Der schwierige Umgang mit der Geschichte – Transitional Justice in Kroatien
Im heutigen Kroatien[1] erinnert kaum noch etwas an den Krieg, der zu Beginn der 1990er Jahre das Leben der Einwohnerinnen und Einwohner bestimmte. Die sichtbaren Zeichen des Krieges wurden beseitigt. Nur in einigen Ortschaften, in denen der Krieg am heftigsten wütete, zeugen noch deutliche Spuren von den kriegerischen Auseinandersetzungen. Bei den unsichtbaren Folgen des Krieges ist eine ähnliche Entwicklung festzustellen. Der Krieg bleibt als eine Erinnerung in den Köpfen der Menschen, jedoch haben andere Themen über die Jahre an Wichtigkeit gewonnen. Dort hingegen, wo die materiellen Folgen des Krieges immer noch sichtbar sind – in Ostslawonien an der Grenze zu Serbien und in der Krajina an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina – ist auch ein gegenwärtiger Konflikt zwischen den in Kroatien lebenden Serbinnen und Serben und Kroatinnen und Kroaten sichtbar. Dies liegt zum einem an der Schwere der bewaffneten Auseinandersetzungen zu Beginn der 1990er Jahre und zum anderem an der relativ hohen Zahl von Einwohnern, die sich nicht als Kroaten verstehen.In diesen Gebieten ist der Begriff ethnisch gespaltene Gesellschaft zutreffend. Die Spaltung manifestiert sich in getrennten Stadtvierteln, Cafés und Vereinen und sogar in verschiedenen Sprachen und Schriften.[2] Sichtbare Zeichen der Trennung sind nicht ungewöhnlich für eine Gesellschaft, die aus verschiedenen ethnischen Gruppen besteht; problematisch ist dieser Zustand jedoch aufgrund der stark divergierenden Erinnerungen an die konfliktive Vergangenheit. Doch sind es nicht nur die Erinnerungen an den vergangenen Krieg der frühen 1990er Jahre, sondern auch Erinnerungen, Geschichten und Mythen aus der weiter zurückliegenden Vergangenheit, die zu einer Spaltung beitragen.
Im Rahmen dieses Beitrags wird allerdings nur der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit betrachtet.[3] Der Krieg, der von 1991 bis 1995 wütete, wurde anhand ethnischer Konfliktlinien ausgetragen; vereinfacht ausgedrückt kämpften auf dem Gebiet des heutigen Kroatien Serben gegen Kroaten um die territoriale Kontrolle der Gebiete, die einen serbischen Bevölkerungsanteil aufwiesen. Zum Ende dieses Krieges konnten sich die kroatischen Truppen durchsetzen und die ehemals von Serben besetzten Gebiete in der Republik Kroatien wiedervereinen. Für den kroatischen Bevölkerungsanteil kam dieser Ausgang des Krieges einem Sieg gleich; für den serbischen bedeutete der kroatische Sieg jedoch eine Niederlage, die mit vielfacher Flucht und Vertreibung aus den angestammten Siedlungsgebieten einherging. Diese unterschiedlichen Erfahrungen von siegen und besiegt werden geht einher mit grundlegend verschiedenen Deutungen des Krieges. Während für viele Kroaten die Verteidigung gegen eine unrechtmäßige serbische Aggression und das damit verbundene Leid im Vordergrund stehen, ist für viele Serben die Vertreibung aus ihrer Heimat die prägende Erinnerung. Somit sehen sich trotz der klaren Einordnung in Sieger und Besiegte sowohl die kroatischen als auch die serbischen Einwohner häufig als alleinige Opfer des Krieges. Eine gemeinsame Sicht auf die Vergangenheit, die Raum für eine differenzierte Betrachtung des komplexen Konflikts ließe, ist vor Ort nicht auszumachen. Stattdessen entscheidet der ethnische Hintergrund einer Person meist darüber wie diese Person die Vergangenheit wahrnimmt. Es ist dieses noch immer von ethnischen Differenzen geprägte Umfeld, in welchem Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung[4] implementiert wurden und werden. Im Folgenden werde ich einen kurzen Überblick über weniger bekannte Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung in Kroatien geben. Im Anschluss werden Denkmäler und der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als die bekannteren Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung hervorgehoben, um dann exemplarisch darzustellen, wie jene die Perzeption der Bevölkerung bezüglich der kriegerischen Vergangenheit beeinflussen.
Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung
Ein juristischer Mechanismus der Vergangenheitsaufarbeitung in Kroatien sind nationale Kriegsverbrecherprozesse, die sich ausschließlich mit Fällen extremer Menschenrechtsverletzungen beschäftigen. Für alle anderen Verbrechen, die während des Krieges stattfanden, wurde eine Amnestie beschlossen, wobei deren Bedingungen mehrdeutig formuliert sind und somit oft einer Prüfung des Einzelfalls unterliegen.[5] Trotz der vergleichsweise hohen Zahl von Anklagen, bis 2005 wurden 1675 Personen von nationalen kroatischen Gerichten strafrechtlich geahndet,[6] war der internationale Ruf dieser Gerichte negativ. Grund hierfür war der von Menschenrechtsorganisationen erhobene Vorwurf des einseitigen, pro-kroatisch und anti-serbischen Handelns.[7] Erst durch die Etablierung von vier zentralen Kriegsverbrecherkammern in den größten Städten des Landes verstummten die Kritiker.[8] Dies führte dazu, dass der ICTY, der bis dahin unabhängig agiert hatte, mit den nationalen Gerichten zu kooperieren begann und Fälle aus der eigenen Verantwortung an die nationalen Gerichte in Kroatien auslagerte.[9]Während der Bereich der juristischen Aufarbeitung Fortschritte machte, wurden andere Mechanismen, die gewöhnlich als Teil von Prozessen der Transitional Justice gesehen werden gar nicht oder auf fragwürdige Weise durchgeführt. Ein Beispiel für nicht durchgeführte Maßnahmen der Vergangenheitsaufarbeitung ist die Überprüfung von Staatsbediensteten hinsichtlich ihrer Rolle während des Konflikts. Auch wenn es vereinzelt dazu kam, dass Staatsbedienstete, die unter dem Verdacht standen, während des Krieges in Verbrechen verwickelt gewesen zu sein, unauffällig "ersetzt" oder in Rente geschickt wurden, gab es keine Form der öffentlichen Aufarbeitung.[10] Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um die Vergangenheit transparent aufzuarbeiten.
Als Beispiel für Mechanismen der Transitional Justice, die aufgrund ihrer einseitigen Betrachtung der Vergangenheit kritisierbar sind, kann ein 2006 geschaffenes Dokumentationszentrum herangezogen werden. Bereits der Name der Institution – Kroatisches Zentrum zur Erinnerung und Dokumentation an den Vaterländischen Krieg[11] – und mehr noch die Aussagen seines Leiters Ante Nazor, der die Aktionen der kroatischen Armee 1995 als legitime und legale Operationen zur Befreiung des besetzten Territoriums bezeichnete, unterstreichen einen gewissen Zugriff des Zentrums auf die Vergangenheit.[12] Als Reaktion auf die inhaltliche Gewichtung des Zentrums haben lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen[13] damit begonnen, unabhängige Wahrheitsfindungsprojekte anzustoßen.[14] Diese waren bisher allerdings nur mäßig erfolgreich.[15] Die einseitige Darstellung der Vergangenheit, die bei den ersten Prozessen der nationalen Kriegsverbrecherprozesse beobachtet werden konnte, trat bei dem Dokumentationszentrum unter der Leitung von Ante Nazor ebenfalls zutage.
