Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Verkannte Revolution | Big Data | bpb.de

Big Data Editorial "Ich habe doch nichts zu verbergen" Politikfeld Big Data: Hoffnungen, Vorhaben und viele offene Fragen Was ist Big Data? Zur Beschleunigung des menschlichen Erkenntnisprozesses Von Big zu Smart – zu Sustainable? Auf dem Weg zum Dr. Algorithmus? Potenziale von Big Data in der Medizin Verkannte Revolution: Big Data und die Macht des Marktes

Verkannte Revolution Big Data und die Macht des Marktes - Essay

Yvonne Hofstetter

/ 15 Minuten zu lesen

Immer schicksalhafter durchdringt Big Data die Zivilgesellschaft. Nutzer mobiler Kleincomputer erzeugen zahllose Fotos, Texte, Audio- und Videodateien. Sensoren, getarnt als modische Armbanduhren, vermessen ihre Träger vom Herzschlag bis zur chemischen Zusammensetzung ihrer Schweißsekretion beim Sport. Alltagsgegenständen wie T-Shirts oder auch Bäumen heften wir die Fähigkeit zur digitalen Partizipation am "Internet der Dinge" sprichwörtlich an, indem wir sie mit Bluetooth-Stickern bekleben, damit sie kabellos und unterbrechungsfrei an die Cloud melden können, wann und wie oft sie bewegt werden – vom Kunden, der Verkäuferin oder einfach nur einem Windhauch. Sinnvoll oder nicht: Mit dem Ziel der Optimierung in Echtzeit wird alles überwachbar, quantifizierbar, kontrollierbar gemacht.

Weil die schiere Menge der Daten schlechterdings die Fertigkeit des Menschen zu Überblick und Auswertung übersteigt, bedeutet Big Data auch den Aufstieg der künstlichen Intelligenz. Nur intelligente Maschinen können in den Massen unstrukturierter Daten Korrelationen erkennen, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Intelligente Maschinen greifen Daten ab, fusionieren oder aggregieren sie zu neuen, relevanten Informationen über das Objekt der Begierde und berechnen daraus optimale Kontrollstrategien zur Verhaltenssteuerung des Einzelnen. Sie beobachten die Wirkung ihrer eigenen Aktion oder Empfehlung und steuern nötigenfalls nach. Da ist er, der "Regelkreis", die Closed-loop-control-feedback-Schleife. Hinter dem Glas des Touchscreens sind Technik und Realität schon viel weiter fortgeschritten, als die Nutzer "smarter" Elektronik ahnen.

Nach der Debatte in den Feuilletons deutscher Blätter ist die Diagnose, was Big Data und die damit verbundene Dauerüberwachung unseres Lebens für unsere Zukunft bedeuten kann, recht vollständig und zugleich wenig optimistisch. Big Data ist viel mehr als die infrastrukturelle Erweiterung unseres Alltags oder die Ausdehnung unserer Person in einen virtuellen Raum hinein. Sie ist auch mehr, als die Debatte um die IT-Sicherheit nahelegt. Das Internet der Dinge verbreitet sich so rasch, dass wir nicht mehr in der Lage sein werden, die Sicherheit der Zivilgesellschaft zu gewährleisten. Wir nehmen uns keine Zeit für eine Bedrohungs- und Gefährdungsanalyse, die nichts weniger ist als die Reflexion über die (Grund-)Rechtskonformität neuer Technologien. Stattdessen werden Mahner schnell als Kulturpessimisten etikettiert. Dabei ist die Analyse der Systemsicherheit nichts weniger als good practice jeden Ingenieurs und wird ausdrücklich von staatlichen Systementwicklungsprozessen gefordert.

Angriff auf Grundwerte

Es ist ein Mythos, dass die Big-Data-Dauerüberwachung allgemein für mehr Sicherheit sorgt. Das Gegenteil ist der Fall: Die digitale Partizipation steigert die Anfälligkeit aller und des Einzelnen gewaltig. Wir müssen damit rechnen, dass hacks, "Anschläge" auf unsere Infrastrukturen, immer gravierender werden. Sie haben nicht mehr nur Netzwerke und Computer, sondern Ölpipelines und Industrieanlagen im Visier. Deshalb sollten uns zum Beispiel Drohnen unbekannter Herkunft, die systematisch über französischen Kernkraftwerken kreisen, ernsthafte Sorgen bereiten.

