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"Man wird doch noch mal sagen dürfen …" | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial "Man wird doch noch mal sagen dürfen …" Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus. Ein historischer Überblick Antisemitismus und Emotionen Antisemitische Einstellungen in Deutschland und Europa Vehementer Säkularismus als Antisemitismus? Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Antisemitismus

"Man wird doch noch mal sagen dürfen …" Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur - Essay

Lena Gorelik

/ 17 Minuten zu lesen

Antisemitismus ist ein Gefühl und ein Problem, das sich niemals erledigt haben wird. In den vergangenen Jahren scheint es, als würde er sich wieder an die Oberfläche kämpfen, aus dem Privaten in die Öffentlichkeit ausbrechen wollen unter dem Schutzmantel des Tabubruchs.

Das mit dem Antisemitismus ist so eine Sache. Eine fortwährende, langfristig angelegte, sich im Wandel befindende, aber eben auch eine unausrottbare Sache. Man kann als politischer, hinterfragender, bewusster Bürger einer demokratischen, meinungsfreien Gesellschaft, man muss sogar auf antisemitische Tendenzen hinweisen, gesellschaftliche Entwicklungen beobachten, kommentieren und den Antisemitismus – ebenso wie den Rassismus – zu bekämpfen versuchen. Und man darf sich, während man mit all dem beschäftigt ist, nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es Antisemitismus, in unterschiedlicher Form oder Quantität, immer geben wird. Dass Antisemitismus unausrottbar ist. Oder um es mit dem Lyriker Stanisław Jerzy Lec zu sagen: "Und der arme Hitler dachte, der Antisemitismus wäre allein Sache des Nationalsozialismus." Das nur schon einmal vorweg.

Wandelbarkeit des Antisemitismus

Von seiner Wandelbarkeit Gebrauch machend, verändert sich der Antisemitismus, passt sich den jeweiligen politischen Gesellschaftsformen, aktuellen Sprachcodes und der jeweils diskutierten Themen an, nimmt Strukturen an, mit denen er sich am besten tarnen kann – als das, was er niemals ist: Gesellschaftskritik beispielsweise, eine einzelne Meinungsäußerung, ein Ausdruck der Angst oder ein konstruktiver Beitrag zu einer politischen Debatte. Kurzum, er macht das, was Antisemiten den Juden seit jeher vorwerfen: sich heimtückisch anpassen, um sich dann, gemeinerweise, von hinten anzuschleichen.

Nach dem Holocaust stellten die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer berühmten Schrift "Elemente des Antisemitismus" die These auf, nach Auschwitz werde es nicht mehr möglich sein, sich offen zum Antisemitismus zu bekennen, und wiesen sogleich darauf hin, dass dies nicht gleichbedeutend mit einem Aussterben des Antisemitismus sei. Antisemitismus müsse sich also fortan, nach dem schrecklichsten aller schrecklichen Ereignisse, als unterdrücktes beziehungsweise nicht offen ausgelebtes Gefühl entfalten, als Wut und Ressentiment hinter verschlossenen Türen, vielleicht nur als unausgesprochenes Gedankengut. Ein Potpourri an Gefühlen, die von Verunsicherung über Angst bis hin zu Abscheu reichen und gerade durch die Notwendigkeit der Unterdrückung eine explosive und gefährliche Mischung darstellen. Es kommt sozusagen zu einer Privatisierung des Antisemitismus, der sich nur eruptiv, situativ und häufig subtil im öffentlichen Raum zeigt, deshalb so schwer zu greifen und deshalb auch gefährlich ist. Die tief verankerten Stereotype über Juden und Judentum tauchen beispielsweise in Sprechakten innerhalb des privaten Raums wie am berühmt-berüchtigten Stammtisch, in der Familie und vermehrt auf Schulhöfen auf, sind aber nicht als Bewegung fassbar.

