welche das französische Selbstverständnis, aber eben auch das Bild des östlichen Nachbarn geprägt haben. Denn was Weil als complexes français bezeichnet, schlägt sich in bestimmten französischen Deutschland-Bildern nieder: Als Gegenbild zur unteilbaren Nation, wie sie der erste Verfassungsartikel artikuliert ("la France est une République indivisible"), wird das föderale Deutschland als ein zerrissenes Land angesehen, dessen geografische Grenzen jahrhundertelang nicht genau festgelegt waren. Deutschland wird weiterhin als ein Land betrachtet, das im Laufe seiner Geschichte die revolutionären Ideen Frankreichs aufgenommen und von den verschiedenen Bewegungen im Nachbarland profitiert habe.[20] Schließlich wird Deutschland seit Langem – und lange vor 1814 und 1871 – als Bedrohung angesehen.[21] Während jedoch in dieser Lesart die Deutschen ihre Nachbarn zu unterwerfen suchten, werden die französischen Eroberungen als Ausdruck einer zivilisatorischen Mission betrachtet.
Sind diese französischen Deutschland-Stereotype nicht also vor allem Verdrängungen der "Komplexe", die Eric Weil nennt und die nicht ins Bewusstsein vordringen, solange sie sich auf das Nachbarland beziehen? Der tiefere Grund, von Deutschland zumindest in doppelter Form, in jedem Fall aber im Plural zu sprechen, wäre folglich eine Verschränkung französischer Auto- und Heterostereotypen: Von Deutschland im Plural zu sprechen steht somit im Zusammenhang mit der (lexikalisch-morphologisch nur schwer zu akzeptierenden) Rede von "les deux France"[22] – die Pluralisierung des Begriffs Frankreich bietet jedem Franzosen und jeder Französin die Möglichkeit, sich je nach Einstellung und Überzeugung mit einem Land zu identifizieren, das in der Tat zerrissen ist zwischen den beiden politischen Lagern der Rechten und der Linken, zwischen religiöser Orientierung und radikalem Laizismus,[23] zwischen denen, die Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben haben, und denen, für die Gleichheit ein Herzensanliegen ist – um nur einige Beispiele der inneren Spaltung zu nennen, für die der Ausdruck "les deux France" steht.
Bilder und Karikaturen – und die Gefahr der Banalisierung
Die Matrix der Bilder des jeweiligen Nachbarn besteht nur vordergründig aus der Idee einer Fundamentalopposition oder der eines unüberwindbaren Gegensatzes, wie der Begriff "Erbfeindschaft" suggeriert, der ja, wie Michael Jeismann betont, im Kern das Resultat einer doppelten Kollision ist: nämlich einerseits "einer Kollision zwischen dem universalen Anspruch (des französischen wie des deutschen Nationalismus, C.K.) (…) und seiner stets nur national gedachten Einlösung"[24] sowie andererseits zwischen den Nationalismen selbst. Von deutscher wie von französischer Seite erscheinen die Bilder des Nachbarn dann als eine Art Gegenpol.[25]Von diesen Bildern gibt es indes einen geradezu unüberschaubaren Vorrat im jeweiligen kollektiven Gedächtnis, und bei manchen von ihnen könnte man meinen, dass sie der Vergangenheit angehörten. Die aktuellen Krisen in den internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen beleben jedoch nationale Stereotype und zeigen, dass es sich bei ihnen um eine Vergangenheit handelt, die nicht vergeht.[26] Ein jüngeres Beispiel dafür ist der Vorwurf des sozialistischen Abgeordneten Arnaud Montebourg an die Adresse der Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine "politique à la Bismarck" zu betreiben.