Doch auch ohne das Eingreifen Cyberkrimineller ist die digitale Transformation sprichwörtlich das, was im Silicon Valley als "schöpferische Zerstörung" beschworen wird. Tatsächlich geht es um Zerstörung – um die Destruktion prinzipiell bewährter Zustände, Prozesse, Systeme und Werte. Die Treiber hinter der Zerstörung sind: Wirtschaftswachstum, Umsatz und Profit. Mit "alten" Techniken und Werkzeugen sind wir "ausoptimiert". Die digitalen Technologien versprechen den nächsten wirtschaftlichen Leistungssprung, aber nur, wenn wir radikal Neues zu denken bereit sind. Die digitale Transformation fordert Paradigmenwechsel und wird historisch erfolgreiche Modelle von Staat und Unternehmen zum Einsturz bringen. Tatsächlich richten sich zumindest die Verbalattacken aus dem Silicon Valley bereits gegen Demokratie und Gewaltenteilung: "Demokratie ist eine veraltete Technologie (…); sie hat Reichtum, Gesundheit und Glück für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt gebracht. Aber jetzt wollen wir etwas Neues ausprobieren", hören wir etwa vom Geschäftsführer von The Seasteading Institute, Randolph Hencken. Diese und ähnliche Äußerungen ignorieren die besondere Qualität der Demokratie als soziales System, das mehr ist als eine Maschine.

Und so ächzt nicht nur die Wirtschaft unter den Forderungen der digitalen Transformation. Auch im alltäglichen Leben jeder Bürgerin und jedes Bürgers findet Zerstörung statt: Die millionenfachen Grundrechtsverletzungen durch die digitale Big-Data-Dauerüberwachung sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass unsere verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten bröckeln. Neu daran ist, dass die Gefährdung bestehender Rechtsordnungen nicht primär von staatlicher Gewalt ausgeht. Die modernen Usurpatoren sind kommerzielle Internetorganisationen, deren Lenker von unseren Regierungen wie Staatschefs empfangen werden, während die Medien Liveübertragungen von Interviews und Pressekonferenzen arrangieren (So geschehen beim Deutschlandbesuch des Google-Chefs Eric Schmidt im Herbst 2014). Nie zuvor war ein Unternehmen so mächtig wie heute Google. Die Macht verschiebt sich weg vom demokratisch legitimierten Staat, dessen Repräsentanten durch den Souverän wählbar und kontrollierbar sind, hin zu Wirtschaftsbetrieben, die über unsere Daten verfügen – und die Schlüsseltechnologien, um sie auszuwerten. Anders als ein demokratischer Staat sind sie hochgradig intransparent; durch ihre Geschäftsstrategie, stets ein Monopol anzustreben, wird Nutzern jede Alternative genommen. Ihre globale Präsenz und Lobbyismus schützen sie zudem vor konzertierten Maßnahmen staatlicher Regulierung.

Befinden wir uns schon jenseits des point of no return? Nein, es gibt noch Hoffnung. Denn wer der Weltanschauung hinter Big Data auf die Spur kommt, erkennt Chancen für die politische Gestaltung der digitalen Zukunft. Nur wo wir keinen Gestaltungswillen zeigen, wird es aussichtslos.

Zuerst stellen wir nüchtern fest: Die von uns genutzten Smartphones, Tablets, tragbaren Datenlogger, die Betriebssysteme Windows, Apple OS oder Android und auch die Telekommunikationsausrüstungen, denen wir unsere Daten übergeben, sind – mit wenigen Ausnahmen – US-amerikanische Marken. Zu ihrer Produktpalette gibt es kaum deutsche oder europäische Alternativen. Der Elektronikkonzern Siemens steht exemplarisch für den Verlust von Schlüsseltechnologien der Digitalisierung seit der Jahrtausendwende: 2005, kurz vor dem Smartphoneboom, verkaufte Siemens die Mobiltelefonsparte; 2009 stellte das Unternehmen die letzte deutsche und gleichzeitig letzte europäische Computerherstellung ein; mit der Ausgliederung des Speicherchipgeschäfts (über Infineon Technologies in Qimonda) ging die deutsche Chipherstellung 2009 in die Insolvenz. Selbst der finnische Mobiltelefonhersteller Nokia ist seit 2014 Teil der US-Firma Microsoft.

