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Transatlantische Beziehungen Editorial Herausforderungen für das transatlantische Bündnis: Die Ukraine-Krise und die NSA-Affäre Wie Zerrbilder der Demokratie entstehen TTIP im Kontext anderer Freihandelsabkommen TTIP kontrovers Die NATO nach dem Gipfel von Wales: Anker transatlantischer Partnerschaft und europäischer Sicherheit Obama braucht eine neue Nationale Sicherheitsstrategie

Herausforderungen für das transatlantische Bündnis Die Ukraine-Krise und die NSA-Affäre

Johannes Thimm

/ 16 Minuten zu lesen

Durch die beiden Krisen haben die transatlantischen Beziehungen wieder an Relevanz gewonnen. Wie sich diese Herausforderungen auswirken, hängt davon ab, worin der Kern der Sicherheitsgemeinschaft gesehen wird.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehören mehr oder weniger regelmäßige Bestandsaufnahmen der transatlantischen Beziehungen in Europa zur Selbstvergewisserung der eigenen Rolle in der Welt. Während des Kalten Krieges wurde die Partnerschaft zwischen den USA und dem westlichen Europa von keiner der beiden Seiten in Frage gestellt. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation gab es zwar vereinzelt Rufe nach der Abschaffung der NATO, das Ende der Partnerschaft forderte jedoch kaum jemand. Dennoch ließ bei den langjährigen NATO-Mitgliedstaaten das Bedürfnis nach einem engen Verhältnis nach. Gleichzeitig beförderten neue Entwicklungen unter transatlantisch orientierten Europäern die Sorge, die USA könnten das Interesse an Europa verlieren. Durch den Aufstieg neuer Mächte wie China, Indien oder Brasilien, die nun zunehmend auch eine Rolle in der internationalen Politik einforderten, verlor der "Westen" relativ an Macht. Die Diskussion in den USA über eine Hinwendung nach Asien trug nicht dazu bei, Sorgen in Europa auszuräumen. Dabei waren die verschobenen Prioritäten der USA durchaus ein Resultat der Erfolgsgeschichte Europas. Europa galt als friedlich und stabil, sodass man sich anderen Krisenregionen zuwenden konnte.

In den beiden Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges hat sich in der transatlantischen Debatte ein Muster herausgebildet. Weil internationale Politik meist krisengetrieben ist, finden Phasen guter Beziehungen nur wenig Aufmerksamkeit. Denn gute Phasen sind meist solche ohne besondere Vorkommnisse, in denen der Austausch über den Atlantik hinweg vor allem auf der Arbeitsebene stattfindet. Paradoxerweise wird gerade zu solchen Zeiten von Transatlantikern lamentiert, dass die Beziehungen nicht mehr den Stellenwert hätten, der ihnen gebührt. Intensiv diskutiert wird dagegen vor allem in Krisenzeiten, entweder wenn innerhalb des Bündnisses Konflikte auftreten oder es sich mit einer äußeren Herausforderung konfrontiert sieht.

Zuletzt sind genau solche krisenhaften Entwicklungen verstärkt aufgetreten. Sowohl in Europa als auch den Vereinigten Staaten genießt das transatlantische Verhältnis daher eine deutlich höhere Priorität als noch Anfang des Jahres 2013. Insbesondere zwei Krisen haben ihre Schatten auf die Partnerschaft geworfen: zum einen die Krise in der Ukraine, die sich zunehmend zu einer Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, insbesondere den Mitgliedstaaten der NATO entwickelt hat; zum anderen die Enthüllungen des ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden über die Überwachungs- und Spionageaktivitäten der National Security Agency (NSA) und ihrer ausländischen Partnerdienste.

Das Wesen der transatlantischen Beziehungen

In der Debatte über die transatlantischen Beziehungen finden sich unterschiedliche Annahmen über die Natur des Bündnisses, die nicht immer explizit gemacht werden. Dies betrifft vor allem die Grundlage der Partnerschaft und den Stellenwert der NATO.