Wie tief der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft verankert ist, zeigt jede neue Studie, die zu diesem Thema vorgelegt wird. Es gibt den Antisemitismus der Rechtsradikalen, es gibt den Antisemitismus der extremistischen Muslime, es gibt den Antisemitismus der Linken, die sich alle dank des Internets mit beunruhigender Schnelligkeit verbreiten. Es gibt aber auch eine "bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken", wie aus dem Bericht "Antisemitismus in Deutschland" hervorgeht, den ein unabhängiger Expertenkreis im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellt hat. Auswertungen unterschiedlicher Untersuchungen, die auf Meinungsumfragen unter der Bevölkerung basieren, ergeben, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland "latent" antisemitisch eingestellt sind. Damit nimmt Deutschland im europaweiten Vergleich einen Mittelplatz ein. Studien zeigen außerdem, dass negative Einstellungen gegenüber Juden in den vergangenen Jahren eher angestiegen als gesunken sind.

Unter dem Schutzmantel des Tabubruchs

Seit einigen Jahren lässt sich eine Entwicklung beobachten, die nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, nationalistische und fremdenfeindliche Einstellungen betrifft: Es scheint, als würden sie sich an die Oberfläche kämpfen, aus dem Privaten in die Öffentlichkeit ausbrechen wollen unter dem Schutzmantel des Tabubruchs und der Meinungsfreiheit. Gut erkennbar an dem einleitenden Satz: "Man wird doch noch mal sagen dürfen …" Oder auch, perfider noch, weil dieser postuliert, dass man ahnungslos und interessiert wie ein kleines Kind nur die Welt verstehen wolle: "Man wird doch noch mal fragen dürfen …" Dieses auftrumpfende "Man-wird-doch-noch-mal …" legt sich aber nicht wirklich kritisch mit dem Zeitgeist, mit dem Mainstream an, sondern profiliert sich an Vorurteilen, an Randgruppen, an denjenigen, die aus anderen Ländern kommen, anders aussehen, anders beten, anders leben, ihre Kinder anders zeugen, andere sexuelle Neigungen haben als die Mehrheit der Gesellschaft. Denn was anders – oder vermeintlich anders – ist, so scheint es manchmal, ist hierzulande nicht akzeptabel.

Da wundert es nicht, dass der Europarat rügt, Deutschland gehe nicht vehement genug gegen Rassismus und Intoleranz vor. Neu sind diese Debatten nicht, deren Semantik auch nicht. Neu sind jedoch die Angegriffenen und auch die Angreifer. Es sind nicht allein Stammtischler, die neuerdings diese Reden schwingen, nicht bloß Anhänger rechtsradikaler Parteien: Es sind einige von Deutschlands führenden Intellektuellen. "Man wird doch noch mal sagen dürfen" – ein Klassiker verlogener Selbstverteidigung, der aufkommende Empörung zur Seite wischen will, harmlos tuend und halbherzig entschuldigend, am besten den Spieß umdrehend, dass einem kritischen Geist wohl der Mund verboten werden solle.

Mit diesem Satz lässt sich auch hervorragend Kritik an der Politik und am Staat Israel einleiten, die knapp an der Grenze zu antisemitischen Ressentiments vorbeischrammt oder diese übertritt. Voraussetzung hierfür ist die These beziehungsweise der Vorwurf, man dürfe in Deutschland, als Deutscher, als Nachfahre des Tätervolks, die Politik eines Landes, das der Juden, nicht kritisieren, dürfe keine Meinung dazu äußern oder sogar haben, weil man für alle Ewigkeit als Schuldiger gekennzeichnet sei. Unfrei sei man in seiner politischen Meinung, könne nicht Kritik üben, wie man das bei anderen Ländern auch tue, auch an der eigenen Regierung.

Eine These, die spätestens widerlegt wird, wenn man einen Blick in die deutsche Presselandschaft wirft: Kaum ein Tag, an dem sich nicht ein Kommentar zu Ereignissen und Entscheidungen im Nahen Osten findet, kaum ein außenpolitischer Journalist, der seine Meinung zu diesem Thema noch nicht geäußert hat. Kaum jemand, der sich in privaten Diskussionen nicht zu Konflikten rund um Israel äußert. In diesen Diskussionen wird immer häufiger und mit immer mehr Selbstverständlichkeit eine Verknüpfung zwischen den Vorkommnissen im Nahen Osten und den Verbrechen der Nationalsozialisten hergestellt, immer mehr allgemeine Stereotype über Juden, die nichts mit der israelischen Regierung und deren Entscheidungen zu tun haben, und die teils die Schärfe rechtsradikaler Äußerungen erreichen, mischen sich in die Argumentationen, so verschiedene Studien.

