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Manga ist nicht gleich Manga: Plädoyer für eine Differenzierung | Comics | bpb.de

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Manga ist nicht gleich Manga: Plädoyer für eine Differenzierung

Jaqueline Berndt

/ 14 Minuten zu lesen

Sieben Monate nach der Dreifach-Katastrophe vom 3. März 2011 erschien in Japan ein Taschenbuch mit dem Titel "Komikku: Mienai kumo" ("Comic: Die unsichtbare Wolke"). Es handelte sich dabei um Anike Hages preisgekrönte Comicadaption von Gudrun Pausewangs 1987 erschienenem Roman "Die Wolke". Wie die meisten Arbeiten der 1985 geborenen Zeichnerin empfiehlt sich diese durch Figurendesign, Seitenlayout und Rasterfolien-Einsatz sowie durch den Verlagsnamen Tokyopop auf dem deutschen Buchdeckel auf den ersten Blick als Manga. Aber im Unterschied zu anderen deutschen Comics im Mangastil folgte "Die Wolke" ursprünglich nicht der japanischen Leserichtung von rechts nach links. Erst für die Übersetzung wurden die Seiten gekontert und die Schriftzeilen von der Horizontalen in die Vertikale überführt. In möglichst eingängiger Form sollte offenbar noch einmal die Romanübersetzung beworben werden, die seit den späten 1980er Jahren in Japan mehrfach aufgelegt worden war. Doch das Publikum reagierte mit Distanz, sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der Form. Leserinnen und Leser, die "Die Wolke" als Manga nicht überzeugend fanden, legten unverkennbar den Maßstab des shōjo manga – der japanischen Mädchencomics – an, wenn sie beanstandeten, dass die Mimik zu wenig Aufschluss über das Innenleben der Charaktere gebe. Eine solche Kategorisierung als "weiblich" kommt nicht von ungefähr: "Die Wolke" stammt schließlich aus der Feder einer Frau, erzählt die Geschehnisse aus der Sicht eines 15-jährigen Mädchens, und das erste Bild zeigt das Gesicht der Hauptfigur sowie Blüten, die sowohl dekorativ verstanden werden können als auch referenziell als Verweis auf die Natur außerhalb des Klassenzimmers (vgl. Abbildung 1).

Ob "Die Wolke" sich in Japan als Manga behaupten kann oder soll, sei dahingestellt. Doch verdeutlicht die Rezeption der japanischen Übersetzungsausgabe einige Aspekte, die außerhalb der Mangakultur leicht übersehen werden – sogar in Japan. Sie erschien beim auch als Mangaverlag bekannten Haus Shōgakukan, doch war dort keine Mangaredaktion zuständig, sondern diejenige für ausländische Literatur, die auch Pausewangs Roman betreut. Dass Manga einer sorgfältigen Kontextualisierung bedürfen, um Nicht-Romanleser zu erreichen, war der Redaktion vielleicht sogar bewusst, als sie sich für ein manga-untypisches Kleinformat entschied und dem Titel das Lehnwort komikku hinzufügte. Beides signalisiert, dass es sich hier nicht um das vertraute genrespezifische Konsumgut, aber doch immerhin um eine Bilderzählung und damit um eine Jugendlichen zugängliche Form handelt. Die Annahme, ein kritisches Thema könne durch den bloßen Rückgriff auf die Comicform besser transportiert werden, bestätigte sich allerdings nicht. Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

Erstens sprechen unbewegte, tonlose und monochrome Bilder junge Menschen nicht mehr unbedingt an. Zumindest in Asien ist die gedruckte Mangaerzählung dabei, das Terrain der Jugendkultur zugunsten digitaler Medien zu räumen. Bereits 2005 soll das Durchschnittsalter der Konsumentinnen und Konsumenten von Mangamagazinen wie "Young Jump" und "Big Comic Spirits" bei über 30 Jahren gelegen haben.

Abbildung 1 (© Anike Hage, Gudrun Pausewang, Komikku mienai kumo, Tokyo 2011, S. 14.)