Für manche ist die NATO nach wie vor die zentrale Institution der westlichen Gemeinschaft. Nach dieser Argumentation besteht die grundlegende Motivation im Verhalten von Staaten in einem Bedürfnis nach Sicherheit. Die NATO als Verteidigungsallianz ist Ausdruck der gemeinsamen Sicherheitsinteressen des Westens. Während des Kalten Krieges bestimmte die kollektive Verteidigung das Verhältnis und half dabei, Spannungen innerhalb des Bündnisses beizulegen. Andere Aspekte der transatlantischen Beziehungen wie gemeinsame Werte und Ideen dienten bestenfalls als ideologischer Überbau für das Verteidigungsbündnis.

Nach dieser Sichtweise wurde also das westliche Bündnis vor allem durch die andauernde sowjetische Bedrohung zusammengehalten. Entsprechend prognostizierten ihre Anhänger nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes auch das mittelfristige Ende der NATO und damit auch der besonderen Partnerschaft zwischen den USA und Europa. Die Osterweiterung und die Suche der NATO nach neuen Aufgaben wurden demnach als letzte Regungen einer sterbenden Organisation interpretiert.

Doch diese Prognosen basierten auf der von der relativen Ruhe der 1990er-Jahre geprägten Erwartung, dass die Bedrohungslage sich für den Westen dauerhaft verbessert hätte. Denn die grundlegende Annahme, dass Sicherheitsinteressen die Basis des transatlantischen Bündnisses bilden, lassen auch den Schluss zu, dass eine erneute Bedrohung der Gemeinschaft zu einer Revitalisierung der NATO führen kann.

Eine zweite Sichtweise ist, dass die NATO mehr ist als nur eine Verteidigungsallianz. Deren Anhänger bestreiten nicht, dass die Bedrohung durch die Sowjetunion ein Faktor bei der Herausbildung des nordatlantischen Bündnisses war. In der Folge sei jedoch das entstanden, was Karl Deutsch als "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" bezeichnet. Die Mitglieder eint mehr als nur ein gemeinsamer äußerer Gegner. Es ist vielmehr eine Partnerschaft entstanden, in der das Vertrauen zwischen ihren Mitgliedern so weit wuchs, dass kriegerische Auseinandersetzungen untereinander undenkbar wurden. Statt eines äußeren Gegners machen demnach geteilte Interessen, Institutionen und eine gemeinsame Identität die Grundlage dieser Gemeinschaft aus. All dies schwingt mit, wenn man weniger präzise von der "westlichen Wertegemeinschaft" oder einfach "dem Westen" spricht.

Russlands Revisionismus und die Ukraine-Krise

Folgt man der Interpretation, dass die NATO vor allem eine Reaktion auf eine äußere Bedrohung ist, drängt sich die Frage auf, wie sich das aggressive Auftreten Russlands in der Krise um die Zukunft der Ukraine auf die Beziehungen zwischen den USA und Europa auswirkt. Eine Hypothese lautet: je größer die äußere Bedrohung, desto stärker der Zusammenhalt im Bündnis. Es wäre also zu erwarten, dass in der Krise nicht nur die NATO Aufwind bekommt, sondern die transatlantischen Beziehungen sich generell verbesserten.

Tatsächlich lässt sich beobachten, dass die Kohäsion im NATO-Bündnis seit der Annexion der Krim durch Russland zugenommen hat. Die Mitgliedstaaten haben demonstrativ einen Schulterschluss vollzogen und besonders neueren Mitgliedern wie Polen und den baltischen Ländern ihre Solidarität zugesichert. Konflikte sind zwar nicht verschwunden, werden jedoch zugunsten der Gemeinsamkeiten zurückgestellt. Die NATO spielt wieder eine prominentere Rolle und hat eine Reihe gemeinsamer Aktivitäten initiiert. Am offensichtlichsten sind die militärischen Maßnahmen der NATO seit Ausbruch der Krise. So wurden die Anzahl und der Umfang der gemeinsamen Übungen erhöht, die militärische Präsenz der NATO in den östlichen Mitgliedstaaten verstärkt sowie beschlossen, die schnelle Eingreiftruppe der NATO um eine in Stettin angesiedelte Einheit mit noch höherer Einsatzbereitschaft und kürzerer Reaktionszeit zu ergänzen.

