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Wie geht es weiter mit der Qualitätssicherung im Bildungssystem – 15 Jahre nach PISA? – Essay | Qualitätssicherung in der Bildung | bpb.de

Qualitätssicherung in der Bildung Editorial Wie geht es weiter mit der Qualitätssicherung im Bildungssystem – 15 Jahre nach PISA? Es könnte alles so schön sein. Qualitätsmanagement als Motor für die Ganztagsschule Qualitätssicherung in der betrieblichen Bildung: Komplexe Anforderungen an alle Akteure Beschäftigungsfähigkeit als Bildungsziel an Hochschulen New Public Management an Hochschulen: wissenschaftsadäquat? Dem Rechtsextremismus wirkungsvoll begegnen: Gelingensbedingungen in der Fortbildung von Multiplikator(inn)en

Wie geht es weiter mit der Qualitätssicherung im Bildungssystem – 15 Jahre nach PISA? – Essay

Ewald Terhart

/ 17 Minuten zu lesen

Sowohl hinsichtlich ihrer erhofften positiven als auch ihrer befürchteten negativen Auswirkungen werden Vergleichsstudien wie PISA zum Teil überschätzt. Auch deshalb sollten einige Empfehlungen für zukünftiges Bildungsmonitoring beachtet werden.

Seitdem Deutschland wieder an internationalen Vergleichsstudien zu Schülerleistungen teilnimmt, also seit nunmehr knapp zwei Jahrzehnten, wurden die Bildungspolitik, die Bildungsadministration und auch die Bildungsforschung in diesem Land auf eine neue Grundlage gestellt. Das überraschend schlechte Abschneiden der Fünfzehnjährigen im Jahre 2000 führte auf allen Ebenen des Bildungssystems und bei fast allen beteiligten Institutionen zu vermehrten Anstrengungen, die Qualität des schulischen Lernens in Prozess und Ergebnis zu verbessern. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat damals sieben Handlungsfelder von Vorschulerziehung bis Lehrerbildung definiert; die Qualitätssicherungsstrategie umfasste vier Instrumente: internationale Schulleistungsuntersuchungen, zentrale Überprüfung des Erreichens der Bildungsstandards im Ländervergleich, Vergleichsarbeiten in Anbindung an die Bildungsstandards zur landesweiten Überprüfung der Leistungsfähigkeit einzelner Schulen und gemeinsame Bildungsberichterstattung von Bund und Ländern.

Dies alles ist anderenorts mehrfach ausführlich beschrieben worden und braucht hier nicht rekapituliert zu werden. Wichtig ist sicherlich der Hinweis darauf, dass seit 2002 begleitende Analysen und vertiefende empirische Studien zur Erforschung des Bildungs- und Schulsystems durchgeführt wurden, die das Wissen über seinen Zustand sowie manche seiner inneren Prozesse und Zusammenhänge beträchtlich erweitert haben. Durch diese Analysen sowie durch die zunehmende Ausdifferenzierung der internationalen und nationalen Vergleiche wurden bestimmte Besonderheiten des deutschen Bildungssystems sehr deutlich – im Guten wie im Schlechten. Zugleich wurde hierzulande die Bezugnahme auf international anerkannte und übliche Konzepte der Erforschung und Überprüfung von Bildungsprozessen und deren Organisation internationaler – von vielen begrüßt, von manchen kritisiert. Das bedeutet: Heute können Bildungspolitik und Bildungsadministration auf ein sehr viel breiteres, wissenschaftlich tiefer gehendes und besser abgestütztes Wissen zum Bildungssystem, zu Bildungsprozessen und zu Bildungsergebnissen zurückgreifen als noch vor zwei Jahrzehnten. Und entscheidend ist: Der Wille, hierauf zurückzugreifen und das Expertenwissen in politische und administrative Strategien einfließen zu lassen, ist seit dem damaligen "PISA-Schock" präsent – und hält an. Insgesamt sind durch diese Entwicklung Bildungsfragen und Bildungspolitik wieder zu einem zentralen öffentlichen Diskursthema geworden, das positiv besetzt ist – bis heute.