"Was gesagt werden muss"

Es geht um die Wortwahl, es geht um die Art der Argumentation, es geht um eine ganz dünne Linie zwischen berechtigter und notwendiger Kritik an der Politik eines Landes und der Vermischung der Politik eines Landes mit Eigenschaften, die den in diesem Land lebenden Menschen zugeschrieben werden. Diese dünne Linie zu übertreten, ist ein Schritt Richtung Antisemitismus. Der wohl prominenteste und deshalb auch machtvollste Übertreter dieser Linie in den vergangen Jahren war der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, der am 4. April 2012 in den Tageszeitungen "Süddeutsche Zeitung", "La Repubblica" und "El País" ein Prosagedicht mit dem vielsagenden Titel "Was gesagt werden muss" veröffentlichte. Ein Titel, der sich wie ein Surrogat liest für "Man wird doch noch mal sagen dürfen". In dem Prosagedicht (eine Literaturgattung übrigens, mit der sich der zurecht hoch verehrte Schriftsteller bis dato nicht befasst hatte) führt Günter Grass außerordentlich klug vor, wie man nicht nur Israel auf antisemitische Weise kritisieren kann, sondern auch Kritikern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen versuchen kann, indem man bereits im veröffentlichten Gedicht darauf hinweist, ein Tabu zu brechen, sich der Gefahr, als Antisemit abgestempelt zu werden, bewusst zu sein. Grass geht sogar einen Schritt weiter und erinnert selbst daran, dass er Bürger und Nachfahre eines Landes ist, "das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird". Man könnte in diesem Zusammenhang also von Entlastungsantisemitismus sprechen.

Wie vom Urheber und den veröffentlichenden Blattmachern bereits im Vorfeld vermutet und gewollt, löste das Gedicht eine internationale, kontroverse Diskussion darüber aus, ob man den Staat Israel kritisieren darf und wann diese Kritik die Grenze zum Antisemitismus überschreitet. Auffällig war dabei die Diskrepanz zwischen den meist kritischen Stellungnahmen zum Gedicht in den Medien, den Kommentaren in den Leserbriefen, die Grass als einem Deutschen, der endlich einen Tabubruch gewagt hat, applaudierten, sowie den offen antisemitischen Äußerungen unter Artikeln im Internet, die auf die Debatte Bezug nahmen. Während Günter Grass von zahlreichen Literatenkollegen kritisiert wurde (so sagte zum Beispiel die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die das Gedicht auch formal auseinandernahm: "Er ist ja nicht ganz neutral. Wenn man mal in der SS-Uniform gekämpft hat, ist man nicht mehr in der Lage, neutral zu urteilen.") und auch seitens der deutschen Leitmedien angefochten wurde (so warf FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher dem "Meister der Sprache" vor, Begriffe wie zum Beispiel "Überlebende" "assoziativ" aufzurufen), wurde er von einem prominenten Meinungsmacher dieses Landes verteidigt, dem ein paar Monate später selbst Antisemitismus vorgeworfen werden sollte.

Jakob Augstein, Journalist und Verleger, anerkannter Sohn des "Spiegel"-Begründers Rudolf Augstein und leiblicher Sohn des Schriftstellers Martin Walser, Chefredakteur der Wochenzeitung "Der Freitag" und Kolumnist auf "Spiegel Online", befand zwar, dass das Gedicht "Was gesagt werden muss" aus literarischer Sicht nicht groß sei, kommentierte aber folgende Zeile von Grass "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden" mit den Worten: "Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen." Der Journalist, der sich beim Literaten für einen vermeintlichen Tabubruch bedankte, landete auf der Negativliste des Simon-Wiesenthal-Centers, in der "Top-Ten" antisemitischer und antiisraelischer Verunglimpfungen für 2012 auf dem neunten Rang, was zu Empörung in der deutschen Presselandschaft führte. Diese Empörung – neben Augstein fanden sich auf der Liste unter anderem Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft und die iranische Regierung um Mahmud Ahmadinedschad – ist verständlich.