Zweitens gehen viele Jugendliche heutzutage eher als user denn als klassische Leser mit Manga um. Abgesehen davon, dass sie normalerweise eher mit Anime (Zeichentrickserien) und Video- beziehungsweise Computerspielen als mit Comics in Berührung kommen, interessieren sie die gezeichneten Erzählungen nicht nur als Kontemplationsvorlagen. Bereits die cartoonesken Gesichter der Charaktere und der Verzicht auf detaillierte Hintergründe, die "organisierte Leere", laden zum imaginativen wie zum wortwörtlichen Ausmalen ein: Leser schreiben Geschichten um beziehungsweise weiter und werden mittels fan art, Online-Kommentaren und Cosplay (Mangarollenspiel) zu Mitgestalterinnen und Mitgestaltern. Darauf beruht seit mindestens einem Jahrzehnt der Erfolg ganz bestimmter Mangatitel bei jugendlichen Lesern. Am populärsten sind offensichtlich solche, die eine gewisse – auch inhaltliche – "Leere" aufweisen und sich somit für verschiedene Gebrauchsweisen eignen. Bei diesen Titeln geht es nicht nur um Bedeutungsgehalte und Lektüreerlebnisse, sondern mindestens im gleichen Maße um sinnlich-affektive, fankulturelle und marktwirtschaftliche Effekte. Solche Manga in den Dienst eines sozialkritischen Themas zu stellen, liegt nicht unbedingt auf der Hand.

Drittens ist beim Manga neben den Lesergruppen mit ihren unterschiedlichen Nutzungsweisen und Qualitätskriterien die Kategorisierung von Titeln nach Genres entscheidend. Auf Deutsch profiliert sich Anike Hages Comicadaption einerseits durch ihre Unterscheidung von der Romanvorlage und andererseits durch ihren Kontrast zur nordamerikanischen und franko-belgischen Comictradition. Das Publikationsformat des tankōbon – broschierte Bücher mit etwa 200 Seiten in einem Format von 12 mal 18 Zentimetern –, der Verzicht auf Kolorierung, die Konzentration auf Gesichter und damit auf die Gefühle der Figuren sowie die im Gegensatz dazu eher abstrakt bleibenden Räume sind Alleinstellungsmerkmale, die dazu verleiten, den Manga als ein Comicgenre neben anderen zu sehen. Insider halten dagegen, dass Manga ein Medium mit einer Vielzahl von Genres sei. Natürlich gibt es Werke aus japanischer Produktion, die sich jeglicher Konvention zu entziehen versuchen. Aber das, was von außen betrachtet unterschiedslos als Manga erscheinen mag, wird in Japan nochmals unterteilt. Versierte Leser weisen einem Comic im Mangastil wie "Die Wolke" unwillkürlich eine entsprechende Position zu – shōjo manga in diesem Fall.

Vielfalt an Genres

Der shōjo manga gehört mit dem shōnen manga – den Jungencomics –, dem josei manga für Frauen und dem seinen manga für junge Männer zu den grundlegenden, nach Geschlecht und Alter unterteilten Genres, wie sie sich durch spezialisierte Monats- und Wochenmagazine seit den späten 1950er Jahren in Japan etabliert haben. Geschlechtlich konnotiert sind die traditionellen Genres vor allem durch Publikationsort und Stilistik, was nicht heißt, dass "männliche" Serien ausschließlich von Männern gelesen werden. Doch sind es eher Leserinnen, die Genregrenzen überschreiten, entweder indem sie bestimmte Manga – vor allem Seinen-Titel – als universales "Werk" beziehungsweise Graphic Novel lesen oder heteronormative Jungengeschichten parodierend in homosexuelle Romanzen umdeuten. Diese fankulturellen Aktivitäten haben seit den 1980er Jahren ein neues Genre hervorgebracht, das mittlerweile als boys love bekannt ist.

Ergänzt um ebendiese thematische Kategorie hält sich im deutschsprachigen Raum vor allem der Verlag Tokyopop an die traditionellen japanischen Genres. Carlsen hingegen lehnt sich mit den Kategorien Action, Fantasy, Mystery, Comedy, Science Fiction, History, Romance und Erotika an Nordamerika an, was dazu führt, dass einige Titel in verschiedenen Kategorien gleichzeitig auftauchen. Wenn in Japan thematisch klassifiziert wird, dann vor allem in Horror, Science Fiction und Gag. Konventionelle Manga zeichnen sich tendenziell dadurch aus, dass sie Elemente thematischer Genres munter mischen: So wechselt Ikeda Riyokos Shōjo-Klassiker "Die Rosen von Versailles" unvermittelt vom romantischen Register in den cartoonesken Slapstick und schiebt sogar noch historiografische Erklärungen zur Französischen Revolution ein. Erotika wiederum verbinden die eigentlichen Sexszenen gern mit Comedy, Action oder Fantasy.