Leistungsvergleichsstudien bewerten und auswerten

Mittlerweile haben sich Öffentlichkeit, Politik und pädagogische Praxis an PISA & Co. gewöhnt. Es gibt keine Schockwellen mehr; PISA ist Normalität, und das ist gut so. Verantwortlich dafür ist erstens eine gewisse Gewöhnung an Leistungsvergleichsstudien, zum zweiten sind es mittlerweile die Ergebnisse selbst: Von PISA 2000 bis PISA 2012 hat sich die Position der deutschen Fünfzehnjährigen langsam aber stetig verbessert und liegt jetzt leicht oder deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Diese Steigerung ist im Wesentlichen auf die Verkleinerung der bekannten "Problemgruppe" von 25 Prozent Nicht- oder Kaum-Lesern im Jahre 2000 auf rund 17 Prozent im Jahre 2012 zurückzuführen. Das ist eine sozialpolitisch und für die Individuen selbst sehr wichtige und positive Entwicklung, die dazu motiviert, diesbezüglich weitere Anstrengungen zu unternehmen, denn es wird deutlich, dass sich hier – wenngleich in kleinen Schritten – eben doch etwas bewegen lässt!

Dabei hatte sich von Beginn an auch eine Abwehrhaltung gegen solche Verfahren des Bildungsmonitorings beziehungsweise gegen die zugeordnete Bildungsforschung entwickelt, die allerdings verschiedene Formen annehmen konnte:

  • Eine grundsätzliche Abwehrlinie war gestern, ist heute und auch in Zukunft fundamental dagegen. Von Vertreter(innen) dieses Bildungs-, Schul- und Forschungsverständnisses aus betrachtet ist "nach PISA" die Bildungsentwicklung komplett in die Irre gegangen – im besten Fall wirkungslos, im schlechten Fall aber mit Schaden für die Bildung.

  • Eine weniger grundsätzliche Abwehrlinie hat die Ergebnisse und auch die Intensivierung der Bildungsforschung zwar akzeptiert, ja teilweise begrüßt, hat aber doch kritisiert, dass durch ständiges Messen ("Testeritis") die Realität und die Lernergebnisse noch nicht verbessert würden. Es müsse mehr in Strategien der Veränderung investiert werden.

  • Eine dritte Abwehrlinie zeigt sich zunehmend ermüdet angesichts der zunächst für Deutschland immer gleichen und immer schlechten Ergebnisse und Platzierungen. So etwas brauche man wirklich nicht in Permanenz!

Die erstgenannte Form der Abwehr wird immer bleiben, die zweitgenannte hat sich vielleicht auch angesichts gewisser Erfolge abgeschwächt, und die drittgenannte ist nach den langsam, aber konstant besseren Ergebnissen entkräftet worden beziehungsweise beinahe zusammengebrochen.

Die beruhigende Wirkung einer leicht positiven Entwicklung scheint mittlerweile in der Tat vieles in ein helleres Licht zu setzen. Einzelne Stimmen oder Gruppen, die mehr oder weniger offen einen Ausstieg aus dem Zyklus der immer gleichen und weiterhin frustrierenden PISA-Ergebnisse gefordert haben, sind verstummt beziehungsweise verlieren an Gehör. Dabei liegt in dieser untergründigen Stimmung der Selbstzufriedenheit – Warum sollen wir jetzt aufhören, wenn gerade die Werte immer besser werden? – durchaus eine gewisse Gefahr: Das Bewusstsein für die Fragilität der Entwicklung geht womöglich verloren, sehr viele dahinterliegende alte und neue Einzelprobleme geraten durch den Eindruck des allmählichen aber stabilen Erfolgs aus dem Blick; man richtet sich im Bisherigen ein und verlangt "mehr davon". Dabei ist allein die Frage nach den Gründen für die steigenden Werte ebenso spannend wie schwer zu beantworten. Ich stütze mich auf entsprechende Passagen in einem Vortrag von Jürgen Baumert. Dort werden folgende Erklärungsfaktoren genannt:

  • Seit 2000 ist der Anteil der Gymnasiast(inn)en gestiegen, zugleich konnten die Standards gehalten werden. Da Gymnasien eine vergleichsweise förderliche Lernumgebung bieten, steigt mit dem Anteil auch die durchschnittliche Gesamtleistung – sofern und solange Standards gehalten werden.

  • Seit 2000 ist ein Trend zu verzeichnen, dem zufolge die erfassten Fünfzehnjährigen sehr viel deutlicher als früher in der "passenden" Jahrgangsstufe versammelt sind. Dies hat ebenfalls zu einer Verbesserung der Werte beigetragen.

  • Seit 2000 hat es durch Änderung der Zuwanderungsregelungen Verschiebungen bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gegeben, die ebenfalls zur Anhebung des Durchschnitts beigetragen haben.

  • Es ist möglich, dass diese Wandlungsprozesse nur Indikatoren für andere, dahinter liegende (nicht erkannte) Entwicklungen sind.

