"Generation Einsatz"
Wenn die Bundeswehr Ende 2014 mit einem großen Teil ihrer Truppen aus Afghanistan zurück ist, wird sie sich verändert haben.[1] Wie kein anderer zuvor prägt der Einsatz am Hindukusch die Bundeswehr als Gesamtorganisation; nicht allein die Strukturen, sondern auch die Organisationskultur und das Selbstverständnis einer Generation von Soldatinnen und Soldaten, die die Bundeswehr meist nur noch als Einsatzarmee kennen.[2] Für viele von ihnen sind die Missionen zur internationalen Krisenbewältigung längst zur Normalität geworden. Sie leben in den Einsätzen fern der Heimat; viele von ihnen haben Tod und Verwundung erlebt. Einige haben in Afghanistan auch in schweren Gefechten gegen Aufständische gekämpft, erstmals in der Geschichte der Bundeswehr. Der erste in einem Feuergefecht Gefallene der Bundeswehr war ein 21-jähriger Hauptgefreiter, der im April 2009 in Afghanistan starb. Solche Erfahrungen gehen nicht spurlos an den Soldatinnen und Soldaten vorbei: Diese "sind in den vergangenen Jahren mit diesem Einsatz gewachsen, man könnte fast sagen 'erwachsen' geworden",[3] so Generalmajor Erich Pfeffer, damaliger Kommandeur des deutsch geführten Regionalkommandos Nord der International Stabilization Assistance Force (ISAF) in Afghanistan, im Februar 2013.Was eigentlich genau in den internationalen Missionen irgendwo im fernen Land passiert, wissen hierzulande im Detail nur wenige. Während die einen anscheinend "freundliches Desinteresse" bekunden, wie es der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler formulierte, sind sich andere heute angesichts der Afghanistanerfahrung sicher, dass jede Intervention von Streitkräften in Krisenregionen zur Eskalation kriegerischer Gewalt führt. Für Soldatinnen und Soldaten, die mit Auftrag des Parlaments für Frieden und Stabilität in weit entfernten Regionen ihr Leben riskieren, ist das eine verstörende Erfahrung. Im "Heimatdiskurs"[4] überwiegen Bilder von gezeichneten und traumatisierten Rückkehrern. Die Identifikation mit dem Opfer fällt vielen offenbar leichter. Die Realität für die Soldatinnen und Soldaten ist aber differenzierter. Nicht wenige, gerade der Kampferfahrenen, kehren durchaus mit einem gestärkten Selbstbewusstsein aus den Einsätzen zurück.[5] Die Gesellschaft und manche auch in der Bundeswehr tun sich schwer damit. Die Erfahrungswelten von Einsatzsoldaten bleiben fern und fremd – obwohl der Prozess der gesellschaftlichen Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes inzwischen begonnen hat, auch durch Film, Fernsehen und Literatur, die ebenso wie Selbstthematisierungsmonografien von Afghanistanrückkehrern dazu beitragen, dass gesellschaftliche Deutungsnarrative des Einsatzes entstehen. Das Soldat-Sein, so scheint es nicht ganz zu Unrecht, wird in Gesellschaft und Bundeswehr neu verhandelt.[6] Dass dies heute, wo die Erfahrungshorizonte von Einsatzsoldaten und Heimatgesellschaft weiter auseinander liegen, nicht leicht fällt, ist verständlich. Umso mehr ist genaueres Hinsehen und Nachfragen angeraten – nicht nur, aber auch von Seiten der sozialwissenschaftlichen Forschung. Wie nehmen Soldatinnen und Soldaten selbst die Realität ihrer Einsätze wahr? Wie gehen sie mit den oft unübersichtlichen Konfliktsituationen und wechselnden Sicherheitslagen in den Einsatzländern um? Welche Erfahrungen machen sie dabei im Umgang mit militärischer Gewalt, und welche Folgen haben die Erfahrungen für das Selbstbild und die Organisation?
Ein Forscherteam des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Anfang 2013 in Potsdam mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt zum Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zusammengeführt, begleitet nunmehr seit über drei Jahren die Soldatinnen und Soldaten des 22. deutschen Kontingents ISAF, die überwiegend von März bis Oktober 2010 im Afghanistan-Einsatz waren. Im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Langzeituntersuchung wurden die Kontingentangehörigen zu mehreren Zeitpunkten befragt – von der Vorausbildung über den Einsatz bis hin zur Einsatznachbereitung.[7] In zahlreichen Interviews, mit Hilfe von Fragebogen und auch durch Beobachtungen im Einsatz – in Kundus, Mazar-e-Sharif und Taloqan – hat das Team Erkenntnisse zur Einsatzrealität in Afghanistan gesammelt und ausgewertet. In diesem Jahr, fast drei Jahre nach ihrer Rückkehr aus Afghanistan, wurden die noch aktiven ebenso wie die bereits aus der Bundeswehr ausgeschiedenen Soldatinnen und Soldaten des Kontingents nochmals nach ihren Erfahrungen gefragt. Dadurch sollen Erkenntnisse über anhaltende Veränderungen gewonnen werden. Die bisherigen Ergebnisse der Studie sind in Teilen veröffentlicht.[8] Der vorliegende Beitrag stützt sich auf diese eigenen Arbeiten.