Mit der Konzentration auf thematische Genres rückt die ursprüngliche Zielgruppe in den Hintergrund. Diese ist jedoch für Produktion und Rezeption ausschlaggebend, solange die Mangamagazine das Rückgrat der Industrie bilden, und sie hinterlässt als solche Spuren in den Erzählungen selbst. In der Mangaforschung werden daher nicht nur Titel sowie Zeichnerin oder Zeichner eines Werkes angegeben, sondern auch der Ort der Erstserialisierung, also das entsprechende Magazin, weil dieses Aufschluss über die ursprünglichen Rahmenbedingungen erlaubt: von Genreprofil und Auflagenhöhe bis hin zum oft arbeitsteiligen Wechselverhältnis verschiedener Serien im gleichen Heft. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Mangamagazine Zeichnern ein Grundeinkommen gesichert und ihrer Leserschaft die Möglichkeit der Beteiligung geboten. Welchen Verlauf Langserien nehmen, entscheiden oft das Publikum und die als Dramaturgen wie Produzenten wirkenden Redakteurinnen und Redakteure.

Dieses Beziehungsgeflecht gerät aus dem Blick, wenn Manga ausschließlich in der Buchform des tankōbon zirkulieren, wie es außerhalb Japans ohnehin und aufgrund des informationsgesellschaftlichen Wandels zunehmend auch in Japan selbst geschieht. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hatte sich die Buchausgabe als Zweitverwertung etabliert, doch mittlerweile beginnt sie, Primärstatus zu erlangen. Das hat Vor- und Nachteile. Wenn das Magazin mit seinem gewissermaßen katalogartigen Überblick an Bedeutung verliert, fällt es schwerer, Aufmerksamkeit für bestimmte Titel zu wecken, beispielsweise für einen Comic wie "Die Wolke". Im Gegenzug wiederum werden die alters- und geschlechtsbezogenen Grenzen durchlässiger. Das Format des gedruckten Buches befördert aber auch die Illusion, die jeweilige Erzählung sei relativ autonom und eine Lektüre für jedermann. Wenn beispielsweise ein deutscher Leser, der noch nie etwas von boys love gehört hat, zum ersten Mal in einen solchen Manga hineinliest, mag er die dafür stereotype Paarung von halbwüchsigem Verführer (seme) und erwachsenem Verführten (uke) als politisch inkorrekt verstehen, ohne auch nur im Geringsten zu merken, dass er das Produkt einer heterosexuell weiblichen Fankultur in den Händen hält.

Neben den Genres, die die Mangamagazine mit ihrem Fokus auf serielle Erzählungen vorgeben, zirkulieren Sachcomics – gakushū manga – vorrangig in Buchform, wenngleich nicht in der des tankōbon. Die meisten gakushū manga stammen von unbekannten Zeichnern, was neben der oft hölzernen Umsetzung des vorgegebenen Inhalts bewirkt, dass sie vom Stammpublikum nicht als Manga im eigentlichen Sinne wahrgenommen werden. Dazu zählen beispielsweise Tsuboi Kohs von japanologischer Seite gelobte Version der "Geschichte des Prinzen Genji" ebenso wie die Edition "Manga de dokuha", in der ein anonymes Kollektiv im Monatsrhythmus Literaturadaptionen beziehungsweise Inhaltszusammenfassungen von literarischen und anderen Werken vorlegt, unter dem Motto: "Jeder kennt es, aber wer hat’s schon gelesen?!"

