Die neue globale Mittelschicht
Der politische und wirtschaftliche Aufschwung der Schwellenländer in den vergangenen Jahrzehnten ist unübersehbar. Insbesondere in den bevölkerungsreichen asiatischen Ländern China und Indien, aber auch in Russland, Brasilien, der Türkei, Marokko oder Südafrika etablieren sich teils rasch wachsende Mittelschichten, während die alten Mittelschichten der Industrienationen zahlenmäßig eher stagnieren. Im Global Trends 2030 Report des US-amerikanischen National Intelligence Council wird das anhaltende Wachstum dieser neuen globalen Mittelschicht als einer der Megatrends der beiden kommenden Jahrzehnte angesehen.[1]
Die Konsequenzen einer rasch wachsenden globalen Mittelschicht sind vielfältig. Neben einer Verschiebung der wirtschaftlichen Bedeutung von Weltregionen steht besonders ihre schwer kalkulierbare Rolle bei der Transformation von politischen Systemen im Fokus. Die in den Schwellenländern heranwachsende neue Mittelschicht wird politisch vielfach als das Rückgrat der Demokratie angesehen, das soziale und politische Stabilität gewährleistet, indem es sozialen Zusammenhalt fördert und Spannungen zwischen Arm und Reich entschärft.[3] Dies ist allerdings schwer nachweisbar und kann aufgrund der derzeitigen politischen Instabilität und der anhaltenden sozialen Spannungen in weiten Teilen der Welt, aber insbesondere in den Schwellenländern, angezweifelt werden.
In den Industrienationen geht mit zunehmenden Einkommensungleichheiten die Sorge vor dem Schwinden der alten Mittelschicht einher. Auch deswegen schüren die mit der globalen Mittelschicht verbundenen Veränderungen Hoffnungen und Befürchtungen zugleich. Aus wirtschaftlicher Sicht stehen die zunehmende Kaufkraft und die steigenden Konsumbedürfnisse, die damit verbundenen Auswirkungen auf die nationalen und internationalen Märkte sowie die Umwelt im Fokus. Hauptsächlich geht es um wachsende Produktions- und Exportmärkte und eine fortschreitende Übernutzung der natürlichen Ressourcen insbesondere durch den stark ansteigenden Energiebedarf mit den entsprechenden Folgen für das globale Klima. Auch der zunehmende Fleischkonsum, die steigende Zahl von Mobiltelefonnutzern und Autofahrern sowie die weltweite Medialisierung und Digitalisierung sind typische Attribute, die der neuen globalen Mittelschicht zugeschrieben werden. Das Geschehen konzentriert sich auf die urbanen Zentren der Welt. Schon heute gibt es weltweit 28 Megastädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, die meisten davon in Asien.[4] Umweltbelastungen und die ausreichende Versorgung mit Wasser, Energie und Nahrung stellen in diesen Agglomerationen große Probleme dar, die durch die steigenden Konsumbedürfnisse der städtischen Mittelschichten noch verstärkt werden. Die Auswirkungen variieren nach Ländern und Regionen, hängen aber zunächst einmal von dem Ausmaß des Phänomens ab.
Aufstrebend, aber prekär: Merkmale der neuen Mittelschicht in Schwellenländern
Die alte Mittelschicht in Europa entstand im Zuge der beginnenden Industrialisierung durch die Etablierung neuer Berufe jenseits der kleinteiligen Landwirtschaft und der manuellen Produktion von Gütern. Dies setzte einen höheren Bildungsgrad voraus, was sich in einem höheren Einkommensniveau gegenüber der Arbeiterklasse niederschlug. Das trifft auch auf die neue Mittelschicht in Schwellenländern zu, die im Gegensatz zur armen Bevölkerung ein höheres Bildungsniveau aufweist und meist nicht-landwirtschaftlichen Berufen nachgeht. Dennoch ist die neue globale Mittelschicht nicht einfach eine Ausweitung der alten Mittelschicht auf einen größeren Personenkreis in den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern.Erstens wird die alte Mittelschicht im Allgemeinen über ihren gehobenen Lebensstandard definiert, der die Menschen auch vor allen erdenklichen Risiken schützt. Der Ökonom Homi Kharas sieht die Mittelschicht (middle class) generell als eine nicht recht fassbare soziale Klassifizierung, deren Angehörige – vereinfacht ausgedrückt – befähigt sind, ein komfortables Leben zu führen. Hierzu gehören die Wahrnehmung von höheren Bildungs- und Kulturangeboten, eine stabile Arbeitssituation, passable Wohnverhältnisse sowie eine ausreichende Gesundheitsversorgung und Alterssicherung.[5] Betrachtet man aber die Indikatoren der sozialen Sicherung, wie den Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Alterssicherung, so genießen laut Berechnungen der International Labour Organization (ILO) weniger als ein Drittel der Weltbevölkerung einen umfassenden Schutz durch soziale Sicherungssysteme.[6] Dieser Anteil der Weltbevölkerung ist dabei nicht identisch mit der neuen globalen Mittelschicht. Gerade in Schwellenländern sind solche Systeme vielfach weder flächendeckend etabliert noch existiert die entsprechende Infrastruktur. Der Schutz durch soziale Sicherungssysteme ist ein häufig vernachlässigtes Kriterium bei der Bestimmung der neuen globalen Mittelschicht.