Nichtsdestotrotz kann und muss man diskutieren, warum Jakob Augstein bei der Beschreibung von Gaza auf aus anderen Zusammenhängen entliehene Begriffe wie "Lager" zurückgreifen muss. Bei Literaturnobelpreisträgern, Journalisten und Publizisten, die, so möchte man annehmen, das Wort und das Spiel mit Worten lieben und auch beherrschen, darf man erwarten, dass sie sich genau, und zwar ganz genau, überlegen, mit welchen Begriffen sie, erst recht bei brisanten Themen, um sich werfen. Auch hier gibt es eine dünne Linie zwischen Begriffen, die akzeptabel sind, und jenen, die den Eigenschaftszuschreibungen zuzurechnen sind, die den Antisemitismus kennzeichnen, wenn sie die Juden (und hierfür muss vorab der Staat Israel mit dem jüdischen Volk gleichgesetzt werden) als machthungrig, gefährlich, hinterhältig, zerstörerisch, verschwörerisch, nachtragend oder geldgierig beschreiben. Dazwischen, auf der ganz dünnen Linie, stehen all jene Begriffe und Bilder, die nicht per se antisemitisch sind, aber jederzeit so aufgeladen, interpretiert und aufgenommen werden können.

Provokation oder Naivität?

Spricht man von deutschen Massenmedien und Antisemitismus, kommt man nicht umhin, die "Süddeutsche Zeitung" zu erwähnen, die nicht nur mit der Veröffentlichung des Grass-Gedichts für Aufsehen sorgte. Antisemitische Klischees tauchten auch an anderer Stelle auf und zwar in solch eindeutiger und klassischer Weise, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man den Urheber für unverschämt provokant oder gnadenlos naiv halten darf.

Man gibt sich Mühe, den zweiten Weg zu gehen und der Naivität Glauben zu schenken, wenn zum Beispiel der Karikaturist Burkhard Mohr nach der Veröffentlichung erklärt, ihm sei gar nicht aufgefallen, dass er "eine antijüdische Hetzzeichung" fabriziert habe. Man gibt sich wirklich Mühe, diesen zweiten Weg zu gehen und der Naivität Glauben zu schenken, der Tatsache Glauben zu schenken, dass dem Karikaturisten einer der größten deutschen Tageszeitungen beim Zeichnen nicht aufgefallen ist, dass er dem (jüdischen) Facebook-Chef Marc Zuckerberg eine ausgeprägte Hakennase zeichnete, wie man sie zuletzt im "Stürmer" bewundern durfte. Dass die Krakenarme (ja, Marc Zuckerberg, der jüdische Unternehmer, der WhatsApp aufgekauft hat, ist als vielarmige Krake dargestellt), die sofort an Schläfenlocken orthodoxer Juden denken lassen, ein Zufallsprodukt sind, über die sich der Zeichner nicht nur keine Gedanken gemacht hat, sondern die ihm auch beim wiederholten Anschauen der Zeichnung – und davon ist doch auszugehen, dass ein Karikaturist einer der größten deutschen Tageszeitungen seine Zeichnung noch einmal anschaut, die letzten Handgriffe ausführt, bevor er sie für den Druck freigibt – nicht aufgefallen sind. Die fleischigen Lippen, das lockige Haar und das lüsterne Grinsen, das man aus klassischen antisemitischen Zeichnungen kennt, sind dem Zeichner ebenso unbemerkt geblieben. Immerhin fielen sie einem der anderen Redakteure ein paar Stunden später auf, man ließ die Druckmaschinen anhalten und die Zeichnung insofern verändern, dass statt des Gesichts ein leerer Bildschirm erschien. Zu spät war es allerdings für die Fernauflage an jenem Tag gewesen.