Dem Sachcomic teilweise verwandt ist das neue Genre des Essaymanga. Um 1990 entstanden, hat er sich in den vergangenen Jahren als Erwachsenencomic etabliert. In einfachen vertikalen Reihen und über jeweils wenige Seiten hinweg wird ironisch aus dem Alltag erzählt – zum Beispiel von einem depressiven und deshalb arbeitsunfähigen Ehemann, einer starken Ehefrau, die gleich nach dem 11. März 2011 die sozialen Netzwerke konsultiert statt den offiziellen Verlautbarungen zu trauen, oder aus dem Leben mit einer hochbetagten und dementen Mutter. Der aus den Zeitungen fast verschwundene cartooneske Comicstrip mit seiner alters- und geschlechtsunabhängigen Zielgruppe scheint mit den Essaymanga wiederzukehren, nur diesmal autobiografisch gefärbt und an anderem Ort: in Frauenzeitschriften, Stadtmagazinen, als Nachwort beziehungsweise Bonusepisode zu Mangabuchbänden, manchmal sogar als Serie in Seinen-Magazinen. Weder handlungsbetont wie der klassische Jugendmanga noch an dessen Publikationsformate gebunden, weist dieses Genre dem Manga einen Weg in die Zukunft, zumindest innerhalb Japans.

Mit Blick über Japan hinaus ist auch eine andere Genreeinteilung denkbar. In Übersetzungen sind weltweit vor allem drei Arten von Manga zugänglich. Die erste, die auch die meist verbreitete Vorstellung des Manga prägt, umfasst erfolgreiche Langserien für Jugendliche. Seit "Dragon Ball" und "Sailor Moon" in den späten 1990er Jahren den Boom auslösten, steht "Manga" gemeinhin für Hauptfiguren mit hohem Niedlichkeitsfaktor, eine hochgradig kodifizierte Bildsprache und narrative Strukturen, die letztlich an Video- oder Computerspiele erinnern. Dieser Manga ist Medium einer partizipativen Kultur. Schon Scott McCloud hat in seinem dritten Metacomic festgestellt, dass all die spezifischen Erzähltechniken – von den bevorzugt ins Bild gesetzten Gesichtern über die subjektive Bewegung bis hin zum alltäglichen Detail – vor allem einem Zweck dienen: der Einbeziehung des Lesers. Dessen Teilhabe reicht von Einfühlung und Immersion über die Bildung fankultureller Gemeinschaften und die Ausgestaltung virtueller Universen bis hin zur Professionalisierung von Zeichnern, die nicht aus Japan stammen und nicht unbedingt eine Karriere auf dem japanischen Markt anstreben – auch "Global Manga" genannt. Professionalität setzt aber nicht mehr allein die Anbindung an große Medienunternehmen voraus. Manche Zeichnerinnen verdienen heute ihren Lebensunterhalt vorrangig mit Fanzines (dōjinshi), und diese Eigenpublikationen erreichen ästhetisch wie drucktechnisch mittlerweile ein Niveau, das ihre Bezeichnung als "Amateurmanga" obsolet erscheinen lässt, was nicht nur für originale, neu entworfene Geschichten gilt, sondern auch für Derivate, die an Bestsellern ansetzen und diese fortschreiben. Die "offiziellen" Magazine versuchen ohnehin schon länger, die fankulturelle Zweitverwertung in ihre Planung einzubeziehen. Angesichts dieses Wechselverhältnisses kann bei Manga der ersten Art nicht mehr säuberlich zwischen Verlags- und Eigenpublikationen unterschieden oder gar hierarchisiert werden.

Die zweite Art des Manga wird von den Anhängerinnen und Anhängern der ersten nicht unbedingt als "richtiger" Manga akzeptiert, dafür aber von Comicexpertinnen und -experten geschätzt, die mit den US-amerikanischen Underground-Comics und den neueren Alternative Comics vertraut sind. Zu dieser Gruppe zählen sowohl die schockierend-provokanten Arbeiten eines Maruo Suehiro als auch Tatsumi Yoshihiros gekiga – Kurzgeschichten für erwachsene (männliche) Leser, die authentischer und sozialkritischer wirken als der Mainstream des Jugendmanga und in Ausrichtung auf das andere Publikum auch in westlicher Leserichtung gedruckt werden.

