Wiener Kongress 1814/15 und Pariser Friedenskonferenz 1919/20 – Zwei Friedenskulturen im Vergleich
Das britische Außenministerium beauftragte 1918 einen jungen Historiker, Charles Webster, Professor an der Universität Liverpool, eine Darstellung des Wiener Kongresses zu schreiben.[1] Offensichtlich glaubten die Verantwortlichen, aus jenem Mächtetreffen, das gut hundert Jahre zuvor in der österreichischen Hauptstadt stattgefunden hatte, für die zukünftigen Friedensverhandlungen lernen zu können, die im Jahr darauf in Paris begannen. War dies eine naive, ja absurde Idee? Nicht unbedingt, denn zweifellos gab es starke Parallelen zwischen den beiden Ereignissen.Ähnliche Vorgeschichten
Beide fanden im Anschluss an einen "Großen Krieg" statt, dessen Ausmaß und Intensität alles bis dahin Bekannte weit übertroffen hatte. Die Koalitionskriege hatten zwischen 1792 und 1814 ganz Europa, den Mittelmeerraum und den Nahen Osten erfasst.[2] Zudem sprengte der französische Bellizismus vor allem unter Napoleon I. jedes geläufige Maß einer auch bis dahin an großen Kriegen und hegemonialen Versuchungen nicht armen europäischen Geschichte und kostete letztlich sechs Millionen Menschen das Leben. Auch der "Große Krieg" von 1914 bis 1918 hatte globale Auswirkungen: Er wurde nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika und Asien ausgetragen und forderte enorme menschliche und materielle Opfer:[3] Das viel beschworene "Stahlbad", das die beteiligten Gesellschaften von den vermeintlichen Schlacken einer langen Friedenszeit befreien sollte, erwies sich am Ende als ein gigantisches Blutbad, in dem 17 Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren.Zudem waren die Revolutions- und napoleonischen Kriege sowie der Erste Weltkrieg gleichermaßen ideologische Kriege gewesen: Zwischen 1792 und 1814 standen sich das revolutionäre und das gegenrevolutionäre Prinzip gegenüber:[4] Ersteres gab den französischen Heeren das Gefühl, ihr Land und damit den acquis der "Grande Révolution" verteidigen und die Ideen von "Freiheit", "Gleichheit" und "Brüderlichkeit" auch in andere Länder tragen zu müssen. Dies erklärte ebenfalls den besonderen Charakter der französischen Besatzung: Die siegreichen französischen Truppen und insbesondere der "große Beweger"[5] Napoleon eroberten nicht nur Territorien, sondern stürzten dort im Namen der Ideen von 1789 und unter Missachtung aller hergebrachten Legitimität auch die traditionellen Herrscher und führten mittels Code Civil sowie Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen das eigene Gesellschaftsmodell ein. Gleichzeitig provozierten dieses revolutionäre Prinzip und seine philosophischen Vordenker aus der Zeit der Aufklärung die Entstehung einer Gegenbewegung – jene des Konservatismus, den Edmund Burke mit seinen 1790 veröffentlichten "Reflections on the Revolution in France" begründete. Er inspirierte wiederum die antifranzösische und antinapoleonische Koalition, deren Ziel die weitgehende Wiederherstellung des Ancien Régime war.
Im Ersten Weltkrieg hatte es ebenfalls zwei ideologische Lager gegeben, am Ende sollten es sogar drei sein: Bei Kriegsausbruch 1914 einerseits die Mittelmächte, angeführt durch das Deutsche Reich, die sich mit den "Ideen von 1914" ein antiwestliches Kampfprogramm gaben,[6] das sich gegen die Demokratie, gegen den Liberalismus und gegen die westliche Kultur richtete, die als "Zivilisation" diskreditiert wurde; andererseits die Entente mit Frankreich, Großbritannien und zunächst Russland sowie ab 1917 auch mit den USA an der Spitze, die sich in einem legitimen Verteidigungskrieg gegen die deutsche Aggression sah und deren westliche Mitglieder zudem glaubten, die Demokratie gegen den Despotismus verteidigen zu müssen. Die Situation verkomplizierte sich noch zusätzlich, als Russland im Zuge der Oktoberrevolution zum völlig neuen bolschewistischen Gegenentwurf sowohl zu den "Ideen von 1914" als auch zu jenen des Westens mutierte.