Baumert kommt unter Rekurs auf Analysen des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) zu dem Schluss, dass etwa 80 Prozent der Verbesserung auf solche strukturellen Faktoren zurückzuführen sind und 20 Prozent auf dezidierte bildungspolitische Maßnahmen. Das ist eine nachdenklich stimmende Aussage, die man unterschiedlich bewerten kann. 20 Prozent sind einerseits nicht viel; andererseits ist dieser Anteil angesichts der Verworrenheit der Beeinflussungs- und Wirkungsverhältnisse im Bildungssektor doch schon bemerkenswert. Und schließlich ist nicht ganz klar, wie man zwischen anonym-strukturellen (aber irgendwie doch auch durch andere Politikbereiche beeinflussten) gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und demografischen Eigendynamiken einerseits und gezielten bildungspolitischen und -administrativen Maßnahmen andererseits unterscheiden kann.

Large Scale versus Small Scale

Neben diesen Erklärungsproblemen, die die Large-scale-Forschung schon immer begleiten, wird vor allem auf der unteren Ebene der Bildungsadministration, von den Lehrerverbänden und Sprecher(inne)n pädagogischer Berufe der konkrete Gebrauchswert der auf der Large-scale-Ebene gewonnenen Ergebnisse bezweifelt. Was geben sie her für die in den Klassen- und Lehrerzimmern, in den Büros von Schulleitern und Schulverwaltungsbeamten anstehenden Entscheidungen? Sofern sich diese Vorwürfe speziell gegen large scale richten, sind sie nicht berechtigt, denn aus alle drei Jahre erfolgenden Momentaufnahmen zum Leistungsstand kann man zwingend weder Ursachen noch konkrete Maßnahmen ableiten; dies ist jedem Kenner der Materie schon immer klar gewesen und vielfach ausformuliert worden. Bei flächendeckenden Lernstandserhebungen sowie bei Schulinspektionen sieht das jedoch schon anders aus, handelt es sich hier doch um Monitoring- und Qualitätsermittlungsverfahren, die nicht auf Stichproben, sondern Vollerhebungen basieren und die unmittelbare Arbeitsebene in den Institutionen erreichen.

Und genau hier, an der Kontaktstelle zwischen Bildungsmonitoring und pädagogischer Praxis selbst, also dort, "where the rubber meets the road", wie es ein amerikanischer Bildungssoziologe plakativ formulierte, wird über den Erfolg, Teilerfolg oder Misserfolg von Qualitätssicherung entschieden: Wenn nämlich aus den Daten und Erkenntnissen über den Zustand oder Erfolg einer Maßnahme, einer Institution, einer Schulklasse, eines Unterrichts entweder die richtigen, die falschen oder gar keine Konsequenzen gezogen werden beziehungsweise gezogen werden können.

Dieses Problem soll am Beispiel der flächendeckenden Lernstandserhebungen verdeutlicht werden: Sie werden mittlerweile seit mehr als acht Jahren praktiziert, parallel wurde eine Reihe von empirischen Studien über den Umgang der Schulen und Lehrerkollegien mit an sie zurückgemeldeten Daten durchgeführt. Die Ergebnisse sind sehr ernüchternd: Nur unter besonders günstigen äußeren Bedingungen der Schule und einer positiven Haltung von Lehrkräften zu solchen Qualitätssicherungsmaßnahmen lässt sich erkennen, dass Qualitätsdiagnose auch in Qualitätsverbesserung auf Alltagsebene übergeht. Diese idealen Bedingungen existieren jedoch zu selten. Umgekehrt muss eben auch gesehen werden, dass im schlechten Fall die Dinge gar nicht adäquat zurückgemeldet werden, bei den Akteuren nicht ankommen oder – falls doch – dort als Kontrolle von Außen und Oben sowie als Einengung der individuellen beruflichen Handlungsautonomie wahrgenommen werden. Wissenschaftliche Evidenz wird als ungeeignete und unpassende Basis für eigenes berufliches Handeln betrachtet; evident ist dann nur das, was man selbst in seiner Schule, seiner Klasse erlebt hat und täglich erlebt. Wie überall bei Prozessen organisierten Wandels muss mit "Implementationsuntreue", das heißt mit Indifferenz, Scheinerfüllung, passivem und aktivem Widerstand oder Obstruktion (beispielsweise durch lächerlich machen oder Verachtung gegenüber der gutwilligen Reform-Fraktion im Lehrerzimmer) gerechnet werden. Datengetriebene Unterrichtsentwicklung mag im bildungswissenschaftlichen Forschungsinstitut oder in einer landeseigenen Qualitätsentwicklunsgsagentur in sich stimmig und überzeugend sein; von der gewöhnlichen XYZ- und 08/15-Schule wird sie (zu) häufig als eine Fremdbestimmung erlebt, vor der man sich wegduckt und allenfalls formal Vollzug nach oben meldet.