Manga dieser Art führt Carlsen als Graphic Novel, dabei würde die Bezeichnung besser auf ruhig erzählte und sorgfältig durchkonzipierte Geschichten passen, wie jene von Taniguchi Jirō, Asano Inio, Nananan Kiriko, Takano Fumiko oder Igarashi Daisuke. Unspektakulär im besten Sinne, also weder dem radikalen künstlerischen Experiment noch dem Dienste an der Fankultur zugeneigt, überzeugen diese Comics als Erzählungen. Von einem dritten Weg könnte man sprechen, brächte man damit nicht den alten Gegensatz von Avantgarde und Kulturindustrie ins Spiel. Dieses aber trifft auf Japans Mangakultur nur bedingt zu, denn hier wird eher zusammengeführt als getrennt, spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre. Damals fand das produktive Wechselverhältnis zwischen major und minor, wie es auf Japanisch heißt, ein Ende. Minoritäre und radikale Comics waren seit 1964 beispielsweise im alternativen Monatsmagazin "Garo" beheimatet, dessen Auflage nach 25 Jahren allerdings nur noch bei etwa 3000 Exemplaren lag. Kurz nach dessen endgültiger Einstellung 2002 wurde "Ikki" gestartet, das gewissermaßen den "dritten Weg" verkörperte und viele der oben genannten Zeichner als erstes vorstellte.

Stilistische Vielseitigkeit

Fans unterstreichen gerne die Vielfalt, die japanische Comics zu bieten haben, und meinen dabei vor allem die Erzählinhalte und Hauptfiguren, doch von außen betrachtet stellen sich Manga oft als gleichförmig dar: Die Fan-Kreationen scheinen sich bildlich kaum voneinander zu unterscheiden; die Frauenfiguren, insbesondere in "weiblichen" Genres, wirken oft wie Variationen ein und desselben Typs. Atemberaubend lange Beine im Wechsel mit extrem gestauchten, super-deformierten Körpern (chibi), nur vermeintlich blonde Haare, kleine Näschen und vor allem unrealistische "Suppenteller-Augen" signalisieren eine unverkennbare Identität. Folgerichtig wird die "japanische Mangaästhetik" mit ihrer Konventionalität "unserem westlichen Comicverständnis" entgegengesetzt. Dabei trifft der einheitliche Look weitaus mehr auf Anime zu als auf den persönlicheren und zudem weniger kostenaufwendigen Manga mit seiner Bandbreite an Strichformen: Bereits am Strich entscheidet sich, ob ein Leser eher zu diesem oder jenem Manga greift. Die kräftigere, mehr Körperlichkeit suggerierende Linie des gekiga mag jüngere Leserinnen verprellen, die tendenziell gleichmäßigere, feinere Linie des shōjo manga männliche Leser abschrecken. Doch während man meist unbewusst auf den Strich reagiert oder trotz anfänglicher Irritation auf allmähliche Gewöhnung vertrauen kann, fordern die Gesichter der Figuren zu einem klaren Dafür oder Dagegen heraus: Von einer Erzählung, deren Hauptfiguren mit großen blinkenden Augen die Druckseite beherrschen, erwartet man normalerweise keinen Bezug auf soziale Probleme.

Abbildung 2 (© Quelle: Sugiura Hinako, Yukino, in: dies., Futatsu makura, Tokyo 2010, S. 99, erstmals in: Garo vom Oktober 1981.)