Mit Geräten amerikanischer Provenienz handeln wir uns mehr ein als nur gefälliges Design und raffinierte Funktionalität. "Die Entscheidung für bestimmte Formen von (…) Produktion und Konsum bringt immer auch eine bestimmte Kultur als Gesamtauffassung des Lebens zum Ausdruck." Jeder Klick auf "Search" oder "1-Click-Buy" ist auch ein kulturelles Bekenntnis. Wer der Weltanschauung hinter Big Data "Made in USA" auf den Grund gehen will, sollte sich deshalb die Letztbegründung für das Handeln dieser Firmen vergegenwärtigen. Sie lautet: free trade.

Cash is King?

Stellen wir einige rechtsphilosophische Überlegungen an, um ansatzweise die ideologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Big Data aufzunehmen. Jeden letzten Sonntag vor dem Advent, dem Christkönigstag, beendet die katholische Kirche das Kirchenjahr mit Blick auf den "letzten Menschen" in apokalyptischen Zeiten. Daran schließt sich, alle Jahre wieder, die Erwartung auf neues Leben an: Mit der Weihnacht wird Gott Mensch, glauben die Christen. Das wundersame Ereignis ist die Nobilitation des Menschen. Es muss etwas ganz Besonderes sein, wenn Gott Person wird und nicht Ding, nicht Baum oder Maschine. "Das Ding ist etwas, das sich schlechterdings nicht zum Ich machen lässt", bringt der Medientheoretiker H. Gerd Würzberg die Philosophie Friedrich Wilhelm Schellings auf den Punkt.

Dies spielt auch eine Rolle in der folgenden Anekdote, in der lediglich der Name des Protagonisten ausgedacht ist: Als Florian Mayhoff, langjähriger Entwicklungschef einer US-amerikanischen Softwareschmiede, an einem Montagmorgen nach dem Christkönigstag seine elektronische Post durchsieht, verlangt eine Nachricht seines Arbeitgebers besondere Aufmerksamkeit. "Die zehn Gebote unseres Unternehmens", heißt es provokant in der Betreffzeile. Erst vor wenigen Jahren hatte die Firma durch ihren Börsengang viel Geld von amerikanischen Anlegern eingeworben – und durch eigenartige Vorstandsentscheidungen rasch verbrannt. Jetzt wird der Hauptinvestor nervös und verlangt nach einem Exit. Dafür bietet es sich an, zwei Unternehmen, die sich in Schieflage befinden, zu verschmelzen. "Leichenfledderei", so kommentieren die beiden betroffenen Betriebe die geplante Transaktion mit der offiziellen Bezeichnung trade sale. Weil sie als zu kostspielig gelten, werden neue Forschungs- und Entwicklungsprojekte der Fusion zum Opfer fallen. Zugleich sollen amerikanische und europäische Technologen entlassen und ihre Arbeiten – samt Know-how – nach Fernost transferiert werden; das Management wird ausgetauscht. Nur Bestandskunden mit wiederkehrenden Umsätzen, die cash cows, sollen unter neuer Marke weitergeführt werden. Mayhoff öffnet die E-Mail. Kurz und prägnant springt ihn das erste Gebot des neuen Managements an: "Cash is king." Christkönig versus König Dollar? Hier prallt mehr aufeinander als die persönlichen Wertvorstellungen eines Mitarbeiters und der durch seinen Arbeitgeber verordnete Verhaltenskodex. Angesichts dieses Imperativs drängen sich Zweifel auf: Wie viel Unternehmensethos ist durchsetzbar angesichts des Umstands, dass nur der Einzelne, nicht eine kommerzielle Einrichtung, zu moralischem Handeln fähig ist – und hierzu nach seinem Gewissen frei sein sollte? Die Konsequenz folgt auf dem Fuße: Noch am selben Vormittag kündigt Mayhoff seinen gut bezahlten Arbeitsplatz mit der Aussicht auf nichts als eine ungewisse Zukunft. Ist das nun dumm und verrückt – oder eventuell Ausdruck eines transatlantischen Kulturkampfs jenseits persönlicher Befindlichkeiten?

Dignity versus Liberty

Als die Mütter und Väter des deutschen Grundgesetzes Artikel 1 formulierten und die Unverletzlichkeit der Menschenwürde mit Ewigkeitsgarantie festschrieben, stand ihnen das europäische Menschenbild vor Augen, so wie es sich historisch entwickelt hatte. Wem die "christliche Vorprägung der Gesellschaft" als eine "soziokulturelle Voraussetzung für den Verfassungsstaat" in säkularen Zeiten wie eine Zumutung erscheint, kann sich gleichermaßen auf das Erbe der Aufklärung Kant’scher Prägung zurückziehen: Sie stellt die Wissenschaft über den Glauben. Trotzdem definiert auch sie den Menschen als (Rechts-)Subjekt, das "mehr ist als eine Maschine". Das Individuum, eben die Person, macht die Dichotomie von Subjekt/Objekt vollständig, auf der unsere europäischen Rechtsordnungen aufbauen.