Schließlich gab es noch eine weitere Parallele zwischen den beiden Kriegen und den ihnen folgenden Neuordnungsversuchen in Wien 1814/15 und in Paris 1919/20: der Wille der Beteiligten, einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der das durch die vorangegangenen großen Konflagrationen entstandene Chaos wieder ordnen sollte. Deshalb versammelten sich in Wien wie in Paris Vertreter fast aller kriegführenden Parteien, angeführt von ihren leitenden Politikern, wenn nicht sogar von ihren Staatsoberhäuptern: in Wien Klemens Wenzel Lothar Nepomuk, Fürst von Metternich für Österreich, Robert Stewart Viscount Castlereagh für Großbritannien und Charles-Maurice de Talleyrand für Frankreich, aber ebenso die Kaiser Franz I. von Österreich und Alexander I. von Russland sowie der preußische König Friedrich-Wilhelm III.; in Paris Frankreichs Regierungschef Georges Clemenceau, der britische Premier David Lloyd George, Italiens Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando und US-Präsident Woodrow Wilson.[7]
Überdies waren die beiden Konferenzen ähnlich organisiert. Es gab ein Führungsgremium der vier wichtigsten Siegermächte – in Wien: Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen; in Paris: die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien. Diese "Großen Vier" trafen jeweils alle Vorentscheidungen im Hinblick auf die jeweiligen Nachkriegsordnungen. Dabei konnten sie sich in beiden Fällen wiederum auf Expertenkommissionen stützen, die über Detailfragen berieten.
Unterschiedliche Wege
Jenseits dieser Parallelen fielen allerdings die Antworten der Entscheidungsträger in Wien und Paris auf die Frage nach den Bedingungen für eine stabile Nachkriegsordnung und folglich auch für die neue Friedenskultur gänzlich unterschiedlich aus. Ungeachtet erheblicher Differenzen über Detailfragen, die in der Sachsen-Polen-Frage kurzzeitig sogar zu einem neuen militärischen Konflikt zu eskalieren drohten, war der Wiener Kongress durch eine bemerkenswerte Eintracht geprägt: Nach fast einem Vierteljahrhundert des Krieges und gesellschaftlicher Umstürze war das gemeinsame Ziel der Unterhändler, jede Wiederauflage der Französischen Revolution zu verhindern. Denn eine solche würde, so zumindest die Schlussfolgerung aus der Erfahrung von 1792, unweigerlich in einen internationalen Konflikt münden.[8]Um gleichermaßen erfolgreich Kriegs- und Revolutionsprophylaxe betreiben zu können, waren sie nicht nur bereit, beispielsweise in Frankreich oder auf dem ehemaligen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches auf eine einfache Restauration des Ancien Régime zu verzichten, sondern auch, das besiegte Frankreich in die neue Nachkriegsordnung zu integrieren – bereits 1814 als Teilnehmer des Wiener Kongresses, dann 1815 als Mitglied der "Heiligen Allianz" und ab 1818 schließlich auch als Partner innerhalb des Europäischen Konzerts.[9] Dieser neue Großmächteklub sollte zugunsten einer kooperativen Konfliktregulierung mit den bisherigen egoistischen Traditionen der Außenpolitik brechen und über die Einhaltung der in Wien getroffenen Entscheidungen wachen, um im Falle etwaiger Verstöße gegen den Verursacher vorzugehen.[10] Beides zusammen erklärt die lange Lebensdauer der Wiener Friedensordnung bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges: "In Wien vermied man (…) eine Gruppierung in Sieger und Besiegte (…) und richtete so das Interesse zumindest aller europäischen Großmächte auf die Erhaltung der etablierten Ordnung."[11]
Ein Jahrhundert später waren die Pariser Unterhändler weit von einem vergleichbaren Konsens entfernt.[12] Selbst Russland war wegen der Oktoberrevolution von 1917 und des ein halbes Jahr später geschlossenen Separatfriedens von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten von den Verhandlungen ausgeschlossen, und erst recht die Vertreter der Besiegten. Zudem herrschten zwischen den vier Hauptsiegermächten große Meinungsunterschiede über die zukünftige Nachkriegsordnung: Strebte der französische Ministerpräsident Clemenceau nach der deutschen Aggression vor allem die größtmögliche Schwächung Deutschlands an, ging es dem US-Präsidenten Wilson darum, einen reinen Siegfrieden zu vermeiden und mit dem Völkerbund eine neue Institution zu schaffen, die, weit effektiver als etwaige Gebietsabtretungen und Reparationen der Besiegten, einen neuerlichen Krieg verhindern sollte. Der britische Premierminister Lloyd George wiederum war an der Wiederherstellung der balance of power in Europa interessiert, also eines Mächtegleichgewichts, das Deutschland zwar schwächen, indes Frankreich nicht über Gebühr stärken sollte, und der italienische Ministerpräsident Orlando schließlich verfolgte den Plan einer Vergrößerung seines Landes aus den Trümmern der zerfallenen Habsburgermonarchie.