Zweitens wird die alte Mittelschicht in den Industrienationen meist als eine relative Größe zur Gesamtbevölkerung gesehen. Nancy Birdsall et al. schlagen dafür die Personen vor, die zwischen dem 0,75- und dem 1,25-fachen des Durchschnittseinkommens pro Kopf aufweisen.[7] Zum Vergleich: 2013 lag das Bruttoinlandseinkommen pro Kopf in Deutschland bei 45.000 US-Dollar; in Indien hingegen nur bei 1.500 US-Dollar, jeweils in Kaufkraftparität.[8] In Ländern, in denen weite Teile der Bevölkerung immer noch von absoluter Armut betroffen sind und das allgemeine Einkommensniveau mit wenigen Ausnahmen sehr niedrig ist, ist die Aussagekraft einer solchen Definition gering, vor allem in international vergleichender Perspektive. In Industrienationen würde jemand schwerlich als der Mittelschicht zugehörig betrachtet werden, der nur Mindestlebensstandards erfüllt. Ein Mobiltelefon zu besitzen, heißt vielleicht per Definition, zur neuen globalen Mittelschicht zu gehören, viel mehr über den Lebensstandard sagt es jedoch nicht aus.
Die Beispiele veranschaulichen, was die neue Mittelschicht der Schwellenländer von der alten Mittelschicht der Industrienationen unterscheidet: ihre Vulnerabilität gegenüber Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Sie können bei finanziellen Schocks aufgrund des Fehlens von sozialen Sicherungssystemen leicht in Armut abrutschen. Ein Großteil der zur neuen Mittelschicht gehörenden Menschen sind gleichzeitig auch jene, die zwar ihr Einkommensniveau steigern konnten, aber dennoch nicht weit von der Armutsgrenze entfernt sind. Diese Personen werden als floating group oder vulnerable Mittelschicht bezeichnet. Laut der ILO gehörten 2010 rund 1,9 Milliarden Menschen weltweit zu dieser Gruppe.[9]
Die Nähe zur Armut ist für die neue Mittelschicht in den Schwellenländern, neben dem mangelnden Zugang zu sozialer Absicherung, der größte Unterschied zu den alten Mittelschichten in den Industrienationen, zumindest im derzeitigen Vergleich. Würde man die neuen Mittelschichten der Schwellenländer mit den alten Mittelschichten zur Zeit ihrer Entstehung vergleichen, wären die Charakteristika ähnlicher. Die Diskussion um die neue globale Mittelschicht bezieht sich jedoch meist auf einen Vergleich der beiden zum jetzigen Zeitpunkt. Doch wie groß ist diese neue globale Mittelschicht nun?
Wer gehört zur neuen globalen Mittelschicht?
Eine eindeutige Bestimmung der neuen globalen Mittelschicht ist schwierig, da weder eine allgemeingültige Definition noch entsprechende Messkriterien existieren. Meist wird eine einkommensabhängige Erfassung angewendet, die auf dem Konzept einer wachsenden Konsumentenklasse beruht. In der einfachsten Variante werden allgemeine Einkommens- oder Ausgabengrenzen verwendet, die für alle Personen als gleich angenommen werden, unabhängig von ihrem Wohnsitz. Eine Berechnung in Kaufkraftparität soll die internationale Vergleichbarkeit gewährleisten, indem nicht die Einkommen in Landeswährung als Vergleichsmaßstab herangezogen werden, sondern das, was man sich davon kaufen kann.
Im Unterschied zu einer solchen, für alle Länder einheitlichen Einkommensklassifizierung werden für die Erfassung von Mittelschichten in Entwicklungs- und Schwellenländern meist Konzepte zugrunde gelegt, die sich an einem Einkommens- oder Konsumniveau oberhalb der absoluten Armutsgrenzen orientieren. Die beiden gängigsten absoluten Armutsgrenzen sind dabei die Definitionen der Weltbank, die entweder 1,25 US-Dollar oder 2 US-Dollar pro Person und Tag in Kaufkraftparität zugrunde legt. Zwischen 1990 und 2010 hat sich der weltweite Anteil der Menschen, die unterhalb der absoluten Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar leben müssen, mehr als halbiert, von 47 auf 22 Prozent. Das entspricht einer Verminderung um 700 Millionen Menschen.[11]