Man geht also den Weg, der Naivität Glauben schenken zu wollen, und stolpert spätestens über die Tatsache, dass die Karikatur von leitenden Redakteuren abgenommen worden sein muss, und kann nicht anders, als das Ganze als Spiel anzusehen. Es ist ein Spiel, das kleine Kinder gerne spielen: Wie weit kann ich gehen? Wo ist die Grenze? Und was passiert, wenn ich sie übertrete? Es ist ein Spiel, das die "Süddeutsche Zeitung" nicht zum ersten Mal spielt: Bereits einige Monate zuvor illustrierte die Zeitung Texte über die Entwicklung des Zionismus mit dem Bild eines gehörnten Monsters von Ernst Kahl, das in der einen Hand eine Gabel, in der anderen ein Messer hält, bereit aufzufressen. Was aufzufressen? Die Welt natürlich. Der dazugehörige Text handelte von allzu günstigen deutschen Waffenlieferungen an Israel. Nach darauf folgenden empörten Reaktionen wurde versichert, man werde "sehr darauf achten, dass sich ein solcher Fehler nicht wiederholt". Es dauerte dann immerhin fast acht Monate, bis der Marc Zuckerberg-Krake in derselben Zeitung erschien.

Man fragt sich, was schlimmer ist: der beabsichtigte oder der unbeabsichtigte Antisemitismus? Der, mit dem man gespielt hat, weil man überprüfen wollte, wo die Grenzen liegen, ob sie sich verschoben haben, in acht Monaten, in den vergangenen Jahren? Oder der, den man selbst nicht bemerkt, weil die Stereotype so sehr zum eigenen Weltverständnis gehören, dass man sie gar nicht mehr in Frage stellt?

Gemisch aus Wut, Angst und Stereotypen

Wenn es darum geht, vermeintliche Tabus zu brechen, endlich mal etwas sagen zu dürfen, was man angeblich nicht mehr sagen durfte, vermischen sich Themen, Argumente und auch Stereotype, bis alles dem einzigen "Man wird doch noch mal sagen dürfen"-Gefühl untergeordnet wird und Phänomene wie Antisemitismus, Homophobie und Islamhass, Frauenfeindlichkeit, Rassenkunde und Eugenik als salonfähig rekonstruiert werden.

Dieses Gemisch aus Wut, Angst und Stereotypen, in dem sie ungefiltert und teils ungeteilt voneinander landen, äußert sich zum Beispiel in Phänomenen wie jenen, die sich als neue "Montagsdemonstrationen" oder "Montags-Mahnwachen für den Frieden" bezeichnen: Jeder, der unzufrieden ist, seien es linke Altstalinisten oder rechte Reichsbürger, die die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen, seien es Verschwörungstheoretiker oder Neonazis, versammelt sich, um gegen alles und jeden zu demonstrieren, ein bisschen gegen das Kapital, ein bisschen gegen die USA, ein bisschen gegen die "jüdische Weltverschwörung", ein bisschen gegen die CIA, ein bisschen gegen alles. Angeheizt werden die "Montagsdemonstranten" von Ken Jebsen, ehemaliger Radiomoderator beim RBB, 2011 wegen des Vorwurfs der Holocaust-Verharmlosung in die Schlagzeilen geraten und vom RBB kurz darauf entlassen, der auf YouTube über 50000 Abonnenten hat. "Wir sind das Volk", "Für Frieden mit Russland" oder "Gegen die Todespolitik der Federal Reserve Bank" steht auf den Plakaten der Demonstranten, und was sie eint, ist nicht eine politische Idee, sondern eine diffuse Angst, eine Unzufriedenheit, möglicherweise auch ein Unverständnis der immer komplexer werdenden Weltpolitik.