Außerhalb Japans werden große Mangaaugen von der Comicforschung sowie in den Feuilletons meist im referenziellem Sinne verstanden, beispielsweise als Anzeichen einer tiefsitzenden Sehnsucht nach dem "Westen". Mancher sieht sie als konventionelles Stilmittel, "weder für ‚kindlich‘ noch für ‚westlich‘" stehend, vielmehr als Spiegel der Seele sowie als kontrastive Charakterisierung der Figuren: In "Die Rosen von Versailles" sind die Augen von Oscar, einer Frau in Hosen, schmaler, "männlicher" gehalten, wenn sie zusammen mit anderen Frauen auftritt, und größer, "weiblicher" in Szenen mit Männern. Dass große Augen darüber hinaus technische Funktionen erfüllen, bleibt oft unbemerkt. Sie wecken zuerst einmal Aufmerksamkeit und ziehen den Leser nicht nur in das Geschehen hinein, sondern wahren auch dessen Zusammenhalt, rahmen es gewissermaßen, wenn es in Form von Bild- und Textfragmenten statt in geradlinigen Panelfolgen erscheint, auf mehrschichtig gestalteten Seiten, die Innen und Außen, Jetzt und Früher räumlich verschränken. Große Augen, die vor allem in "weiblichen" Genres auftreten, wirken als Anker, der es der Leserin erlaubt, abwechselnd einzelne Panels oder die ganze (Doppel-)Seite in den Blick zu nehmen und so Einzelteile ohne genauer definiertes Verhältnis miteinander zu verbinden. Diese Funktion der Augen ist seit den späten 1950er Jahren charakteristisch für den shōjo manga, ebenso wie vor das Panelraster gesetzte Mädchenfiguren und Geschichten, die sich auf Gefühle sowie zwischenmenschliche Beziehungen konzentrieren. Die "männlichen" Genres, insbesondere der gekiga und der daraus hervorgehende Jugendmanga, bevorzugten die Fortbewegung von Panel zu Panel, ohne der Seite als Ganzem größere Beachtung zu verschaffen. In den 1990er Jahren begannen die großen Augen die traditionellen Genregrenzen zu überschreiten, nicht zuletzt weil die "männlichen" Magazine zunehmend mit Leserinnen rechnen konnten – von denen viele auf eine fangerechte Aneignung zielten.

Tellergroße Augen sind also kein Erkennungsmerkmal des Manga an sich. Kleine Augen gibt es genauso häufig, und zwar in Erzählungen, die körperliche Aktionen mehr oder weniger realistisch in Szene setzen. Außerdem lassen sich Unterschiede in den Darstellungskonventionen des protomodernen Holzschnitts einerseits, beispielsweise eines Katsushika Hokusai oder Kitagawa Utamaro, und jenen gegenwärtiger Mangageschichten andererseits nicht mehr unbedingt mit dem Verweis auf die Augengröße allein behaupten. Als die Zeichnerin Sugiura Hinako 1981 im alternativen Magazin "Garo" einige Kurzgeschichten publizierte, die im Vergnügungsviertel von Edo spielten und dies durch eine traditionelle Darstellung der Personen wiedergab (vgl. Abbildung 2), wurde das als mutiges Experiment aufgenommen, welches in seiner Andersartigkeit vor allem die modernen Konventionen bestätigte. Seit 2013 veröffentlicht Nakama Ryō im Wochenmagazin "Shōnen Jump", also im Zentrum der Mangaindustrie, seine witzigen Episoden um den kleinäugigen Isobe Isobee, ohne dass jemand diese für schwer lesbar halten würde.

So zeigt sich auch in stilistischer Hinsicht, dass Manga nicht gleich Manga ist. Um das wirklich zu erfahren, reichen Deutschkenntnisse jedoch leider nicht aus. Das vielfältigste Angebot an Mangawerken findet sich – wenn schon nicht auf Japanisch – auf Französisch, das an Sekundärliteratur auf Englisch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In Deutschland 2008 bei Ravensburger erschienen, seit 2010 bei Tokyopop.

  2. Vgl. Nakano Haruyuki et al., 2005nen kaiko zadankai, in: Redaktion Freestyle (Hrsg.), Kono manga o yome! 2006, Tokyo 2006, S. 81–92.

  3. Jens R. Nielsen, Manga – Comics aus einer anderen Welt?, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hrsg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld 2009, S. 335–357, hier: S. 346.

  4. Typische Beispiele auf Deutsch sind Anno Moyoko, Sugar Sugar Rune, München 2006–2007 sowie Hanamori Pink, Yume Yume Yu Yu, München 2007–2008, beide ursprünglich aus dem Magazin "Nakayoshi". Vgl. Jaqueline Berndt, Shōjo global: Japanische Mädchenmanga zwischen Kitsch und Kritik, in: kjl&m, (2009) 3, S. 32–38; Stephan Köhn, Komplexe Bilderwelten. Der japanische Mädchencomic als Paradigma einer mangaesken Wahrnehmungskultur, in: Gerd Antos et al. (Hrsg.), Wahrnehmungskulturen. Erkenntnis – Mimesis – Entertainment, Halle 2009, S. 159–174.

  5. Beispielsweise Toriyama Akira, Dragon Ball, Hamburg ab 1997; Kishimoto Masashi, Naruto, Hamburg ab 2003; Oda Eiichirō, One Piece, Hamburg 2003, alle ursprünglich aus dem Wochenmagazin "Shōnen Jump".