Entsprechend groß sollte ihre Enttäuschung über die Ergebnisse sein: Vor allem Frankreich fühlte sich keineswegs sicher vor einem neuen deutschen Angriff, und Italien trauerte seinen "Irredenta" nach, während den neu entstandenen Staaten in Mittelost- und Südosteuropa wegen ihrer ethnischen Gemengelage eine permanente innere Instabilität und Grenzkonflikte drohten. Kurzum: Am Ende der Pariser Friedenskonferenz standen Abmachungen, die noch nicht einmal alle Siegermächte befriedigten, geschweige denn die Besiegten oder das isolierte Russland.
Zudem vermochte der neu gegründete Völkerbund die Mängel der Pariser Friedensordnung nicht zu kompensieren, im Gegenteil – er wurde geradezu zu deren Symptom: Zum einen gehörten ihm zwei so wichtige Großmächte wie Deutschland (ab 1926) und Russland beziehungsweise die Sowjetunion (ab 1934) erst relativ spät an, was ihn von Beginn an schwächte. Zum anderen traten ihm die USA gar nicht erst bei. Die europäische Entspannungspolitik wiederum, für die der Vertrag von Locarno von 1925 stand, blieb nur eine Episode. Befeuert durch einen verbreiteten Nationalismus obsiegten letztlich Misstrauen und Rivalität zwischen jenen Mächten, die den Status quo der Pariser Friedensordnung weitgehend kompromisslos wahren wollten, und jenen, die ihn in Gänze infrage stellten und schließlich selbst mit kriegerischen Mitteln zu revidieren bereit waren.[13]
Während also in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress eine relativ stabile Nachkriegsordnung bestand,[14] war das Pariser Friedenswerk durch eine permanente Spannung vor allem zwischen Siegern und Besiegten, aber teilweise auch zwischen den Siegern untereinander geprägt.[15] Henry Kissinger hat darauf hingewiesen, dass es zwei Arten von Nachkriegsordnungen gibt – eine "legitime" und eine "revolutionäre":
"Legitimität schließt in sich ein, dass alle Großmächte im Großen und Ganzen eine bestimmte internationale Ordnung respektieren (…). Eine legitime Ordnung schließt Konflikte nicht aus (…), doch sie werden ausgefochten im Namen der bestehenden internationalen Struktur, und der nachfolgende Friede wird als besserer Ausdruck der ‚legitimen‘ allgemeinen Überzeugung gerechtfertigt. (…) Sobald eine Macht die internationale Ordnung oder die Art ihrer Legitimität ablehnt, werden die Beziehungen zwischen ihr und den anderen Mächten revolutionär. Dann geht es nicht um die Beilegung von Differenzen innerhalb eines gegebenen Systems, sondern dann geht es um das System selbst".[16]
Insofern war die Wiener Nachkriegsordnung "legitim", denn ihre Prinzipien und Regeln wurden von allen Akteuren, einschließlich dem besiegten Frankreich, respektiert und vorübergehend aufflammende Konflikte im Rahmen des Europäischen Konzerts meistenteils konsensuell beigelegt. Die Pariser Nachkriegsordnung hingegen war von Beginn an "revolutionär", weil zumindest eine Großmacht, Deutschland, den Status quo nachdrücklich verändern wollte – ein Ansinnen, dem sich in den 1930er Jahren Italien, Japan und die Sowjetunion anschlossen, womit die Ergebnisse der Pariser Friedenskonferenz endgültig obsolet wurden.