Das sind alles keine Argumente gegen Qualitätssicherung oder gegen empirische Bildungsforschung oder gar generell gegen die seit 15 Jahren betriebene neue Form der an Standards orientierten Bildungsentwicklung. Die "seit PISA" bestehende Fundamentalkritik an allen tatsächlichen Problemen oder vermeintlich negativen Folgen von PISA ist übrigens auch keineswegs so durchschlagend, dass, wie von Andreas Gruschka nahegelegt wird, die empirische Bildungsforschung bereits am "Ausgang ihrer Epoche" steht. Empirische Forschung zu solchen Lernstandserhebungen hat schließlich selbst darauf aufmerksam gemacht, dass der entscheidende Kontaktschluss eben vielfach nicht stattfindet, das Qualitätssicherungssystem mithin bislang seinen Gegenstandsbereich nicht so erreicht, wie man sich das wünschen würde. Das bedeutet erstens: Sehr viel stärker als bisher sollte untersucht werden, wie Qualitätssicherungsimpulse in die Qualität verbessernden Maßnahmen und Prozessen überführt werden können. Zweitens liegt darin auch die Aufforderung an die Schulpolitik, solche Techniken dann in den Schulen auch tatsächlich zu verbreiten: Das Ganze auf die reformresistenten Lehrkräfte zu schieben, ist zu einfach und gleitet in die übliche Lehrerschelte ab; die Verantwortlichen müssen eben auch die Bedingungen schaffen, damit nicht nur die schon immer Reformengagierten, sondern auch die zögerlichen Lehrkräfte einsteigen.

Was leistet Bildungsmonitoring und was nicht?

Die Idee eines breit angelegten, empirisch fundierten Bildungsmonitorings sowie das Konzept einer Bildungspolitik und -administration, die hieraus Konsequenzen ziehen, um damit eine Verbesserung der Bildungsqualität zu erreichen, war und ist also weiterhin im Prinzip die richtige Idee beziehungsweise Strategie. Allerdings müssen sich alle Beteiligten bei der Rückschau und bei der Vorausschau vor Augen halten, dass die Dinge sich sehr viel langsamer, sehr viel undurchsichtiger und manchmal auch paradoxer entwickeln, als man sich dies in der idealen, rechtwinkligen Welt von Innovationsmodellen vorgestellt hat. Außerdem bedürfen Maßnahmen der ständigen Begleitung und Nachsteuerung, da sie sich eben in einem sich ständig verändernden Umfeld bewegen und dieses ebenfalls verändern.

Vor allem diejenigen Angriffe auf Qualitätssicherung und Bildungsforschung gehen ins Leere, die die Unterschiedlichkeit der Wissensformen nicht berücksichtigen: Bildungsmonitoring liefert Diagnosewissen; vertiefende Analysen liefern Erklärungswissen; Ergänzungsstudien sind darauf gerichtet, Handlungswissen bereitzustellen. Man kann nicht gleichzeitig alles von jeder Art von Forschung erwarten. Darüber hinaus gilt weiterhin die schon recht betagte Erkenntnis, dass es kein Rationalitätskontinuum zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Erkenntnis und Gestaltung, zwischen Denken und Tun gibt. Der Öffentlichkeit, den Eltern, den Politikern, den Lehrkräften ist eben vielfach anderes "evident" als dem Bildungsforscher. Oder anders gesagt: Im Übergang vom Diagnose- zum Erklärungs- zum Handlungswissen werden die Dinge immer schwieriger, komplexer und riskanter. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass sich bei zunehmender Annäherung an die Handlungsebene der Akteure und an den Vollzug der pädagogischen Praxis situative und personale, durch Wissen und seine Vermittlung allein nur schwer zu beeinflussende Eigenstrukturen und Überempfindlichkeiten der Personen auswirken. Dies muss als unhintergehbare, also nie außer Kraft zu setzende situative Bedingung akzeptiert werden. Wie in allen sozialen und gesellschaftlichen Feldern, so gibt es auch im Bildungsbereich sowohl Grenzen der Erkennbarkeit als auch Grenzen der Gestaltbarkeit der Dinge.

