Wehrmachts- und Besatzungskinder: Zwischen Stigmatisierung und Integration
Am 8. Mai 2015 jährt sich zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. Zahlreiche Gedenkfeiern und wissenschaftliche Tagungen über die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus sind zu erwarten, aber noch immer gibt es Bevölkerungsgruppen, die als sogenannte Kollateralschäden des Krieges aus dem kollektiven Gedächtnis der Nationen schlichtweg herausfallen. Während und nach jedem Krieg haben Besatzungssoldaten mit einheimischen Frauen Kinder gezeugt, die "Kinder des Krieges".[1] Für den Zweiten Weltkrieg gilt das sowohl für Soldaten der deutschen Wehrmacht in den okkupierten Gebieten als auch für Angehörige der alliierten Streitkräfte (sowjetische, britische, US-amerikanische, französische). Zwar schenken sowohl Gesellschaft als auch Forschung den Schicksalen der Wehrmachts- und Besatzungskinder im Vergleich zu anderen Thematiken des Zweiten Weltkriegs bis jetzt relativ wenig Aufmerksamkeit, aber in den zurückliegenden zehn Jahren hat das Interesse doch zugenommen, was sich etwa an der steigenden Anzahl neuer wissenschaftlicher Publikationen und autobiografischer Zeugnisse zeigt.[2]Die genaue Anzahl der Wehrmachts- und Besatzungskinder ist nicht bekannt. Auf der Basis von unterschiedlichen Dokumenten und Quellen sind Schätzungen vorgenommen worden, die jedoch sehr verschieden ausfallen, je nachdem in welchem Land die Kinder geboren wurden und wie sich die Situation zwischen der Besatzungsmacht und den Einheimischen gestaltete. Während zum Beispiel in Norwegen 8000 Wehrmachtskinder[3] durch den von der SS getragenen Lebensborn registriert wurden, gibt es für Wehrmachtskinder, die in den sogenannten Ostgebieten geboren wurden, kaum Dokumente. In der DDR wurden im Interesse der deutsch-sowjetischen Freundschaft nie offiziell Zahlen erhoben, in der Bundesrepublik wurden 1956 lediglich die unter Vormundschaft stehenden unehelichen Besatzungskinder erfasst.
Neben den nachträglich für ehelich erklärten Kindern gibt es noch eine weitere Gruppe von Besatzungskindern, die in dieser Erhebung nicht auftauchen, und die auch in anderen europäischen Staaten in der Regel nicht erfasst werden konnten. Gemeint sind die Kinder, die innerhalb bestehender Ehen geboren wurden. Über diese Kinder konnte die Forschung kaum etwas in Erfahrung bringen, weil die Mütter aus Angst vor Repressalien die Herkunft ihrer Kinder geheim hielten.
Auch wenn die mittels Schätzungen erhobenen Zahlen mit Einschränkungen behaftet sind, zeigen sie doch, dass es sich bei den Kindern des Krieges nicht um eine kleine Gruppe handelt. So wird zum Beispiel geschätzt, dass in Norwegen 10000 bis 12000 Wehrmachtskinder geboren wurden, in Dänemark 6000 bis 8000, in den Niederlanden 12000 bis 15000 und bis zu 200000 in Frankreich.[4] Aber es ist anzunehmen, dass es Wehrmachtskinder in allen okkupierten Gebieten gibt, von Norwegen bis Nordafrika und von Jersey bis in die Sowjetunion. Gleichermaßen wurden in Deutschland und Österreich überall dort Besatzungskinder geboren, wo alliierte Truppen stationiert waren. So geht man zum Beispiel in Westdeutschland von rund 67000 Besatzungskindern aus[5] und in Österreich von mindestens 20000 Kindern, die einen Rotarmisten zum Vater haben.[6]
Beziehungen zwischen ausländischen Soldaten und einheimischen Frauen
Nicht alle Wehrmachts- oder Besatzungskinder entstanden in einer einvernehmlichen sexuellen Begegnung oder gar einer Liebesbeziehung. Die Grenze zwischen freiwilligen und erzwungenen sexuellen Kontakten zwischen Besatzern und einheimischen Frauen gestaltete sich in allen kriegsteilnehmenden Staaten fließend. Neben flüchtigen sexuellen Begegnungen und wirklichen Liebesbeziehungen existierten auch Überlebensstrategien wie der Tausch von Sex gegen Ware oder Geld. Überlebensprostitution war in den meisten Fällen keine "freiwillig" getroffene Entscheidung der Frauen. Sexuelle Gewalt wurde wohl von allen Krieg führenden Parteien ausgeübt, obwohl für die Wehrmacht bislang nur eine explizite Untersuchung für die Sowjetunion vorliegt.[7] Für das Gebiet der Bundesrepublik wurden fast nur die Massenvergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee erforscht.[8] Auch wenn die Zahl der durch US-amerikanische Besatzungssoldaten verursachten Vergewaltigungen deutlich unter denen der Rotarmisten lag, so geht doch eine neuere Untersuchung von immerhin 11000 Fällen bis September 1945 aus.