Gedenkstätten in Kroatien
In Kroatien erinnern unzählige Gedenkstätten an den Krieg der frühen 1990er Jahre. Wie in anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawien geben sie meist ausschließlich die Interpretation der Geschichte wieder, die im betreffenden Gebiet von der Mehrheit der ansässigen Bevölkerung vertreten wird.[16] Besonders eindrucksvoll lässt sich dies in Vukovar zeigen. Die Stadt liegt an der Donau, an der serbischen Grenze und hat eine besondere Kriegsgeschichte: Im Spätsommer 1991 widersetzte sich die Bevölkerung trotz monatelangem Beschuss einer serbischen Übermacht, die versuchte, die Stadt einzunehmen. Daher ist Vukovar für viele Kroaten zu einem Synonym für Heldenmut und Durchhaltewillen des kroatischen Volkes geworden. Neben immer noch erkennbaren Kriegsruinen erinnern heute in und um Vukovar sieben zentrale Gedenkstätten an die Belagerung, die Mitte November 1991 mit dem Fall der Stadt endete.Außerhalb der Stadt, am Originalschauplatz, erinnert ein Gedenkraum an ein Massaker, bei dem mehr als 200 kroatische Zivilisten ermordet wurden. Ebenfalls außerhalb der Stadt befindet sich ein Friedhof für die Opfer der Belagerung. Die Gräber der gefallenen Kämpferinnen und Kämpfer auf Seiten der Kroaten sind an einem schwarzen Marmorgrabstein zu erkennen. Dieser ist verziert mit der Inschrift, dass hier eine Heldin oder ein Held des vaterländischen Krieges bestattet ist. Innerhalb der Stadt gibt es fünf weitere Gedenkorte: Ein großes Marmorkreuz an der Donau, das an die Getöteten erinnert, sowie die Ruine eines im Krieg zerstörten Wasserturms sind jeweils zu einer Art Wahrzeichen von Vukovar geworden. Zwei Ausstellungen geben ebenfalls Auskunft über die Zeit der Belagerung. Als fünfte und jüngste Gedenkstätte innerhalb der Stadt wurde 2011 ein Gedenkraum an einer Zufahrtsstraße eröffnet, in welcher zu Beginn der Belagerung der Vormarsch der einrückenden Panzer aufgehalten werden konnte und es zu gewaltigen Verlusten unter den serbischen Angreifern kam.[17]
Ähnlich wie das bereits erwähnte Dokumentationszentrum vermitteln die sieben genannten Gedenkstätten ein einseitiges Bild der Vergangenheit. Die kroatischen Verteidigerinnen und Verteidiger werden zu Helden, der getöteten serbischen Zivilsten wird nicht gedacht. Dies mag auf den ersten Blick nicht verwundern, da – wie bereits beschrieben – die Kroaten am Enden des Krieges siegreich waren. Allerdings war und ist Vukovar noch immer eine Stadt mit einem signifikanten serbischen Bevölkerungsanteil,[18] sodass sich die Frage aufdrängt, inwiefern das einseitige Gedenken negative Auswirkungen auf das Zusammenleben der beiden ethnischen Gruppen in der Stadt hat. So fühlten sich alle von mir im Jahr 2011 befragten Serben, die in Vukovar lebten, nicht durch die oben genannten Gedenkstätten repräsentiert und forderten stattdessen zumindest teilweise eigene Gedenkstätten.[19]
Auch wenn die Situation in Vukovar nicht verallgemeinert werden darf, zeigt der kurze Überblick über die sieben Denkmäler und ihre Perzeption in Vukovar dennoch, dass Gedenkstätten auf das Zusammenleben der ethnischen Gruppen trennend wirken können, wenn sie nur die Geschichte einer Gruppe darstellen. In einer Region, in der die Geschichte ein umkämpftes Gut ist, wird eine Gedenkstätte dann zu einem steinernen Argument der Sichtweise jener Konfliktpartei, welche die Gedenkstätte errichtet hat. Dennoch lässt sich in Vukovar immer häufiger eine Annäherung zwischen Personen der ehemals verfeindeten ethnischen Gruppen erkennen – jedoch findet diese nicht wegen, sondern trotz der Gedenkstätten statt.[20]