Das Verständnis vom Menschen als Subjekt mit einer unantastbaren Würde ist das zentrale "Supergrundrecht" unserer Verfassung, das sämtlichen Freiheiten des Menschen – Recht auf Privatsphäre, informationelle Selbstbestimmung und Kontrolle über persönliche Daten, Recht auf negative, diskriminierungslose Freiheit von der digitalen Partizipation – zugrunde liegt. Dabei ist das Menschenbild, das die europäischen Verfassungsstaaten voraussetzen, nicht notwendigerweise identisch mit dem Verfassungsverständnis anderer Länder. So folgen die USA diesem gerade nicht: In ihrem Fokus stehen nicht primär die Menschenwürde und sein subjekthafter Rechtsinhaber, sondern die Freiheit – Freiheit jedoch im Sinne von liberty als Bürgerrecht des Individuums, das "frei ist von gesetzlicher Regulierung", nicht freedom als "Unabhängigkeit".

Welche Konsequenzen dieser relative Unterschied nach sich zieht, zeigte jüngst die Debatte um den hack von Sony Pictures. Genötigt durch unbekannte Kriminelle, sah das Unternehmen im Dezember 2014 zunächst davon ab, die Komödie "The Interview" – eine Satire über den nordkoreanischen Staatschef Kim Jong-un – an den Kinostart zu bringen. Hacker, die sich selbst als "Guardians of Peace" bezeichnen, hatten der Presse gestohlenes Datenmaterial zugespielt. Auf diese Weise waren nicht nur Details des Films, sondern auch E-Mails von Sony-Mitarbeitern mit brisanten, spöttischen und beleidigenden Inhalten sowie Auszüge aus Personalakten mit Gehaltsdetails oder Einzelheiten über die Familien und Krankheiten von Angestellten öffentlich geworden. Als Sony Pictures schließlich begann, sich gegen die Veröffentlichung sensibler Personaldaten juristisch zur Wehr zu setzen, kam in der US-Presse die Frage auf, ob die Publikation gestohlener Daten von der Redefreiheit, der im ersten Zusatzartikel der US-Verfassung garantierten free speech, geschützt sei. Übereinstimmend lautete die Antwort meist: Ja. "E-Mail is not private." Die Redefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information seien höher zu bewerten als das Recht des Einzelnen auf Diskretion.

Uns kommt dabei sofort der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden in den Sinn – könnte er sich nicht genauso auf die Redefreiheit berufen wie die amerikanische Presse beim Sony-Datenklau? Tatsächlich scheint die Rechtslage nicht völlig klar zu sein. Zwar schränken die USA den ersten Zusatzartikel 1917 mit dem Espionage Act ein, der Auslegungen erlaubt, die selbst nach Ansicht amerikanischer Experten sehr weit gehen. Gleichzeitig regt sich Widerstand, eine Art Intuition: Kann es richtig sein, "gestohlene" personenbezogene Daten zu veröffentlichen? Von Intuition spreche ich deshalb, weil sich der Begriff der Privatsphäre nicht nur im Laufe der Zeit, sondern auch in verschiedenen Ländern und Kulturen unterschiedlich entwickelt hat. Während in den USA unter Privatsphäre vielfach vor allem die Unverletzlichkeit des eigenen Heims und des persönlichen Eigentums verstanden wird, geht es auf dem europäischen Kontinent in der Regel vielmehr um Geistiges: um die Würde, die allen gleichermaßen zugestanden werden müsse, und um das Recht auf ungehinderte Selbstverwirklichung. Gerade Letztere wurzelt ganz in der Idee des christlichen Humanismus. Zur Selbstverwirklichung gehört die Kontrolle über das eigene Bild, den Namen und den eigenen guten Ruf, wie er im Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung zum Ausdruck kommt. Gemeint ist die Kontrolle über den eigenen öffentlichen Menschen, so wie ihn jeder von uns zu kommunizieren wünscht. Die unerlaubte Veröffentlichung von E-Mail-Inhalten wäre deshalb nach europäischem Verständnis undenkbar.