Insofern ist ein naiver Glaube an die automatische Wirksamkeit von Qualitätsmonitoring im Bildungssystem genauso falsch wie die spiegelbildliche, ebenso naive Überzeugung, dass seit PISA das Bildungssystem, das schulische Lernen und im gleichen Zuge auch der Lehrerberuf durch neoliberale Bildungsmarktfetischisten und ihre Helfershelfer in den Bildungsforschungsinstituten systematisch zerstört wurden. Sowohl bei der Rückschau auf die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre als auch bei dem Versuch eines Ausblicks auf die Zukunft stellt sich ein Problem ein: Was bedeutet eigentlich Erfolg bei kurz- und langfristiger Schul- und Bildungsentwicklung? Welche auslösenden Faktoren (Ursachen, Initiativen, Programme) kann man für einen womöglich behaupteten Erfolg oder kritisierten Misserfolg als auslösend oder verantwortlich erklären? Rekonstruktionen zur Vergangenheit sind immer riskant, selektiv und interessengeleitet, und was dem einen als Erfolg erscheint, geht für den anderen am eigentlichen Zweck vorbei und ist also bedeutungslos – ja vielleicht sogar ein Misserfolg. Erfolgs- oder Versagensfeststellungen sowie zugeordnete Ursachenanalysen und Zukunftsprojektionen sind sehr positionsabhängig; sie können nur innerhalb einer bestimmten Position konsistent entwickelt werden. Das bedeutet: Rückschauende, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte Aussagen zu Situation, Qualität, zum Schicksal und den Perspektiven des Bildungssystems werden immer kontrovers bleiben; neben Mehrheitsmeinungen wird es an den Rändern immer mehr oder weniger starke Differenzen geben. Dahinter steht die Erfahrung, dass Bildung und Erziehung schon immer Projektionsflächen und Möglichkeitsräume für imaginierte Hoffnungen, Befürchtungen, Utopien und Schreckensbilder waren. Nach dem Zerfall heilsversprechender religiöser und politischer Deutungs- und Erlösungssysteme ist die Überhöhung von Bildung, die uns allein (auch ökonomisch) noch retten kann, sogar noch größer geworden (man denke an Schlagwörter wie "Wissensgesellschaft", "knowledge economy" oder "Bildungsrepublik"). Insofern stellen das imaginäre, aber eben auch das reale Bildungssystem eine öffentlich dauererörterte Vielzweckinstitution dar, an die sich sehr unterschiedliche Hoffnungen, Ängste und Erwartungen knüpfen, und deren Bewertung dann eben kontinuierlich strittig ist. Es wird immer so sein.

Das Aufgabenfeld erweitern

Die vorangegangene Argumentation ist nicht als fundamentale Kritik an Large-scale-Studien beziehungsweise verallgemeinert an Strategien des Qualitätsmonitorings zu verstehen. Darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, noch einmal auf längst bekannte Erkenntnisgrenzen aufmerksam zu machen und zugleich eine bestimmte Neujustierung zu empfehlen. Large-scale-Studien müssen weitergeführt werden, wobei man sich allerdings durchaus fragen kann, ob man wirklich bei allem jedes Mal beziehungsweise bei jeder Sache dabei sein muss. Im Übrigen sind auch Anstrengungen zu verstärken, selbst Einfluss auf die Ausformulierung der OECD-Politik in diesem Bereich zu nehmen – was ja auch geschieht. Das kontinuierliche Bildungsmonitoring, die regelmäßige Berichterstattung über Bildung, und damit sind auch Bildungsverhältnisse außerhalb des Schulsystems im engeren Sinne gemeint, muss meines Erachtens weitergeführt und verstetigt werden. Bildungsberichterstattung ist nur ein Segment innerhalb eines sehr viel breiteren sozialwissenschaftlich instrumentierten Selbstbeobachtungssystems von modernen Gesellschaften. Keine Gesellschaft, kein Staat, keine Politik kann und darf auf die Information durch ein solches Selbstbeobachtungssystem verzichten – auch wenn auf den ersten Blick dadurch alles zunächst noch komplizierter wird, als es schon ist.