Doch die militärischen Aktivitäten sind nur ein Aspekt. Mindestens ebenso wichtig ist, dass sich auch die Wahrnehmung der europäischen Sicherheitslage unter den NATO-Mitgliedstaaten angenähert hat. In Deutschland und Frankreich tauchte Russland nach Ende der Blockkonfrontation auf dem Radarschirm kaum noch als Bedrohung auf. Die zunehmend autoritären Züge der russischen Regierung wurden in erster Linie als Problem der russischen Innenpolitik wahrgenommen. Man setzte auf gute Beziehungen und Wandel durch Handel. In Polen und den baltischen Staaten, die Jahrzehnte unter sowjetischer Besatzung gelitten hatten, war die Sorge vor einer russischen Aggression dagegen nie ganz verschwunden. Dabei spielten sicherlich die eigene Verwundbarkeit durch die geografische Nähe und die relative militärische Schwäche gegenüber Russland eine zentrale Rolle. Entscheidend ist jedoch, dass die Regierungen Polens und der baltischen Staaten im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich nicht überzeugt waren, dass Russland keine aggressiven Absichten hegte. Diese Staaten reagierten sehr viel sensibler auf die regelmäßig von russischen Politikern und Militärs formulierten Ansprüche auf eine russische Großmachtrolle einschließlich einer eigenen Einflusszone im postsowjetischen Raum. Die latente Bedrohungswahrnehmung war insbesondere in Staaten mit russischstämmigen Minderheiten immer präsent und wurde immer wieder durch Zwischenfälle genährt. Besonders die Cyber-Angriffe russischer Hacker auf estnische Regierungsserver im Jahr 2008 schürten neue Ängste. Im Gegensatz zu westeuropäischen Staaten waren die baltischen Staaten und Polen von Beginn an überzeugt, dass nur militärische Stärke eine Garantie gegen russische Expansionsbestrebungen sei. Folglich bemühten sie sich um die schnellstmögliche Aufnahme in die EU und die NATO.

Die gewaltsame Einmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und die Annexion der Halbinsel Krim machen deutlich, dass für Moskau Verstöße gegen die Souveränität anderer Staaten kein Tabu sind und daher die Bedrohung durch Russland für seine Nachbarn nun nicht mehr nur hypothetisch ist. Auch die Verschleppung eines Mitarbeiters des estnischen Nachrichtendienstes von der estnisch-russischen Grenze nach Russland unter nicht eindeutig geklärten Umständen sowie die zahlreichen Verletzungen des NATO-Luftraumes durch russische Kampfflugzeuge verfestigen diesen Eindruck. Es ist nicht klar, ob Russland weitere territoriale Ambitionen hegt. Aber während beispielsweise die Furcht der Balten vor einer russischen Invasion in Deutschland lange belächelt wurde, nimmt man die Bedenken der östlichen Nachbarn nun deutlich ernster.

Außerhalb der NATO werden die politischen Aktivitäten gegenüber Russland ebenfalls eng koordiniert. Das gilt besonders für die Sanktionen. Die USA haben sich früh zu Sanktionen entschieden, die jedoch wegen der schwächer ausgeprägten Handelsbeziehungen wenig Druck entfalteten. Nach anfänglichem Widerstand hat die EU eingewilligt, in enger Abstimmung mit den USA ebenfalls Sanktionen zu verhängen, die zwar für Russland deutlich schmerzhafter sind als die der USA, aber auch von der europäischen Wirtschaft Opfer erfordern. Dass die Sanktionen Russland zu einem schnellen Einlenken bewegen, erwartet niemand. Es geht vor allem darum, Russland deutlich zu machen, dass Eingriffe in die Souveränität anderer Staaten nicht akzeptabel sind.