Dass die Freiheit der Berichterstattung in einem Spannungsfeld mit dem "unantastbaren innersten Lebensbereich" steht, ist dennoch auch in Europa zweifelsfrei, weshalb man schon bei der Festschreibung der Pressefreiheit in Frankreich 1868 um die Güterabwägung gerungen hat. Grundsätzlich war die Presse frei, doch die Darstellung eines fait de la vie privée, einer "privaten Angelegenheit", war ein strafbarer Akt. Die Presse war gerade nicht völlig frei von jedweder Regulierung – ein Umstand, der mit dem US-amerikanischen Verständnis von liberty unvereinbar ist.

Free Trade

Auch der "freie Markt", free trade, gilt nach kontinentalem Verständnis als Einschränkung der Selbstbestimmung des Subjekts. Die Selbstbestimmung, so die deutschen Philosophen seit 1880, sei durch die Idee des ökonomischen Liberalismus eines Adam Smith bedroht, weil der Laissez-faire-Markt zu Armut und Unterdrückung führe. Entfaltungsmöglichkeiten stelle er nicht bereit, vielmehr führe die Erzeugung künstlicher Bedarfe dazu, dass der Mensch verlerne, seine wahren Bedürfnisse zu benennen, was die Heranbildung einer reifen Persönlichkeit verhindere. Deshalb auch hier der deutsche Sonderweg der staatlichen Rahmenbedingungen: Ab 1880 wurden Vorschriften zur Sozialversicherung und zum Kartellrecht eingeführt. Mit seinem Ordoliberalismus, der sozialen Marktwirtschaft, hat Ludwig Erhard diese philosophische Tradition weitergeführt und das Selbstentfaltungsrecht des Subjekts geschützt – und nebenbei mit der Einbringung des Subjekts in die Ökonomie auch Ethik und Moral in der Wirtschaft verankert. Der EU-Vertrag von Lissabon von 2007 legte die soziale Marktwirtschaft als wirtschaftliches Leitbild auch für Europa fest.

Dem Marktgeschehen Grenzen setzen? Undenkbar für das in den USA vorherrschende Verständnis vom free trade, demzufolge jede staatliche Regulierung als illegitime Handelsbeschränkung aufgefasst wird. Deshalb handelte man in den USA schon lange vor Big Data unbekümmert mit Daten zur Kreditwürdigkeit jedes US-Konsumenten. Der Zugang zu den Daten erleichtere den Konsumenten die Teilnahme am Markt, so die Begründung, schließlich erhalte man schneller Kredit. Free trade als Letztbegründung für die Erfassung, die Speicherung und den Handel mit Big Data hebt die Rechte des Menschen auf eine selbstbestimmte Zukunft auf, indem sie ihn zum Gegenstand des Wirtschaftens verkürzt. Entsprechend der Theorie des Pragmatismus gilt: Gut ist alles, was nützt; am besten ist, was finanziell nützt. Der Erfolg rechtfertigt alles, und maximaler Profit ist Ausdruck von Erfolg. Bemerkenswert ist allerdings, dass auch die amerikanische Haltung auf ein bestimmtes Religionsverständnis zurückgeht: Es ist die calvinistische Idee, dass derjenige von Gott besonders gesegnet sei, der Reichtum erlangt habe. Reichtum gilt als besondere Gnade "von oben". Auch deshalb ist die Profitmaximierung erstrebenswert. Und Regulierung beschränkt eben die Möglichkeit, Profit zu machen. Bei Big Data treten die unterschiedlichen transatlantischen Auffassungen vom Markt besonders deutlich hervor. Hier prallen US-amerikanische Profitmaximierung und die "Lebensdienlichkeit" des europäischen Marktgeschehens aufeinander.