Mittlerweile ist auch klar geworden, dass man bei der Übertragung von in anderen Kulturen und Bildungssystemen offenbar erfolgreichen Praktiken und Strategien der Bildung sehr viel größere Vorsicht walten lassen muss. Die Verankerung der Schul- und Unterrichtskultur in gesellschaftlich-kulturelle Traditionen und professionelle Gewohnheiten ist sehr groß. Bei der Herauslösung und Übertragung bestimmter, hier besonders erfolgreicher Dinge nach dort kann es erstens zu schweren Transportschäden kommen und zweitens kann es sein, dass die eingesetzten Pflanzen im neuen Biotop nicht richtig anwachsen. Internationales borrowing and lending im Bildungsbereich kann riskanter sein als Leerverkäufe und Warentermingeschäfte an der Börse – allerdings werden die Folgen nicht so abrupt deutlich … Die Idee, von überall her nur das Beste einzusammeln, zusammenzufügen und zu Hause umzusetzen, damit alles besser wird, ist ein bildungspolitischer Kinderglaube.

Hinsichtlich der auf den verschiedenen Ebenen erfassten inhaltlichen Bildungsbereiche (Fächer, schulische Erfahrungsfelder) halte ich es für angebracht und möglich, den Kreis der erfassten Fächer und Lernbereiche auszuweiten und neben den MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, vermehrt und konzentriert auch kulturwissenschaftliche Fächer sowie stärker als bisher überfachliche schulische Erfahrungsfelder in geeigneter Weise einzubeziehen. Ansätze hierzu gibt es; hierzu muss insgesamt noch intensiver an geeigneten Erfassungs- und Bewertungsformaten gearbeitet werden und zwar gerade weil es sich um unverzichtbare schulische Erfahrungsfelder handelt. Auf diese Weise kann der Tendenz entgegengewirkt werden, nur noch die PISA-Fächer für wichtig zu halten beziehungsweise das Curriculum faktisch zu verschmälern – eine ungewollte Nebenwirkung, die man in anderen Ländern als Folge fachlich allzu enger Qualitätssicherungsmaßnahmen deutlich erkennen kann.

Die Bildungsforschung, die in der Tat eine der ganz großen Gewinnerinnen der Nach-PISA-Ära ist, muss sich neben dem natürlichen Interesse an Eigenwachstum stärker als bisher zur Aufgabe machen, verlässliche Ergebnisse auch in einer überzeugenden Form einem breiteren Publikum zu präsentieren und verständlich zu machen, und zwar insbesondere dann, wenn es überraschende, den Alltagsverstand relativierende Ergebnisse sind. Das bedeutet nicht, dass sie möglichst "einfach" forschen soll, damit "einfache" und "einfach" zu erklärende Effekte präsentiert werden können – im Gegenteil: Die zunehmende Komplexität im Konzeptionellen und Methodischen, die für Wissenschaft nun einmal typisch und notwendig ist, muss ungezügelt aufwachsen können. Aber das bedeutet doch nicht, dass man die Dinge nicht verständlich machen kann! Ständige Information und Beratung der Öffentlichkeit gehört zu den Pflichten dieses Forschungsbereichs, der wie kein anderer von den Entwicklungen seit dem sogenannten PISA-Schock profitiert hat.

Im Rahmen der Bildungsforschung sollte vermehrt Gewicht auf die Entwicklung und Erprobung von Interventionen in pädagogische Handlungsfelder gelegt werden. Dies bedeutet, dass man auch partizipative Forschungs- und Innovationsstrategien anwendet und die Praktiker(innen), die im System handelnden Personen mit einbezieht. Hierdurch wird keineswegs der wissenschaftliche Anspruch gesenkt, er wird lediglich zusätzlich in eine andere Richtung moduliert: von Wissenschaftlern und Praktikern gemeinsam entwickelte und erprobte Formen veränderter Bildungspraxis – auch das sollte zu den Glanzstücken einer qualifizierten Bildungsforschung zählen können.

Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen: Es sollte in der Bildungsforschung eine stärkere Hinwendung zur Ebene der Akteure geben. Damit sind die Lehrer(innen), aber auch Vertreter(innen) anderer pädagogischer Berufe und Personen auf der unteren Steuerungsebene wie beispielsweise Schulleiter gemeint. Large scale muss es zweifellos weiter geben; es sollten aber viel mehr Small-scale-Studien zu den Handlungs- und Interaktionsprozessen innerhalb der pädagogischen Wirklichkeit durchgeführt werden! Natürlich stellt sich dann irgendwann die Frage, wie man Erfahrungen und Erfolge aus einzelnen Kontexten heraus in die Breite bringen kann (upscaling), aber gleichwohl muss dafür zuerst einmal der erste Schritt getan werden.