[9] In den zitierten Studien werden die prekären Lebenssituationen der vergewaltigten Frauen nachgezeichnet. Die Bedingungen, unter denen die gewaltsam entstandenen Kinder aufwuchsen, werden jedoch kaum thematisiert, obgleich beide Themen schwer voneinander zu trennen sind.Selbst wenn die Kinder aus einer Liebesbeziehung hervorgingen, wie dies beispielsweise häufig in Norwegen der Fall war, gestalteten sich ihre Lebensumstände alles andere als einfach. Aus deutscher Sicht waren Kontakte zu Norwegerinnen erwünscht, da diese als "arisch" galten. Somit wurden Beziehungen und Schwangerschaften mit Wohlwollen gesehen, was in vielen anderen besetzen Gebieten nicht der Fall war. Obwohl es in Norwegen nicht verboten war, eine Beziehung mit einem deutschen Soldaten einzugehen, wurde vielen "Deutschenmädchen" am Kriegsende "unnationales Verhalten" vorgeworfen. Ihnen wurde der Kopf kahlgeschoren, sie wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen und im Fall einer Heirat mit ihrem deutschen Freund verloren sie die norwegische Staatsbürgerschaft.[10]
Auch in anderen von den Deutschen besetzten Ländern erlebten viele Frauen nach dem Krieg Ähnliches. Im Falle einer Mutterschaft übertrugen sich die Einstellungen gegenüber den Müttern auf die Kinder, und die meisten Kinder waren in ihrer Familie, in der Nachbarschaft, in der Gemeinde und in Institutionen wie der Schule Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausgesetzt. In Deutschland erlaubten die strengen Fraternisierungsverbote den Männern beziehungsweise Vätern anfänglich nicht, sich zu ihren Beziehungen zu bekennen. Ende des Jahres 1946 hob der US-Kongress das Heiratsverbot zwischen amerikanischen Soldaten und deutschen Frauen schließlich auf. Bis Juni 1950 wanderten 14175 deutsche – als war brides titulierte – Frauen und 750 Kinder von Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte in die USA aus.[11] Aufgrund der strengen Segregationsbestimmungen in den USA verweigerte aber die Militärregierung oftmals die Zustimmung zu einer "Mischehe" zwischen "Schwarzen" und "Weißen".
Über den Umgang mit Eheschließungen in der britischen und französischen Besatzungszone ist bislang wenig bekannt. Angehörige der Roten Armee wurden mit Bekanntwerden der Schwangerschaft zumeist umgehend versetzt.[12] Anspruch auf Unterhalt konnten die Frauen nicht erheben. Erst 1952 wurde im Rahmen des Vertrags über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den drei Mächten ("Deutschlandvertrag") festgelegt, dass deutsche Gerichte Angehörige der alliierten Streitkräfte auf Unterhaltszahlungen verklagen durften, wenn sich die Beklagten in Deutschland aufhielten. Das schränkte die Zahl der Erfolg versprechenden Klagen von vornherein ein. Die Regelung trat zudem erst 1955 in Kraft und galt nur für Kinder, die nach dem Stichjahr geboren wurden. Da die ersten Besatzungskinder im August 1945 geboren worden waren und die Besatzungszeit offiziell mit der Unterzeichnung der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 endete, konnten die Mütter von Besatzungskindern von dieser Regelung nicht profitieren.[13] Schwierig und zäh war auch der Prozess um Unterhaltszahlungen für norwegische Wehrmachtskinder, obwohl laut norwegischem Gesetz die Erzeuger unehelicher Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr des Kindes unterhaltspflichtig waren. Der größte Anteil der Wehrmachtskinder erhielt keine Alimente, da der norwegische Staat die Vorschussregelung zur Unterhaltszahlung so gestaltete, dass die meisten Wehrmachtskinder davon ausgeschlossen waren.[14] Viele dieser Kinder wuchsen daher unter wirtschaftlich prekären Bedingungen auf.
Während die amerikanischen, britischen und sowjetischen Militärbehörden in Nachkriegsdeutschland wenig Interesse an den von ihren Soldaten gezeugten Kindern zeigten, war der französische Staat ausgesprochen bemüht, "seine" Kinder einzugemeinden. Laut französischem Recht hatten die Kinder Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft.[15] Gleichzeitig wurden Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, – wie auch in Norwegen – als Kollaborateurinnen verfolgt und der beschämenden Prozedur des Kahlscherens unterzogen. Die aus Verbindungen mit deutschen Soldaten hervorgegangenen Kinder wurden nicht als "richtige" Franzosen begriffen, sondern als enfants maudits (verfluchte Kinder) geschmäht.[16]