[27] Während in diesem Beispiel das klassische Links-Rechts-Schema zu stimmen scheint, durchbrechen andere Bilder diese Orientierung ganz bewusst: Als Georges Wolinski auf dem Höhepunkt der deutschen Friedensdemonstrationen im Herbst 1981 in einer Karikatur den deutschen Pazifismus mit einer vermeintlich deutschen Sehnsucht nach Massenveranstaltungen in eins setzte, deren Teilnehmer sich nichts sehnlicher wünschten als einen charismatischen Führer (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version), da relativierte er bewusst die politischen Intentionen des deutschen Pazifismus und maß ihn an französischen Traumata, die sich in einem historischen Stichwort wie dem "Geist von München" oder der historischen Frage "Sterben für Danzig?" verdichten. Mit dem esprit de Munich wird bis heute die Appeasement-Politik des damaligen Ministerpräsidenten Édouard Daladier während der Münchner Konferenz 1938 assoziiert; als munichois gelten jene, die bereit sind, vor der politischen Gewalt(androhung) zurückzuweichen. Während in Frankreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges die politische Linke pazifistische Positionen vertreten hatte, wurde der esprit de Munich 1938 vor allem von Vertretern der nationalistischen Rechten repräsentiert. Auch diese Wechselfälle gehören zu den von Simon Epstein in seinem gleichnamigen Buch analysierten paradoxes français.[28]
Karikaturen bieten die Möglichkeit, in der provozierenden Zuspitzung des bestehenden Bildes vom Nachbarn dessen tiefere Motive, die ihm selbst womöglich gar nicht bewusst sind, zu entschlüsseln, ihm somit einen Spiegel vorzuhalten. Verschiedene Studien zu deutsch-französischen Auto- und Heterostereotypen in der Karikatur[29] zeigen darüber hinaus, dass die allgegenwärtige und voranschreitende Internationalisierung und Globalisierung keinesfalls partikulare (nationale) Kulturräume zum Verschwinden bringt: Um bestimmte Bilder, die immer auch Bilder des eigenen Selbstverständnisses sind, verstehen zu können – das zeigt auch die Karikatur Wolinskis – bedarf es eines bestimmten kulturell geprägten Codes. Zu dieser Kategorie gehört zweifellos der Humor als conditio sine qua non.
Diese Dialektik zu verdeutlichen, ist das Anliegen der oben genannten "Imagologie". Man wirft der Karikatur – oftmals zu unrecht – vor, Zusammenhänge zu bagatellisieren; aber ist es nicht so, dass Karikaturen oftmals vielmehr gerade die Vergangenheit, die nicht vergehen will, beim Namen nennen und ins Bewusstsein heben können? Karikaturen sind der Stachel im Fleische dessen, was Pierre Nora an der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehung kritisiert und was schon vor über 40 Jahren als Gefahr der "indifférence amicale"[30] benannt wurde.
Die gegenseitige Verschränkung der Idee von der Pluralität des eigenen Landes – "les deux France" als unbewusstes Motiv der Rede von "les deux Allemagnes" – ist ein Element des jederzeit abrufbaren Vorrats an deutsch-französischen Bildern des Nachbarn. Dieser Vorrat wurde und wird bemüht, wenn es die identité nationale – oder wahlweise die "(deutsche) Leitkultur" – zu bekräftigen gilt; und hier zeigt(e) sich, dass die größte Schwäche dieses Bilder-Vorrats in seiner Anfälligkeit für Banalisierungen liegt. Eine der am häufigsten bemühten Darstellungen der deutsch-französischen Beziehungen ist das Bild des Paares, wobei die Rollenverteilung durchaus divergiert: Frankreich ("la" France) spielt nicht notwendigerweise den weiblichen Part, der bisweilen – man denke an die berühmte Karikatur von Klaus Pielert, die am 5. Juli 1952 im "Kölner Stadt-Anzeiger" veröffentlicht wurde (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version), – sogar dem 80-jährigen Konrad Adenauer zugeteilt wird. Das Bild des deutsch-französischen Paares – wahlweise wird auch dasjenige des "Tandems" oder des "Motors" gewählt – suggeriert partnerschaftliche, ja harmonische Beziehungen auch jenseits der zur Tagespolitik gehörenden Konflikte.