Und wenn man diesen Gedanken der stärkeren Bezugnahme auf die Handlungsebene weiter denkt, so kommen die pädagogisch Handelnden, die pädagogischen Berufe und die einzelnen Inhaberinnen und Inhaber dieser Berufe in den Blick. Natürlich sind die Rahmenbedingungen wichtig, die tief gestaffelt und wirkmächtig die einzelnen Situationen, die konkreten Handlungsvollzüge und dergleichen umstellen; niemand will sie ignorieren. Aber am Ende muss jede Innovation, jede Qualitätsverbesserung durch das Nadelöhr der Praxis auf dieser Ebene.

Erfreulich ist, dass zumindest im Bereich der empirischen Forschung zum Lehrerberuf deutliches Wachstum in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu erkennen ist; für andere pädagogische Berufe sollte dies in gleicher Weise geschehen. Insgesamt hat sich die Strategie der Kultusministerkonferenz zum Bildungsmonitoring und zur Qualitätsverbesserung im Bildungsbereich durchaus bewährt. Eine stärkere Akzentuierung von praxisnaher, die Praxis entwickelnder, auch partizipativer, das heißt die Handelnden einbindender Forschung wäre allerdings zu begrüßen. Qualitätskontrolle führt nicht automatisch schon zu Qualitätsverbesserung. Diese vor dem Hintergrund des besten Wissens dann in den pädagogischen Einrichtungen einzuleiten beziehungsweise die Entwicklung dort mit zu begleiten gehört auch zu den Aufgaben von Bildungsforschung.

Faire Diskurse!

Eine Abkehr von Large-scale-Studien beziehungsweise vom Bildungsmonitoring generell wäre politisch verantwortungslos und wissenschaftlich verheerend. Die Perspektive auf schulische Lern- und Erfahrungsfelder sollte aber ausgeweitet werden. Weiterhin müssen massive Anstrengungen unternommen werden, um die Problemgruppe zu verkleinern. Und ebenso ist an der Abschwächung des Zusammenhangs von Herkunft und Bildungserfolg zu arbeiten. Deutschland hat zwar diesbezüglich nicht mehr wie noch im Jahre 2000 den Spitzenplatz; dass nunmehr hinter der Slowakei und Frankreich der dritte Platz erreicht wurde, kann aber eigentlich kein Trost sein.

Eine Neujustierung der Perspektive des Bildungsmonitorings sollte an folgenden drei Prinzipien orientiert sein:

  • Ausweitung der erfassten schulischen Lern- und Erfahrungsbereiche

  • Mehr Small-scale-Studien, mehr partizipative, die Akteure einbeziehende Formen

  • Pädagogische Berufe sowie deren Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen stärker in den Mittelpunkt rücken.

Hinsichtlich der konkreten Bedürfnisse von Bildungsadministrationen nach empirisch gesichertem Wissen sollten dann auch gezielt Forschungsaufträge und Expertisen vergeben werden. Es ist nicht weiterführend, der Bildungsforschung pauschal mangelnde Praxisrelevanz beziehungsweise zu geringe Verknüpfung mit den alltäglichen Entscheidungs- und Handlungsproblemen vorzuwerfen; besser wäre es, sehr gezielt genau umrissene Anfragen zu formulieren und hierzu Forschung zu finanzieren. Dabei sind sich mittlerweile alle verantwortungsbewussten und erfahrenen Akteure im Feld darin einig, dass es für die Entwicklung der Qualität des Bildungssystems nicht die eine große Lösung, die eine heldenhafte Entscheidung, den einen durchschlagenden Hieb gibt, der das Blatt komplett wenden könnte. Insofern sollte niemand mehr Sensationen versprechen, erhoffen oder befürchten.