Die veränderte Wahrnehmung Russlands hat sich auch auf die Selbstwahrnehmung des Westens ausgewirkt. Im Zuge der Krise hat die internationale Berichterstattung über die Situation in Russland deutlich zugenommen. Dabei hat das Verhalten Moskaus dem Westen deutlich vor Augen geführt, was die politische Lage in Russland von der in den Demokratien der transatlantischen Gemeinschaft unterscheidet. Dazu gehörten die Repressalien der russischen Führung gegen die innenpolitische Opposition, die im Verlauf der Krise noch zugenommen haben. Auch die Berichterstattung der staatsnahen Medien in Russland verdeutlichte den Kontrast zur Debatte in Europa und den USA. Nicht nur gibt es in Russland kaum noch unabhängige Medien, sondern die staatsnahen Medien überschlugen sich vor Propaganda, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Sie beschränkten sich in der Berichterstattung über die Ukraine-Krise nicht auf eine andere Interpretation oder Schwerpunktsetzung, sondern arbeiteten stark mit Fabrikationen und Unwahrheiten. Auch wenn die westliche Berichterstattung gerade in Krisenzeiten durchaus auch zur Einseitigkeit tendiert und auch im Fall der Ukraine-Krise kein Ruhmesblatt ist, waren die qualitativen Unterschiede zwischen einer demokratischen freien Presse und der Propagandamaschine des Putin-Regimes nicht zu leugnen. Sie haben der sonst eher floskelhaften Betonung von Demokratie und Freiheit als Basis der westlichen Wertegemeinschaft wieder eine neue Relevanz gegeben.

Die Beobachtung, dass die Ukraine-Krise innerhalb des westlichen Bündnisses zu mehr Einigkeit geführt hat, lässt sich zum Teil mit der Annahme erklären, dass die NATO vor allem eine Verteidigungsallianz gegen äußere Bedrohungen ist. Angesichts der gemeinsamen Bedrohung halten die NATO-Staaten zusammen.

Darüber hinaus hat das Verhalten Russlands dazu beigetragen, die gemeinsame Identität des Westens – Karl Deutsch nennt dies das "Wir-Gefühl" – zu stärken, indem es den Mitgliedern vor Augen führt, was man nicht ist. Der Westen sieht sich konfrontiert mit einem Gegner, der weder freie Demokratie noch Rechtsstaat ist und zudem noch internationale Normen wie das Gewaltverbot und die Souveränität anderer Staaten verletzt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Meinungsunterschiede innerhalb des westlichen Bündnisses weniger bedeutsam. Das bedeutet jedoch nicht, dass es diese Meinungsunterschiede nicht gäbe.

Herausforderung von innen: Die NSA-Affäre

Die Bedrohlichkeit der Ukraine-Krise hat die Spannungen infolge der NSA-Affäre in den Hintergrund treten lassen. Dennoch sind die zu Tage getretenen Konflikte über die Legitimität von Spionage und Überwachung nicht ausgeräumt. Zwei Aspekte der Geheimdienstaktivitäten, die durch Enthüllungen Edward Snowdens von den Medien aufgedeckt worden sind, haben zu transatlantischen Konflikten geführt. So zeigen Snowdens Dokumente zum einen, dass die NSA und ihre Partnerdienste – darunter das britische Government Communications Headquarters (GCHQ) – die elektronische Kommunikation der Bevölkerung fast aller Staaten umfassend überwachen und speichern. In den USA selbst und gegenüber den eigenen Bürgern sind den Aktivitäten der NSA gesetzliche Grenzen gesteckt, und es gibt ein Minimum an institutioneller Kontrolle. Doch auch US-Bürger sind nicht wirksam vor der Verletzung ihrer Privatsphäre geschützt. Für Aktivitäten der US-Geheimdienste im Ausland gibt es allerdings praktisch keine Beschränkungen. Zum zweiten spionieren die USA gegen andere Regierungen und unterscheiden dabei nicht zwischen Freund und Feind. Dabei ruft das Ausmaß der Spionage gerade auch gegenüber den Regierungen von Partnerstaaten – Abhören der persönlichen Kommunikation der Staatsoberhäupter eingeschlossen – und nicht zuletzt der Umgang mit der Kritik an dieser Praxis zu Recht Unmut bei den Betroffenen hervor.