Von "Drinnis" und "Draussis": Verschiedene Erfahrungswelten im Einsatz
Als im März 2010 ein Großteil der Soldatinnen und Soldaten des 22. Kontingents seinen Einsatz in Afghanistan beginnt, befasst sich gerade der Verteidigungsausschuss als parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit dem vom damaligen deutschen Kommandeur des Provinical Reconstruction Team (PRT) Kundus Anfang September 2009 angeordneten Luftschlag auf zwei von Aufständischen entführte Tanklaster, dem auch Zivilisten zum Opfer gefallen waren.[9] Zur selben Zeit stellen sich die deutschen Soldatinnen und Soldaten der Quick Reaction Force (QRF) des Kontingents auf ihre neuen Aufgaben in den Ausbildungs- und Schutzkompanien (Task Forces) ein. Sie sollen im Rahmen der Ende 2009 von ISAF beschlossenen Neuausrichtung der Einsatzstrategie gemeinsam mit afghanischen Sicherheitskräften erstmals auch offensiv militärisch gegen Aufständische vorgehen, um Gebiete im deutschen Verantwortungsbereich im Norden des Landes freizukämpfen und auch zu halten.[10]Im Einsatz in Afghanistan hat es das 22. Kontingent mit einer hochkomplexen und mit erheblichen Risiken verbundenen Sicherheitslage zu tun, die jedoch zwischen den Provinzen, in denen die deutschen Soldatinnen und Soldaten eingesetzt sind, erheblich variiert. Bereits in den ersten Einsatzwochen fallen in einem der schwersten Feuergefechte, die die Bundeswehr bis dahin erlebt hatte, drei Soldaten des Kontingents in der Unruheprovinz Kundus. Nur wenige Wochen später sterben vier weitere deutsche Soldaten in der Region Baghlan. Am Ende seines Einsatzes blickt das 22. Kontingent auf schwerwiegende Erfahrungen mit direkter und indirekter Gewalt: Fast die Hälfte des Kontingents (46 Prozent) hat nach eigenen Angaben feindlichen Beschuss erlebt. Mehr als ein Drittel (37 Prozent) gibt an, mit dem Tod von Kameraden konfrontiert worden zu sein, und etwa ein Fünftel (21 Prozent) hat nach eigenen Angaben in Gefechten gegen Aufständische gestanden.[11]
Die Soldatinnen und Soldaten des Kontingents machen in ihrem Einsatz dennoch nicht die gleichen Erfahrungen, und nicht jeder von ihnen ist auch in gleicher Art und Weise von Gewalt betroffen. Die Einsatzwirklichkeit vor Ort ist vielschichtig. Sie differenziert sich in verschiedene Erfahrungswelten, je nachdem, wo die Soldatinnen und Soldaten eingesetzt sind und welche Aufgaben sie dort übernehmen.[12] Während es die in den Regionen Kundus und Baghlan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten mit einem Guerillakrieg zu tun haben, in dem sie fast täglich mit Beschuss, Anschlägen und auch mit komplexen Angriffen von Aufständischen rechnen müssen, ist der Soldatenalltag in der sogenannten Blue Box um das deutsche Feldlager Camp Marmal in der Nähe von Mazar-e-Sharif weit weniger von offener Gewalt geprägt. Dort geht es vordringlich darum, Präsenz in den Ortschaften zu zeigen, Kontakte mit Dorfältesten oder der Zivilbevölkerung zu pflegen und zivile Aufbauaktivitäten abzusichern und zu unterstützen. Die Prioritäten der Aufgaben können sich jedoch rasch von einer Situation zur nächsten ändern.[13]
Die Erfahrungswelten unterscheiden sich aber nicht nur von Einsatzort zu Einsatzort, sie werden zusätzlich durch die übernommenen Aufgaben bestimmt. Vier von zehn Männern und Frauen (41 Prozent) des Kontingents sind mit Ausbildungs- und Schutzaufgaben betraut. Fast ebenso viele (40 Prozent) haben Unterstützungsaufgaben und weitere 19 Prozent Führungsaufgaben.[14] Die Ausbildungs- und Schutzkräfte des Kontingents bewegen sich während ihres etwa vier bis sechs Monate andauernden Einsatzes überwiegend außerhalb der eng abgeschirmten deutschen Feldlager – für gemeinsame militärische Operationen mit afghanischen Sicherheitskräften, Patrouillenfahrten, zur Kontaktpflege, Aufklärung oder Ausbildung von afghanischer Armee und Polizei. 88 Prozent von ihnen befinden sich dabei täglich in Ortschaften oder für mehrere Tage in der Fläche, manche sogar über mehrere Wochen hintereinander auf Außenposten oder bei Operationen im freien Gelände und kehren nur zwischenzeitlich für wenige Tage zurück in die Feldlager.