Primat der Technik, Illusion von Freiheit

Der Mensch ist Quelle und Ziel von Big Data "Made in USA", der Optimierung vollzogen durch Algorithmen am Algorithmus "Mensch". Ja, das bringt Profit. Tatsächlich sind unsere persönlichen Daten, erhoben für geringe Gegenleistung, die Wirkursache sagenhafter Umsätze und Gewinne global agierender Internetgiganten. Doch die algorithmische Behandlung des Menschen verstößt gegen die Menschenwürde. Im Zusammenhang mit der datenmäßigen Analyse des Menschen hielt das Bundesverfassungsgericht schon 1969 fest: "Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, (…) den Menschen (…) in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist." Genau darum und um noch viel mehr geht es aber bei Big Data. Big Data spricht dem Menschen die Subjekteigenschaft ab und ordnet ihn der Technik unter – mit allen Konsequenzen für den Einzelnen und seine Rechte, für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Big Data objektiviert den Menschen und zieht ihn in dieselbe Sphäre hinein, in der sich auch die intelligenten Maschinen der Analysen und Kontrollstrategien befinden. Das Subjekt und seine Freiheitsrechte erodieren, mit ihm die soziale Marktwirtschaft und, wie nebenbei, auch Ethik und Moral ökonomischen Handelns.

Der Mensch ist Schöpfung, mahnt deshalb auch der Silicon-Valley-Internetpionier und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Jaron Lanier. Nur: Mainstream ist das nicht. Wieso, fragen sich die Konsumenten, debattieren wir in einer Ära, in der die weltweite Vernetzung der Märkte zur maximalen Auswahl an Waren führt, über schwindende Freiheit? Nie schien unsere Freiheit größer als heute, zwischen Produkten und Dienstleistungen zu wählen. Die langen Schlangen vor den Apple-Shops bei jeder Neuausgabe des schicken iPhones, die Verkaufserfolge der Gesundheitsarmbänder zur Selbstoptimierung und zahlreiche neue Geschäftsmodelle rund um die Überwachung sprechen für eine Güterabwägung gegen das Subjekt und für den free trade. Doch er ist nichts weiter als die Illusion von Freiheit: die "Freiheit" des Konsumenten.

"Wenn es mir nützt, sollen sie doch alle meine Daten haben." Der Satz fällt immer häufiger in Europa. Wir begrüßen die Konsumorientierung und nehmen dafür die Dauerüberwachung, den zunehmenden Zwang zu Wohlverhalten, die Pflicht zur digitalen Partizipation und den Druck, immer mehr und immer Neues mitzumachen und stets mehr zu wollen, in Kauf. Der Sinn für Menschenwürde und Freiheit, er ist im Verfall begriffen. Tragisch ist, wie leicht uns der klassische Denkfehler des Kapitalismus, den Menschen zum Objekt der Wirtschaft zu machen, auch heute noch zu täuschen vermag und so die gewünschte zerstörerische Kraft des Silicon Valley freisetzt: Mit Big Data marginalisieren wir unsere soziale Marktwirtschaft, die "soziale Demokratie", wie der Netztheoretiker Evgeny Morozov unser kontinentales Gesellschaftssystem bezeichnet. Statt die soziale Marktwirtschaft des digitalen Zeitalters als vernunftbegabte Wirtschaftssubjekte und "zur Kooperation und zum Wettbewerb fähiger Menschen" zu gestalten, macht uns die Ideologie des globalen Kapitalismus zu konsumorientierten Hedonisten, zu "passiven Nihilisten", die für nichts mehr ihr Leben riskieren, so der Psychoanalytiker Slavoj Žižek.

Doch der Sonderweg der sozialen Marktwirtschaft ist so wertvoll, dass wir ihn mit aller Risikobereitschaft verteidigen sollten. Und hier schließt sich der Kreis zu Florian Mayhoff, unserem Helden der Unsicherheit. Spontan einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu kündigen, nur weil man dem US-amerikanischen Pragmatismus nicht zustimmte, war riskant und naiv. Doch nur Naivität lässt Wunder zu. Auch nach seiner Kündigung war Florian Mayhoff keinen Tag ohne Arbeit. Das Mirakel: Ausländisches Risikokapital verhalf ihm zur Realisierung einer großen Idee – Big Data für die Industrie, heute mit dem Begriff der "Industrie 4.0" versehen. Statt Menschen werden dabei Industrieanlagen algorithmisch überwacht, vorausschauend gepflegt und automatisch gesteuert. Das war vor zwölf Jahren, und es zeigt: Man muss nicht Menschen überwachen und steuern, um profitable Geschäftsmodelle für die Künstliche Intelligenz zu finden. Aber wenn man das will, dann muss man den Menschen weitgehend schützen.

Geb. 1966; Juristin; Geschäftsführerin des Technologieunternehmens Teramark Technologies, Dreiseithof Hofbauer Unit E, Marchenbacher Straße 12, 85406 Zolling/Freising. E-Mail Link: yvonne.hofstetter@teramarktechnologies.com