Beide Aspekte der NSA-Affäre haben Implikationen für das transatlantische Verhältnis. Die gezielte Spionage hat Vertrauen zerstört, das die Basis für eine enge und konstruktive Zusammenarbeit ist. Die USA, die immer wieder den Anspruch auf eine wertebasierte Außenpolitik erheben und sich deklaratorisch von reiner Machtpolitik abgrenzen, wirken scheinheilig, zumal wenn sie Vertrauen in die Ziele amerikanischer Außenpolitik und Gefolgschaft bei deren Umsetzung erwarten, ihr eigenes Verhalten gegenüber den Partnern jedoch von Misstrauen bestimmt ist. Gleichzeitig stellen die Enthüllungen in Europa besonders diejenigen Politiker bloß, die sich als überzeugte Transatlantiker sehen, die die USA vor Kritik in Schutz nehmen und die Westbindung der Bundesrepublik und Europas befürworten. Dadurch berauben sich die USA wichtiger Mitstreiter im Kampf um die öffentliche Meinung. Dagegen fühlen sich jene bestätigt, die die Motive der USA schon immer in Frage gestellt haben.

Auch die institutionelle Zusammenarbeit wird erschwert. Bisher haben die europäischen Nachrichtendienste sehr eng mit den US-amerikanischen kooperiert. Die Prämissen waren, dass die Interessen sich weitgehend decken, dass die USA Partner sind und kein Gegner, und dass der enge Austausch von beiden Seiten politisch gewollt ist. Dementsprechend hat die deutsche Politik bei den Aktivitäten der USA in Deutschland nicht so genau hingeschaut und die Dienste haben wohl in einer Weise kooperiert, die mit dem eigenen Auftrag nur schwer zu vereinbaren war. Denn zur Aufgabe jedes Nachrichtendienstes in einer Demokratie gehört es, die Souveränität der Verfassungsorgane und politischen Institutionen zu gewährleisten, also auch den eigenen Staat, seine Organe und die Bevölkerung vor Spionage zu schützen. Nach Bekanntwerden von immer mehr Details lässt sich die bisherige Form der Zusammenarbeit mit den USA kaum aufrechterhalten. Die Enttarnung eines Mitarbeiters des Bundesnachrichtendienstes, der für die USA spionierte, sowie die Ausweisung des Beauftragten der USA für die amerikanischen Nachrichtendienste sind Indizien für ein Umdenken auf deutscher Seite.

Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft schließt per definitionem gewaltsame Auseinandersetzungen unter ihren Mitgliedern aus. Weniger klar ist, ob – wie die deutsche Regierung reklamiert – Spionage ebenso inakzeptabel ist. Diese Unklarheit hängt wohl auch damit zusammen, dass Spionage im Völkerrecht nicht umfassend geregelt ist und während des Kalten Krieges auch innerhalb des Westens gang und gäbe war. Und dennoch: Die Undenkbarkeit von Krieg innerhalb der Sicherheitsgemeinschaft beruht auf Vertrauen. Spionage dagegen zeugt von Misstrauen. Sie ist zwar weit entfernt von der Anwendung von Gewalt, und doch ist sie ein Mittel, dass man wohl eher dem Verhalten von Gegnern zuordnen würde als dem von Partnern. Es ist bemerkenswert, dass die Maxime trust, but verify, die Präsident Ronald Reagan einst gebrauchte, um den US-Ansatz in der Rüstungskontrolle mit der Sowjetunion zu beschreiben, auch den diplomatischen Umgang der gegenwärtigen US-Regierung mit der EU und ihren Mitgliedstaaten treffend zu charakterisieren scheint. Bleibt die Spionage unentdeckt, berührt sie die Sicherheitsgemeinschaft nicht. Im Fall der Aufdeckung kann sie nachhaltig Schaden nehmen. Förderlich ist ein solches Verhalten für die Beziehungen jedenfalls nicht.