In diese vermeintliche Harmonie mischen sich indes gelegentliche Zwischentöne: Zu ihnen gehört die immer wieder zu hörende deutsche Rede von Frankreich als der Grande Nation, bei der bisweilen ein ironischer, ja polemischer Unterton unüberhörbar ist.[31] Oftmals jedoch wird dieser Topos als eine Art Zitat benutzt, wobei denjenigen, die ihn verwenden, gar nicht bewusst ist, dass der Begriff in Frankreich unbekannt ist: Er stammt vielmehr aus der antifranzösischen Polemik im Kontext der Befreiungskriege gegen Napoleon[32] und parodiert, unbewusst, aber um so ressentimentgeladener, das französische Selbstbewusstsein einer Nation, deren Größe darin bestehe, der Welt die Segnungen der Zivilisation zu bringen.[33] Es sei daran erinnert, dass Friedrich Nietzsche in seiner "Genealogie der Moral" (1887) das Ressentiment definiert als "das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen". Dies ist genau die Situation, in der sich der erwachende deutsche Nationalismus im nachnapoleonischen 19. Jahrhundert befand: schwankend zwischen der Bewunderung für eine trotz der Revolution in Frankreich bestimmend bleibenden höfischen Kultur und ihrer Selbstinszenierung einerseits und der trotzigen Ablehnung der Vorstellung, sich von ihr politisch wie kulturell dominieren zu lassen, andererseits.
Produktive Missverständnisse
Trotz der seit Beginn der 1960er Jahre erfolgreichen Bemühungen einer Annäherung zwischen zwei bis dato in ihren Klischees verharrenden Ländern wird auch in jüngeren Veröffentlichungen[34] immer wieder die traditionelle Konfliktlinie sichtbar, welche seit der Revolution von 1789 beide Länder zu trennen scheint: auf der einen Seite das Selbstbewusstsein einer Nation, die sich als Avantgarde eines in der Zukunft zu verwirklichenden Projekts von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sieht, auf der anderen Seite eine "verspätete Nation",[35] die ihr Selbstverständnis nicht in einem Zukunftsprojekt definiert, sondern durch die Besinnung auf tatsächliche oder vermeintliche Ursprünge. Vor diesem Hintergrund wären die jeweiligen "Gründungsmythen" näher zu untersuchen, die sich eben darin unterscheiden, dass sich die Französische Republik in der Tradition von Aufklärung und Revolution verortet und diese weiterführen will, während sich die Bundesrepublik Deutschland als Überwindung der fürchterlichen Verwerfungen deutscher Geschichte versteht.Durch diesen grundsätzlichen Unterschied entstehen auch 50 Jahre nach Abschluss des Élysée-Vertrags von 1963 Missverständnisse in der Wahrnehmung des jeweiligen Nachbarn, die bisweilen unüberwindbar scheinen; erinnert sei hier an das immer wieder von Alfred Grosser geäußerte Wort "Die Franzosen möchten von den Deutschen respektiert werden, aber die Deutschen werden die Franzosen nie respektieren. Und die Deutschen wollen von den Franzosen geliebt werden, aber die Franzosen werden die Deutschen nie lieben." Wie kaum ein anderer verkörpert der 1925 in Frankfurt geborene und 1933 mit seinen Eltern nach Frankreich emigrierte Grosser die deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Ob Grossers Einschätzung noch Gültigkeit hat, sei dahingestellt; jedenfalls ist das grundsätzliche gegenseitige Unverständnis überwunden, das Ernest Renan im August 1870 wohl zu recht feststellte.[36] Ebenfalls überwunden ist die Kollision von "Kultur" und "Zivilisation" und mit ihr die fatale Dialektik aus der Zeit Friedrich Sieburgs, der zufolge man "die jeweilige Identität in der Abgrenzung vom anderen suchte und das ‚Positive‘ in dem, was der Gegner als ‚negativ‘ ansah."[37]
Dass auch 50 Jahre nach dem Vertragswerk von Paris deutsche und französische Selbst- und Fremdwahrnehmungen bisweilen voneinander abweichen, ja miteinander kollidieren, ist keinesfalls als Defizit anzusehen, sondern als Chance, das eigene Selbstverständnis durch die Wahrnehmung des Nachbarn zu reflektieren. Womöglich ist die permanente Auseinandersetzung mit diesen Divergenzen das effektivste Mittel, der von Pierre Nora unlängst beklagten Entfremdung und Gleichgültigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen entgegenzusteuern.