Es sind genau diese Ängste, an die die vielen rechtsradikalen und populistischen Parteien bei den Europawahlen erfolgreich anknüpften. Diffuse Ängste aber, das hat die Geschichte schon häufig gezeigt, brauchen, um dem Ausgeliefertsein dieser zu entfliehen, einen Sündenbock, an dem sie sich entladen können. "Andere", Menschen, die anders aussehen, denken, leben oder beten, eignen sich am besten als ein solcher Sündenbock. Juden bekanntermaßen auch und vielleicht sogar besonders. Man schließt sich solchen Bewegungen nicht an, weil einen die (zumeist nicht vorhandenen) politischen Ziele interessieren, man schließt sich an, weil einen Entwicklungen und Vorgänge in der Gesellschaft ängstigen. Und man doch nur mal seine Meinung sagen möchte. Und wenn dann einer der Organisatoren der sogenannten Montagsdemonstrationen in einem Interview erklärt, an allen Kriegen der vergangenen Jahre sei ausschließlich die US-Notenbank Federal Reserve schuld, und den Satz nachschiebt, bei der FED handele es sich um eine Privatbank, was in rechtsradikalen Kreisen encodiert bedeutet, dass das jüdische Finanzkapital die Ursache allen Übels in der Welt ist, so darf diese Tatsache nicht überraschen.

Dieselbe Schlussfolgerung aus den diffusen Ängsten hatte sich teilweise auch durch die Occupy-Bewegung gezogen. Der Hass auf das Kapital stellt selbstverständlich auch die Frage nach der Herkunft ebendieses Kapitals. Und das Kapital liegt ja bekanntermaßen, wo denn auch sonst, bei den Juden. Weshalb man auf den Plakaten der Occupy-Demonstranten in New York Slogans wie die folgenden fand: "Google: Jewish Billionaires", "Humanity vs. the Rothschilds" oder "Its Yom Kippur – banks should atone". Und die Occupy-Bewegung in Deutschland wurde von Teilen der antiisraelischen und antiamerikanischen Infokrieger- und Truther-Szene mitbestimmt.

Im Internet, auf Schulhöfen, in Fanbussen

Am 29. Mai 2010 gewann Lena Meyer-Landrut den Eurovision Song Contest in Oslo. Sobald bekannt wurde, dass aus Israel keine Punkte für die deutsche Sängerin abgefallen waren (im Übrigen hatte der israelische Beitrag von deutscher Seite auch keine Punkte erhalten), tauchten bei Twitter, in Blogs und Internetforen böse und eindeutig antisemitische Kommentare auf, die nahelegten, dass "die Juden" endlich mal über den Holocaust hinwegkommen sollten. Das Internet, insbesondere soziale Netzwerke wie Facebook, trägt immer mehr zur Verbreitung von antisemitischen Ressentiments und offenen Bekenntnissen wie zum Beispiel "Nur ein toter Jude ist ein guter Jude" bei.

Dass sich "Schimpfwörter" wie "Du Jude!", das auf derselben Stufe wie "Du Opfer!" steht, immer stärker auf Schulhöfen etablieren, ist nicht zuletzt auch dem Umgang so mancher Idole der betreffenden Jugendlichen mit dem Thema Judentum zu verdanken. An erster Stelle zu nennen ist da der immer wieder in die Schlagzeilen wiederkehrende Rapper Bushido, der unter anderem als Profilbild bei Twitter eine stilisierte Landkarte gewählt hatte, die das Staatsgebiet Israels in den palästinensischen Farben mit dem Schriftzug "Free Palestine", somit den Nahen Osten ohne Israel zeigte.

Zu erwähnen sei hier, dass Bushido, der als Vorbild vor allem auch für muslimische Jugendliche gilt, 2011 noch mit einem Bambi für "gelungene Integration" ausgezeichnet wurde. Dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sogleich dazu Stellung bezog und Bushido vorwarf, Hass zu säen, und dass Bushidos einzige Antwort auf die entfachte Empörungswelle der Tweet "Bambi zu verkaufen" war, dürfte zu seiner Popularität und seinem Coolness-Grad auf Schulhöfen durchaus beigetragen haben.