Auch die anlasslose massenhafte Überwachung von elektronischer Kommunikation und das Verhalten der USA im Cyberspace werfen grundsätzliche Fragen für die Wertegemeinschaft auf. Das bereits offengelegte Ausmaß der Überwachung bedeutet die systematische Verletzung der Privatsphäre und damit einen Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger. Die Überwachung ist kein Einzelaspekt, sondern Teil einer breiteren Kontroverse darüber, wie weit der Staat in seinen Bemühungen bei der Abwehr von terroristischen Bedrohungen gehen kann, also über die richtige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Im Kontext des Krieges gegen den Terrorismus seit dem 11. September 2001 haben die USA und Europa diese Frage immer wieder unterschiedlich beantwortet. Neben Überwachung gaben die unbegrenzte Inhaftierung Terrorismusverdächtiger ohne gültiges Gerichtsurteil, die Anwendung von Folter zur Informationsbeschaffung sowie die gezielte Tötung mutmaßlicher Terroristen durch Drohnen oder Spezialkommandos Anlass zu Konflikten.

Auf die Frage der richtigen Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gibt es keine einfachen Antworten. Auch verlaufen die Trennungslinien zwischen den Lagern ebenso oft innerhalb von Gesellschaften wie zwischen Staaten. Auf der einen Seite hat sich in den USA seit den Enthüllungen von Snowden bemerkenswerter Widerstand gegen die Praxis der Nachrichtendienste formiert, der vom libertären Flügel des konservativen Lagers bis hin zu linken Menschenrechtsaktivisten reicht. Auf der anderen Seite sind die Europäer keineswegs so vereint in ihrer Kritik, wie die Praxis des britischen GCHQ zeigt, dessen institutionelle Kontrolle noch geringer ausgeprägt zu sein scheint als bei der NSA. Auch in anderen europäischen Staaten wollen die Sicherheitsbehörden auf so manches Mittel der Überwachung und Speicherung von Kommunikation nur ungern verzichten. Generell sind die Exekutiven und Innenministerien sehr viel weniger um den Schutz der Privatsphäre besorgt als die Opposition und die Datenschutzbeauftragten – und das gilt auch für Deutschland. Auch ist die Reaktion in den deutschen Medien auf die NSA-Affäre nicht repräsentativ; in kaum einem anderen europäischen Land empörten sich Politiker, Medien und Öffentlichkeit in ähnlicher Weise.

In Deutschland scheint ein weitreichender Konsens darüber zu bestehen, dass die Aktivitäten der US-Geheimdienste gegen grundlegende Normen verstoßen. Dies ist für die transatlantischen Beziehungen relevant, zum einen, weil Deutschland inzwischen erheblichen Einfluss in Europa genießt, zum anderen, weil die deutsche Position auch von einigen Akteuren in den EU-Institutionen, insbesondere im Europäischen Parlament geteilt wird. Wenn es politisch gewollt ist, hat die Bundesrepublik also durchaus Handlungsmöglichkeiten, die über Symbolik hinausgehen.