Das bedeutet: Man muss sich illusionslos den sprichwörtlichen Mühen der Ebene stellen. Mein letzter Punkt berührt eine mehr innerwissenschaftliche Kommunikationsangelegenheit, die aber doch auch eine Außenwirkung hat. Wie allgemein bekannt, gibt es in den mit Bildung befassten Wissenschaften und Teildisziplinen, auch in der Lehrerschaft sowie bei einigen sonstigen "freischwebenden" Bildungsexperten neben der Gruppe der Anhänger und Förderer des neuen Bildungsregimes auch eine Gruppe von Kritikern, die ihre Vorbehalte scharf und polemisch formulieren; auf internationaler Ebene ist es übrigens ganz ähnlich. Die Kritiker stammen zwar allgemein-politisch gesehen aus allen möglichen und zum Teil sogar politisch eher konträren Lagern – recht konservativ hier, ziemlich links dort –, sie sind sich jedoch einig in der Kritik und Ablehnung all dessen, was sich in Bildungssystem und Bildungsforschung seit zwei Jahrzehnten getan hat. Die Protagonistinnen und Protagonisten der Bildungsforschung und des Bildungsmonitorings halten natürlich dagegen. Zum Teil bestimmen verbissener Kleinkrieg und zäher Stellungskampf die Szene (insbesondere in der Fachdidaktik der Mathematik), hier und da herrscht aber auch verständnisloses Schweigen zwischen den Lagern. Weniger in wissenschaftlichen Journalen, dafür aber umso mehr in Verbänden und Verbandspostillen, auf bestimmten Homepages und vor allem und lautstark im Feuilleton ist die Debatte vielfach von wilder Polemik bestimmt. Manche Gebildeten können anscheinend nur polemisieren, wenn es um Bildung geht. Ich finde das schlicht unwürdig. Deshalb steht am Schluss der Appell, sich auch in der kontroversen Debatte um ein Niveau zu bemühen, welches der Sache gerecht wird. Vielleicht ein allzu frommer Wunsch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen Baumert, Was wissen wir über die Entwicklung der Qualität des deutschen Bildungswesens? Überblick zu zentralen Befunden von Large Scale Assessment-Studien (LSA) seit 1998. Eröffnungsvortrag zum Fachgespräch der Kultusministerkonferenz über Bilanz und Perspektiven der internationalen Vergleichsstudien vor dem Hintergrund der Überarbeitung der Gesamtstrategie des Bildungsmonitorings, Berlin, 4.12.2013. Für eine kritische Rückschau auf Bildungsmonitoring vgl. außerdem Wolfgang Böttcher, Das Monitoring-Paradigma – Eine Kritik der deutschen Schulreform, in: Empirische Pädagogik, 27 (2013) 4, S. 5–21.

  2. John B. Diamond, Where the Rubber Meets the Road: Rethinking the Connection between High-Stakes Testing Policy and Classroom Instruction, in: Sociology of Education, 80 (2008) 1, S. 285–313.

  3. Hierzu existiert eine sehr breite empirische Literaturbasis. Vgl. beispielsweise Michael Zimmer-Müller/Ingmar Hosenfeld (Hrsg.), Zehn Jahre Vergleichsarbeiten: Eine Zwischenbilanz aus verschiedenen Perspektiven, Empirische Pädagogik, 27 (2013) 4 sowie die dort verarbeitete Literatur. Insgesamt regiert in den empirischen Arbeiten ein sehr skeptischer Ton; es gibt Indizien, dass das Wissen über und die Akzeptanz solcher Verfahren in der Lehrerschaft eher abnimmt. Zur schulischen Personalentwicklung scheinen die Verfahren nichts, zur Unterrichtsentwicklung in der Fläche nur sehr wenig und nur unter äußerst günstigen Bedingungen beizutragen (z.B. entsprechend positive Haltung der Lehrkräfte zu solchen Verfahren, Fähigkeit zur Verarbeitung der erhaltenen Informationen, starke Unterstützung seitens der Schulleitung).

  4. Vgl. Andreas Gruschka, "Empirische Bildungsforschung" am Ausgang ihrer Epoche?, in: PROFIL, (2013) 6, S. 1–6.

  5. Vgl. Ewald Terhart, Widerstand von Lehrkräften in Prozessen der Schul- und Unterrichtsreform: Zwischen Kooperation und Obstruktion, in: derselbe, Erziehungswissenschaft und Lehrerbildung, Münster 2013, S. 113–132.

  6. Über Wirkungsannahmen in Konzepten der Qualitätsverbesserung und Erfolg und/oder Scheitern von Schulreformen vgl. Ewald Terhart, Wirkungsannahmen in Konzepten der Qualitätsverbesserung des Bildungssystems: Hoffen, Bangen, Trauern, in: Detlef Fickermann/Norbert Maritzen (Hrsg.), Grundlagen für eine datengestützte Schulentwicklung. Konzeption und Anspruch des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Münster 2014, S. 183–199.

  7. Vgl. Gitta Steiner-Khamsi/Florian Waldow (Hrsg.), Policy Borrowing and Lending in Education. World Yearbook of Education 2012, London 2012; International Datasets and Comparisons in Education, in: Research Intelligence. News from the British Educational Research Association, (2012) 119, S. 6–23.

  8. Vgl. Michael Fullan, Large-Scale Reform Comes of Age, in: Journal of Educational Change, 10 (2009) 2–3, S. 101–113.

Lizenz

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Dr. phil., geb. 1952; Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik/Allgemeine Didaktik an der Universität Münster, Bispinghof 5/6, 48143 Münster. E-Mail Link: ewald.terhart@uni-muenster.de