In den vergangenen Jahren hat eine umfassende Verbreitung vom RechtsRock außerhalb der rechtsextremen Szene, insbesondere auf Schulhöfen, zu einer Bekanntmachung bestimmter Stereotype, Codes, Zeichensprachen und Chiffren beigetragen, die zuvor nur im einschlägigen Milieu bekannt waren. Jugendliche neigen dazu, diese zu übernehmen, ohne sie infrage zu stellen und auch ohne sich selbst einer rechtsextremen Orientierung zuzuordnen. Antisemitische Inhalte tauchen aber auch bei Musikgruppen auf, die nicht per se dem rechten Milieu zugerechnet werden können. Als Beispiel hierfür sei die Dark-Metal-Band "Inquisition" zu nennen, unter deren Musikstücken sich beispielsweise auch das Lied "Crush the Jewish Prophet" findet.

Antisemitische Vorstellungen finden selbstverständlich auch durch Bücher den Weg in die Köpfe von Jugendlichen und Schülern, die die Argumentationen und Denkstrukturen des Gelesenen häufig einfach übernehmen. So beispielsweise aus dem Jugendroman "Palästina – Träume zwischen den Fronten" der Italienerin Randy Ghazy, der den Nahost-Konflikt einseitig aus palästinensischer Sicht darstellt und darin mit antisemitischen Stereotypen wie der Ritualmordlegende und der Vorstellung von der jüdischen Rachsucht spielt. Nun hat eine Schriftstellerin selbstverständlich das Recht, jeden Konflikt dieser Welt einseitig darzustellen; vorsichtig sein sollten hingegen die zahlreichen Bildungsportale, die diesen Roman für Jugendliche ab 12 Jahren, die sich für den Nahost-Konflikt interessieren, als Lektüre empfehlen.

Auch in Teilen der Fußballkultur scheinen Antisemitismus und Rassismus zum Alltag zu gehören und von Fans kaum infrage gestellt zu werden. Sätze wie "Juden gehören in die Gaskammer", "Auschwitz ist wieder da" und "Synagogen müssen brennen" sind bei Wettkämpfen in der Regionalliga zu hören; der Journalist Florian Schubert beschreibt, wie er bei einer Fahrt zu einem Auswärtsspiel der deutschen Nationalmannschaft bereits im Bus die Frage gehört habe: "Wer hebt die Hand zum Deutschen Gruß?", und dass "Schimpfwörter" wie "Kanake" und "Neger" zum allgemeinen Sprachgebrauch gehörten.

Fazit

Theodor W. Adorno sagte einst, der Antisemitismus sei eine Wahnidee, ein "Gerücht über die Juden". Antisemitismus ist ein Gefühl und ein Problem, das sich niemals erledigt haben wird, weil er zum europäischen Kulturerbe gehört. Weil es ein Gefühl ist, das aufsteigen und sich beruhigen kann, wie Gefühle das eben an sich haben. Weil das Gefühl nur in Ausnahmefällen mit tatsächlichen Ereignissen oder real gekannten Menschen zu tun hat, sondern vielmehr mit dem, was Ereignisse und Menschen in einem auslösen. Antisemiten müssen und werden in einer liberalen Gesellschaft, in einer meinungsfreien Demokratie geduldet werden müssen, wie Homophobe und Chauvinisten auch.

Auf der anderen Seite wird man ihnen begegnen müssen. Man kann ihnen mit Gegenargumenten begegnen, man kann ihnen begegnen, indem man sie und antisemitische Sprechcodes und Tendenzen entlarvt. Man kann ihnen begegnen, indem man sie bloßstellt. Und den Spieß umdreht. Wie zum Beispiel der jüdische Komiker Oliver Polak, der unter dem Credo "Ich darf das, ich bin Jude" durch Deutschland tourt und Hallen füllt mit Sprüchen wie "Sie schauen so verwundert, hier, da links. Sie fragen sich vermutlich: Ist ja komisch. Juden dürfen wieder auftreten? In Deutschland? Wusste ich noch gar nicht. Da haben Sie sich gedacht: Gehe ich mal schnell hin und schaue mir einen an. Bevor es zu spät ist!"

M.A., geb. 1981; Journalistin und Schriftstellerin; zuletzt erschienen: "Die Listensammlerin" (2014). Externer Link: http://www.lenagorelik.de