Als gemeinsame Wertebasis der transatlantischen Gemeinschaft werden meist Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die freie Marktwirtschaft genannt. Wie sich diese genau definieren, wird oft wohl bewusst vage gehalten, um trotz erheblicher Differenzen eine Zusammenarbeit zu ermöglichen. Und dennoch steht fest: Die Spionage-Affäre berührt alle drei. Nachrichtendienste, die im Geheimen weitgehend autonom von effektiver politischer Kontrolle arbeiten, sind nicht mit den Anforderungen der Demokratie nach Transparenz und einer informierten Öffentlichkeit, die als Souverän Entscheidungen legitimiert, zu vereinbaren. Die Auswüchse der Überwachung, in denen Gerichtsprozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und den Angeklagten mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit die Möglichkeit genommen wird, Beweise gegen sie zu hinterfragen, verletzt grundsätzliche rechtstaatliche Prinzipien. Und Wirtschaftsspionage, selbst wenn – wie die US-Regierung behauptet – keine Industriegeheimnisse erforscht werden, sondern "nur" die Wirtschaftspolitik anderer Staaten ausspioniert wird, um die Marktbedingungen für heimische Wirtschaftssektoren zu verbessern, widerspricht Prinzipien der freien Marktwirtschaft, insbesondere dem fairen Wettbewerb.

Was für eine transatlantische Gemeinschaft wollen wir?

Der Ukraine-Krise und der Überwachungsaffäre ist gemeinsam, dass sie die transatlantischen Beziehungen zurück auf die Agenda gebracht haben und dass sie die Dynamik zwischen den Verbündeten verändern. Hier endet jedoch die Gemeinsamkeit. Die Konfrontation mit Russland ist eine Herausforderung von außen, die die Kohäsion innerhalb des westlichen Bündnisses eher stärkt. Die Überwachungsaffäre dagegen ist hausgemacht, sie geht in erster Linie auf Spannungen zwischen den Partnern zurück und schwächt daher den Zusammenhalt. Daraus sollte man jedoch nicht schließen, dass sich die Folgen gegenseitig aufheben.

Welche Implikationen die beiden Krisen für die Politik haben, hängt entscheidend von den Vorstellungen darüber ab, was das Wesen des transatlantischen Verhältnisses ausmacht. Folgt man der realpolitischen Sicht, sind Interessenskonflikte innerhalb der westlichen Partnerschaft unvermeidlich, und das Bündnis kann nur zusammengehalten werden, wenn die äußere Bedrohung stärker bleibt als die inneren Fliehkräfte. Nach dieser Lesart hat die Ukraine-Krise nicht nur die NATO wiederbelebt, sondern auch den steten Verfall der transatlantischen Beziehungen aufgehalten. Diese Sicht lässt wenig Raum für eine positive Agenda im Bündnis; seine einzige Chance zu überleben liegt in der fortdauernden Präsenz äußerer Bedrohungen. Zynisch überspitzt ließe sich sagen, dass die NATO nur eine Zukunft hat, wenn man den Konflikt mit Putin weiter schürt.

Bei einem umfassenderen Verständnis der transatlantischen Beziehungen liegt es in der Hand der westlichen Partner selbst, die Sicherheitsgemeinschaft zu pflegen und mit Inhalten zu füllen. Dazu ist es jedoch notwendig, sich aktiv damit auseinanderzusetzen, worin die Basis der Gemeinschaft besteht. In Zeiten äußerer Bedrohung mag es opportun sein, über Differenzen hinwegzusehen. Aber wenn das Konzept der westlichen Wertegemeinschaft nicht zu einer leeren Hülle verkommen soll, ist ein kritischer Dialog darüber notwendig, was sie beinhaltet und wo die Grenzen akzeptablen Verhaltens liegen. Dies betrifft nicht nur die Verbündeten innerhalb des Bündnisses, sondern auch dessen Rolle in der Welt. Mit den globalen Verschiebungen wirtschaftlicher und militärischer Macht werden weiche Machtfaktoren wie die Attraktivität eines Gesellschaftsmodells oder die Achtung der Menschenrechte wieder wichtiger. Diese kann man jedoch nur glaubhaft nach außen vertreten, wenn man sich selbst daran hält. Anzeichen von Doppelmoral machen angreifbar. Das gilt unter anderem auch für die Auseinandersetzung mit Putins Russland.

Dr. rer. pol., Dipl. Pol., geb. 1977; Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter (ad interim) der Forschungsgruppe Amerika der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3–4, 10719 Berlin. E-Mail Link: johannes.thimm@swp-berlin.org