Soldatinnen und Soldaten mit Ausbildungs- und Schutzaufgaben haben deshalb nicht nur weit häufiger Kontakt zur Zivilbevölkerung[15] oder zu afghanischen Sicherheitskräften, sie tragen auch besondere Risiken. Weit mehr als andere Angehörige des Kontingents sind sie im Laufe ihres Einsatzes in Kämpfe verwickelt. Fast die Hälfte (42 Prozent) von ihnen hat nach eigenen Angaben mit dem 22. Kontingent in Gefechten gestanden. Im besonderen Maße gilt dies für Soldatinnen und Soldaten der sogenannten Task Force: Etwa zwei Drittel (65 Prozent) von ihnen berichten, gegen Aufständische gekämpft zu haben.
Hingegen verlassen Führungs- und Unterstützungskräfte, die etwa für Planung und Auswertung, aber auch für Instandsetzung oder den reibungslosen Ablauf des Einsatzes verantwortlich sind, weitaus seltener die geschützte Welt des Feldlagers. Etwa ein Drittel der Unterstützer (35 Prozent) und ein Fünftel (20 Prozent) der Soldatinnen und Soldaten mit Führungsaufgaben verbringen ihren mehrmonatigen Einsatz ausschließlich in der abgeschirmten militärischen Alltagswelt der Feldlager und kommen nie oder allenfalls selten mit Land und Leuten in Kontakt. Vergleichsweise selten geraten sie während ihres Einsatzes in Kampfsituationen (6 Prozent der Führungs- und 8 Prozent der Unterstützungskräfte des Kontingents). Nicht nur die Risiken, sondern auch die Anforderungen und Belastungen unterscheiden sich von daher erheblich. Während die einen mit ständiger Bedrohung, mit Gefechten und Anschlägen, aber auch mit Not und Leid der Bevölkerung konfrontiert sind, müssen andere mit den geringen persönlichen Freiräumen und der ständigen sozialen Kontrolle der Feldlagergemeinschaften zurechtkommen. Beides kann extrem belastend sein, verlangt jedoch jeweils andere Fähigkeiten.
Auch die Soldatinnen und Soldaten selber unterscheiden in den Gesprächen und Interviews zwischen "Drinnis" und "Draussis", zwischen denjenigen, die sich während ihres Einsatzes meist außerhalb der Feldlager bewegen, und denjenigen, die ihren mehrmonatigen Einsatz überwiegend innerhalb der Lager verbringen. Sie beziehen sich damit jedoch nicht nur auf unterschiedliche Anforderungen, Belastungen und Gefahren, sondern geben der Unterscheidung auch eine kulturelle Dimension, die einen wichtigen Bezugspunkt für die Selbstdefinition bildet und gleichzeitig enge Bindungen und Solidarität untereinander schafft.[16] Dies gilt besonders für diejenigen Einheiten, die hohe Risiken getragen haben. In riskanten Einsätzen werden diese nicht nur zu bloßen "Handlungsgemeinschaften" im üblichen Sinne, sondern zu zeitlich befristeten "(Über-)Lebensgemeinschaften", die dabei helfen, gemeinsam Schwierigkeiten und Belastungen zu überstehen.[17]
Gewalterfahrungen aber prägen nicht allein den Horizont der direkt davon Betroffenen, sondern wirken auf das gesamte Kontingent. In asymmetrischen Einsatzszenarien wie in Afghanistan in denen Freund und Feind oftmals nicht klar zu unterscheiden sind, ist die Gefahr nicht allein auf die Kampfsituation begrenzt. Ein Anschlag kann zu jeder Zeit und an jedem Ort passieren. Der Einsatzalltag des Kontingents ist daher durch eine diffuse Bedrohung bestimmt, die auch jene empfinden, die während ihres gesamten Einsatzes das Lager nicht ein Mal verlassen haben.[18] Diese gemeinsame Bedrohungswahrnehmung bildet eine Klammer, die die verschiedenen Einheiten miteinander verbindet und einen übergeordneten, gemeinschaftlich geteilten Referenzrahmen für das gesamte Kontingent schafft, der sich auf Einstellungen und Orientierungen auswirkt.