  6. Beispielsweise die Werke von Zeichnerinnen wie Umino Chica, Ninomiya Tomoko, Sakurazawa Erica oder Okazaki Kyōko.

  7. Beispielsweise Urasawa Naoki, 20th Century Boys, Nettetal 2006–2009; ders., Billy Bat, Hamburg seit 2012; mittlerweile auch als Erwachsenencomics für beide Geschlechter, wie beispielsweise in den Magazinen "Evening" (Anno Moyoko, Sakuran, 2007) und "Comic Beam" (Mori Kaoru, Emma, 2002–2006).

  8. Beispielsweise Ozaki Minami, Zetsuai – 1989, Hamburg 2000, ursprünglich 1990 in "Margaret"; Nakamura Shungiku, Junjo Romantica, Hamburg seit 2002, ursprünglich seit 2002 in "Ciel Tres Tres". Vgl. Kristin Eckstein, Boy’s Love im Medienverbund, in: Gina Weinkauff et al. (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten, S. 163–178.

  9. Vgl. Holger Briel, Hentai. Erotik in Manga und Anime, in: Hans-Peter Reichmann/Stephan von der Schulenburg (Hrsg.), Ga-netchū! Das Manga Anime Syndrom, Frankfurt/M. 2008, S. 164–175.

  10. Zur eingrenzenden Wirkung der Mangagenres vgl. Jaqueline Berndt, Das "Mangaesque" als Herausforderung: Japanische Comics und 3/11, in: Lisette Gebhardt/Steffi Richter (Hrsg.), Lesebuch Fukushima, Berlin 2013, S. 126–154.

  11. Vgl. Patrick Galbraith, Fujoshi: Fantasy Play and Transgressive Intimacy Among "Rotten Girls" in Contemporary Japan, in: Signs, 37 (2011) 1, S. 211–232; Mizoguchi Akiko, Theorizing the Comics/Manga Genre as a Productive Forum, in: Jaqueline Berndt (Hrsg.), Comics Worlds and the World of Comics, Kyoto 2010, S. 143–168.

  12. Vgl. Lynne K. Miyake, Graphically Speaking: Manga Versions of "The Tale of Genji", in: Monumenta Nipponica, 63 (2008) 2, S. 359–392.

  13. Vgl. Akiko Sugawa-Shimada, Rebel With Causes and Laughter, for Relief: "Essay Manga" of Tenten Hosokawa and Rieko Saibara, and Japanese Female Readership, in: Journal of Graphic Novels and Comics, 2 (2011) 2, S. 169-185.

  14. Vgl. Scott McCloud, Comics machen: Alles über Comics, Manga und Graphic Novels, Hamburg 2007, S. 217–221.

  15. Vgl. Fujimoto Yukari, Women in "Naruto", Women Reading "Naruto"", in: Jaqueline Berndt/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hrsg.), Manga’s Cultural Crossroads, New York 2013, S. 172–191.

  16. Vgl. Miriam Brunner, Manga, Stuttgart 2010.

  17. Beispielsweise Maruo Suehiro, Der Lachende Vampir, Berlin 2003, ursprünglich in "Young Champion" 1998–1999. Vgl. Jaqueline Berndt, Manga für Erwachsene: Maruo Suehiros vampyristische Nostalgie, in: Stefanie Diekmann/Matthias Schneider (Hrsg.), Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit, Berlin 2005, S. 129–142.

  18. Vgl. Ryan Holmberg, An Introduction to "Gekiga, 6970 A.D.", 24.3.2011, Externer Link: http://www.tcj.com/an-introduction-to-gekiga-6970-a-d/ (24.7.2014).

  19. J.R. Nielsen (Anm. 3), S. 339.

  20. Andreas Platthaus, Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga, München 2008, S. 88.

  21. J.R. Nielsen (Anm. 3), S. 340.

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Dr. phil., geb. 1963; Professorin für Manga- und Comictheorie an der Graduate School of Manga Studies der Kyoto-Seika-University, Kyoto, Sakyo-ku, Iwakura Kino-cho 137, Japan 606-8588.
E-Mail Link: berndt@kyoto-seika.ac.jp